Margherita Giacobino: Familienbild mit dickem Kind

Aus dem Italienischen von Maja Pflug. Kunstmann 2016, 320 S., € 22,-
(Ritratto di famiglia con bambina grassa. Attualmente in Italia non disponibile)
(Stand April 2021)

giacobino_familienbild_mit_dickem_kind_danteperle_dante_connectionManchmal würden wir am liebsten ein Buch anders einschlagen, wenn das Cover völlig in die Irre führt. Dies ist so ein Fall. Margherita Giacobino erzählt in ihrem neuen Roman gänzlich unsentimental die Geschichte ihrer Familie, die nur mit großer Anstrengung und enormem Erfindungsreichtum einem Leben aus Armut, Entbehrung und Ausgeschlossensein entkommen konnte. Das war vor 100 Jahren im Piemont nichts Ungewöhnliches, doch das Besondere an dieser Familie ist, dass Frauen hier das Zepter fest in den Händen hielten und die grundlegenden Entscheidungen für die Familie trafen. Giacobinos Vorfahrinnen sind wirkliche Akteurinnen, natürlich sind sie sich nicht einig und versuchen nach allen Regeln der Kunst, das dicke Mädchen für sich einzuspannen. Dieses Kind gräbt Jahrzehnte später als gestandene Erwachsene in ihren Erinnerungen, befragt Verwandte, deutet alte Fotos und Materialien um und verbindet all diese Elemente zu einem großen Familienroman, in dem sie einige unverwechselbare italienische Matriarchinnen feiert. (Stefanie Hetze)

Leseprobe

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Mehrnousch Zaeri-Esfahani: 33 Bogen und ein Teehaus

Peter Hammer Verlag 2016, 148 S., € 14,90, TB Carlsen 2018, € 6,99, ab 12
(Stand März 2021)

1985 verließ Mehrnousch Zaeri-Esfahani mit ihrer Familie den Iran, der nach der Islamischen Revolution und mit dem Beginn des 1. Golfkriegs zum stetig bedrohlicheren Lebensort wurde. In dem Jugendroman „33 Bogen und ein Teehaus“ hat sie ihre Kindheitserinnerungen nun literarisch verarbeitet. Anschaulich berichtet sie von den verschiedenen Etappen: ihrem Aufwachsen in Isfahan unter immer brisanteren Lebensumständen, der Ausreise in die Türkei, dem Visaantrag für die DDR, um nach verschiedenen Orten in Westdeutschland endlich in Heidelberg eine neue Heimat zu finden. Auch wenn diese Geschichte so bereits vor 30 Jahren stattgefunden hat, erinnern doch die bürokratischen Hürdenläufe und Schilderungen von mangelhaften Notunterkünften geradezu absurd an die aktuelle und leider sehr reale Situation. In aller Klarheit und ohne erzählerische Schnörkel macht Mehrnousch Zaeri-Esfahani die Situation einer Flucht, das Gefühl des Kein-Zuhause-Habens für jugendliche Leser nachfühlbar. (Jana Kühn)

Leseprobe

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Tomas Espedal: Wider die Kunst

Aus dem Norwegischen von Hinrich Schmidt-Henkel, (Matthes & Seitz Berlin 2015), 191 S., Suhrkamp TB, € 10,-

(Stand März 2021)

Ein Mann, allein in einem Haus, auf sich selbst zurückgeworfen. Seine Mutter ist gestorben und kurz darauf die Mutter seiner Tochter, jetzt lebt er mit der 15-jährigen allein, kann sie nicht trösten und sich nicht. Furchtbar weiß und bösartig schwarz sind die Farben in ihm und in der eiserstarrten Welt vor seinem Fenster. Er schreibt, arbeitet am Schreiben, verzagt, verzweifelt. Er schreibt – von seinen Großeltern, seinem Vater, seiner Mutter, seiner Herkunft, vom Muttersein und Vaterwerden – und über sich, sein Schreiben. Und langsam schreibt und lebt er sich ins Leben zurück. Ein Buch voller Poesie und voller Brüche, schroff und sanft zugleich. Ein berührendes Buch über das Leben und die Erinnerung, über Veränderungen und wie alles doch weiter geht – wie in einem anderen, neuen Leben – und wie der Trauer doch wieder das Gefühl von Glück folgen kann, wenn man heim kommt und spürt, dass man froh ist, zu Hause zu sein. (Syme Sigmund) Leseprobe

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Rose Lagercrantz: Wenn es einen noch gibt. Ein Familienporträt

Aus dem Schwedischen von Angelika Kutsch. persona verlag 2015, 176 S., € 17,50

(Stand März 2021)

10_lagercrantz_wenn_esRose Lagercrantz war bisher in Deutschland als Verfasserin wunderbarer von uns geliebter Kinderbücher bekannt. Nun macht es der kleine feine persona verlag möglich, ihre andere Seite als Autorin für Erwachsene kennenzulernen. In “Wenn es einen noch gibt” erzählt Rose Lagercrantz das letzte Lebensjahr ihrer Mutter Ella, die in einem Heim lebt und nichts anderes mehr will, als ihre Tochter täglich, möglichst lange und ununterbrochen zu sehen. Ella ist Auschwitzüberlebende, worüber sie aber gerade mit ihrer Tochter nicht spricht. Das Schweigen hat Tradition in Roses Familie der wenigen Überlebenden, in der Welt Verstreuten. Schon als Kind mußte sie sich so manches zusammenreimen aus Andeutungen, Fotos, ihren eigenen Albträumen. Immer wieder unternimmt sie “Familienreisen” zu ihren Angehörigen, versucht, sie zu befragen. Sie will verstehen, was es bedeutet, “wenn es einen noch gibt”. Und wie in ihren Kinderbüchern schreibt Rose Lagercrantz klar und direkt, nimmt sie ihre Leserinnen und Leser wirklich ernst. Ein Buch, das sehr nachwirkt! (Stefanie Hetze)

 

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Katja Petrowskaja: Vielleicht Esther

Suhrkamp 2014, 285 S., € 19,95, TB Ausgabe € 10,-

(Stand März 2021)

vielleicht_esther_danteperle_dante_connectionKatja Petrowskaja macht sich auf die Suche nach Ihren jüdischen Vorfahren, forscht in Österreich, Polen und der Ukraine nach Spuren von Rosa, Ozjel, Anna oder eben Esther und stößt dabei stets an die Grenzen dessen, was noch erfahrbar ist, wenn es die Menschen, die man hätte fragen können nicht mehr gibt, wenn nur “Erinnerungsfetzen, zweifelhafte Notizen und Dokumente in fernen Archiven” bleiben. Die 1970 in Kiew geborene und aufgewachsene Autorin fühlt sich “der Geschichte ausgeliefert”, folgt Hypothesen, fragt nach, verzweifelt an den Tücken der Internet-Suchmaschine und arroganten Telefonistinnen, stößt auf immer neue Versionen der gleichen Geschichte, verirrt sich in Archiven, gibt nicht auf, macht überraschende Entdeckungen und spinnt so nach und nach ein Gewebe aus Geschichten, in denen sich Gegenwart und Vergangenheit überlagern und vernetzen, in denen das Deutsch von Petrowskaja dank ihres gleichsam frischen Blicks auf diese Sprache neu und hoch literarisch-poetische Glücksmomente fern aller literarischen Konventionen zaubert und man am Ende des Buches auf viel mehr von dieser ganz besonderen Autorin hofft, die für ein Kapitel aus “Vielleicht Esther” verdientermaßen den Ingeborg-Bachmann-Preis 2013 gewonnen hat. (Syme Sigmund) Leseprobe

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Edmund de Waal: Der Hase mit den Bernsteinaugen

Das verborgene Erbe der Familie Ephrussi. Aus dem Englischen von Brigitte Hilzensauer, Zsolnay 352 S., € 26,-, TB dtv 2013 € 11,90

(Stand März 2021)

de-waal-der-hase-mit-den-bernsteinaugen_danteperle_dante_connection-buchhandlung-berlin-kreuzbergHinter einem sperrigen Titel, geschrieben von einem hierzulande bislang unbekannten Autor, dem englischen Keramikkünstler Edmund de Waal, verbirgt sich eines der faszinierendsten Bücher dieses Jahres. Ausgehend von kleinen Erbstücken, kostbaren japanischen Minaturschnitzereien (Netsuke) rekonstruiert de Waal die Geschichte seiner Familie, einer jüdischen Getreidehändler-, Bankiers- und Kunstsammlerfamilie im 19. und 20. Jahrhundert. Dabei spannt er einen Bogen von Paris, Wien, Odessa, Tokio nach London, erzählt vom kometenhaften Aufstieg, enormem Reichtum, Mäzenatentum, von Verfolgung, Enteignung und Vertreibung – und wie die Netsuke, die dank einer Hausangestellten als einziges von all den Besitztümern überlebt haben, zu ihrem Ursprung nach Tokio zurückkamen. Ganz ohne Nostalgie, aber präzise und einfühlsam gelingt de Waal eine ganz neue Form der Familienerzählung. Ganz nebenbei schreibt er auch eine weitläufige europäische Geschichte. Unbedingt lesen. (Stefanie Hetze)

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