André Kubiczek: Nostalgia

Rowohlt Berlin 2024, 399 S., € 25,-

Zusammenhänge logisch herzuleiten und für Fassbares und Unerklärliches Wörter zu finden. Damit wächst André als Kind einer DDR-Intellektuellenfamilie in Potsdam auf, bei der die Stasi durch den seltenen Telefonanschluss quasi mit am Küchentisch sitzt. Beim Vater stimmt die Herkunft, aber bei seiner Mutter passt nichts. Obwohl Sozialistin und gewordene DDR-Bürgerin sprengt sie als stilbewusste Laotin aus der Oberschicht jeden Rahmen. Schon als Kind registriert André seismographisch, wo und wie sie aneckt und was seine Eltern sich als Überlebensstrategien einfallen lassen.  Auch er verlässt meist mit tiefgezogener Kapuze das Haus. Ein Leben als Drahtseilakt, dem mit er mit List und Abnabelung zu begegnen versucht. Wie in einer dokumentarischen Zeitmaschine nimmt der Autor uns mit in seine eigene Kindheit und Jugend. Es bleibt aber nicht bei einem atmosphärisch genauen Erinnerungsroman. Mit einem Twist rückt Kubiczek die Perspektive seiner schwerkranken Mutter ins Zentrum, was ihr Lebensdilemma eindrücklich fühlbar macht. Da ist ganz viel Zartheit im Spiel. (Stefanie Hetze) Leseprobe

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Nadine Olonetzky: Wo geht das Licht hin, wenn der Tag vergangen ist.

S.Fischer 2024, 448 S., € 25,-

Nadine Olonetzky ist fünfzehn Jahre alt, als ihr Vater den Zeitpunkt für gekommen hält, ihr von der Shoa zu erzählen, seiner Shoa: Auf einer Parkbank im Botanischen Garten in Zürich bricht er für einen Moment sein lebenslanges Schweigen und berichtet von der Verfolgung und Ermordung ihres Großvaters, ihrer Tante, seiner Internierung, seiner Flucht.
Für die Dauer eines Gartenjahres, das diese Geschichte rhythmisiert und im Wortsinne erdet, begleiten wir die Autorin auf ihrer Spurensuche durch die zahllosen Fotoalben und Tagebücher, die der Vater im Kampf gegen die eigene Geschichtslosigkeit manisch füllt, durch Akten aus Archiven in aller Welt. Erzählerisch und fast poetisch spürt Olonetzky einer Sprache nach, die ausbleibt, weil sie angesichts des Nicht-Sagbaren versagt, aber auch jener Sprache, die sich erneut schuldig macht, indem sie das Verbrechen im Nachhinein verwaltet. Jahrzehnte kämpfte der Vater im Geheimen um Wiedergutmachung. Die Ehe der Eltern überstand das nicht. Nadine Olonetzky braucht viele Jahre und 448 Seiten bis sie das lebenslange Schweigen des Vaters mit den Sätzen im Botanischen Garten in Einklang bringen kann.
Ein wichtiges, bestürzendes, trauriges aber helles und grundschönes Buch über die dunkle Zeit der Shoa, die mit dem Ende des Krieges noch lange nicht zu Ende war. (Kerstin Follenius) Leseprobe

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bell hooks: Bone Black. Erinnerungen an eine Kindheit

Aus dem amerikanischen Englisch von Marion Kraft. Sandmann 2024, 176 S., € 24,-

Die feministische Autorin und Intellektuelle bell hooks steht für außergewöhnliche Sachbücher,  in denen sie sich richtungsweisend mit Geschlecht, Liebe, Klasse und Race auseinandersetzt. Endlich erscheint in deutscher Übersetzung ihr Memoir über ihre Kindheit, das im Original bereits 1996 erschien und in dem sie ihre großen Themen literarisch verdichtet. In kurzen Kapiteln erzählt sie vom Aufwachsen in einer armen Schwarzen Familie, in der viel Gewalt herrscht, in der die Mutter aber dennoch versucht, ihren Kindern mehr als Nahrung und Kleidung zu bieten. Nur bei dieser Tochter, die so sehr ihren eigenen Kopf hat, scheitert sie und sondert sie regelrecht aus. Als Kind schon Außenseiterin in der eigenen Familie retten sie die Bücher und die Erzählungen ihrer Vorfahren. Notgedrungen beginnt sie früh aus ihrer isolierten Position heraus, für sich nachzudenken und eigene Sichtweisen zu entwickeln. In ihren Erinnerungen wechselt sie dabei zwischen der Innenperspektive und einem Blick von Außen, erzählt so ganz persönlich von sich und objektivierend von vielen US-amerikanischen Schwarzen Mädchen ihrer Zeit.  Das ist anregend, klug, großartig. (Stefanie Hetze) Leseprobe

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Stefanie Sargnagel: Iowa – Ein Ausflug nach Amerika

Mit korrigierenden Fußnoten von Christiane Rösinger. Rowohlt 2023, 304 S., € 22,-

Ein privates liberales College in einer amerikanischen Kleinstadt in the Middle of Nowhere hat die Autorin erstaunlicherweise eingeladen, die privilegierten Studierenden dort in Creative Writing zu unterrichten. Zur Verstärkung nimmt sie ihre Tourfreundin, die 30 Jahre ältere Künstlerin Christiane Rösinger mit, die auf dem Campus auch ein Konzert geben soll. Sie kommen in einem großen Haus der Uni mit nur einem Sofa und einem Fernsehsessel (die Coverabbildung!) unter, müssen sich miteinander sortieren und gleichzeitig dieses seltsame Amerika des Mittleren Westens erkunden. Teilweise zu Fuß, ein Unding, ziehen sie los, wenn sie sich denn endlich aus ihrer Bequemlichkeit und ihrer Künstlerinnen-WG aufgerafft haben. Lakonisch vergleicht Sargnagel ihre Beobachtungen und Erlebnisse vom bizarren Amerika mit ihren Bildern und Erwartungen im Kopf, die Rösinger immer wieder knochentrocken und lebenserfahren kommentiert. Dieser ständige Dialog der zwei Künstlerinnen, die an ganz unterschiedlichen Punkten im Leben stehen, macht den besonderen Reiz dieser Reiseerzählung aus, das gegenseitige Reden, Necken und Kritisieren von spöttisch bis liebevoll. (Stefanie Hetze) Leseprobe

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Ethel Smyth: Paukenschläge aus dem Paradies. Erinnerungen

Herausgegeben und aus dem Englischen übersetzt von Heddi Feilhauer. Ebersbach & Simon 2023, 256 S., € 24,-

„Es sei sehr einfach in graziöser Weise mit dem Strom zu schwimmen, aber einer Gegenströmung zu trotzen erfordere etwas ganz anderes.“
Was das sein könnte, verrät uns Ethel Smyth in diesen autobiographischen Erinnerungen. Die junge Ethel wusste früh, dass sie etwas will – beim Spielen draußen eine Hose tragen, zum Beispiel. Als junge Erwachsene tritt sie in Hungerstreik, um dem Vater zu beweisen, dass es ihr Ernst ist mit der Musik. Als er zustimmt, geht es los, dieses stürmische, inspirierte und temperamentvolle Leben der Ethel Smyth. Sie verlässt die Heimat, wird Musikerin, Komponistin, Schriftstellerin und Frauenrechtlerin. Sie trifft Brahms und Tschaikowsky, Kaiserin Eugenie und Queen Victoria, Emily Pankhurst und Virginia Woolf. Sie lebt in Dreiecksbeziehungen mit Männern und Frauen und beherrscht den Spagat zwischen Konventionen und ihrem Bruch aufs Feinste. Ein Beispiel: Mit dem Fahrrad besucht sie ihre Freundin Eugenie, die letzte Monarchin Frankreichs, in deren Residenz unweit des Familienanwesens der Smyths in Südengland. In den Büschen vor dem Palast wechselt sie schnell die Fahrradhose gegen standesgemäße Kleidung. Die Ex-Kaiserin erfährt es, lacht schallend und stellt ihr fortan ein Umkleidezimmer im Palast zur Verfügung. Temporeich, aufmüpfig und selbstbewusst erzählt – ein gar nicht mal so viktorianisches Vergnügen! (Kerstin Follenius)

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Maxim Biller: Mama Odessa

Kiepenheuer & Witsch 2023, 230 S., € 24,- 

Nach dem Tod der Mutter kreisen die Gedanken des Schriftsteller-Sohnes um ihre Familiengeschichte und ihr zurückgelassenes Leben in Odessa. Die Familie Grinbaum sah sich zur Emigration gezwungen, nachdem die politischen Aktivitäten des Vaters lebensbedrohlich wurden. Der Vater träumt von einer Zukunft in Israel, wo sie aber nie ankommen. Auch in ihrem neuen Wohnort im Hamburger Grindelviertel kommen sie – jeder auf seine Weise – nie wirklich an. Für die Mutter, die für längere Zeit vortäuscht, nur rudimentär deutsch zu sprechen, und die sich in den russischen Klassikern zu Hause fühlt, wird das Schreiben entlang der Familiengeschichte zum Zufluchtsort.
Die assoziative Gedankenreise des Erzählers ergänzt sein Erinnertes durch mütterliche Erzählungen und Briefe und lässt so ein facettenreiches Bild von historischen Ereignissen und Familienmythen entstehen, das auf wunderbare Weise nachdenklich macht. Immer präsent und atmosphärisch stark erzählt ist die vereinende Sehnsucht nach Odessa, nicht zuletzt durch den dort zurückgelassenen geliebten Großvater. Mit viel Melancholie und Wärme erzählt Biller, der erneut offenherzig mit Fiktion und Wirklichkeit spielt, von dem Schicksal der Juden in der Sowjetunion und einer eigensinnigen Mutter-Sohn Beziehung. (Franziska Kramer) Leseprobe

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Niklaas Maak & Leanne Shapton: Eine Frau und ein Mann

Hanser 2023, 224 S., 36 s/w Illustr., 62 farbige Illustr., € 26,-

Auf einer gemeinsamen Autofahrt, bei der Niklaas Maak chauffierte und Leanne Shapton aquarellierte, entstand die Idee, es berühmten Filmpaaren nachzutun und ihren legendären Routen fahrend, malend, sprechend im realen Heute und Jetzt zu folgen. Bei ihren Fahrten in den USA, Kanada, Frankreich und Italien dienen die Filmsettings und -szenen als Inspiration für überaus anregende kluge Gespräche über Frauen, Männer, Liebe und Alltag, Landschaften, das Reisen, Geld, Macht, Nostalgie, Digitalisierung, Klima . . . Leanne Shapton verwandelt dabei das vom Auto aus Gesehene in abstrakte zerlaufende Aquarelle und bezieht holprige Straßen bewusst mit ein, während Niklaas Maak unnachahmlich die heutigen Eindrücke mit Geschichten und Fakten verknüpft. Kleine Fotos gibt es obendrein. Ein großes Lese- und Anschauvergnügen. (Stefanie Hetze) Leseprobe

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Marie-Luise Scherer: Der Akkordeonspieler

Mit einem Nachwort von Petra Morsbach, Friedenauer Presse 2023, 177 S., € 20,-

Dieses vielfach ausgezeichnete Buch ist längst kein Geheimtipp mehr, immer schnell vergriffen, ist jetzt aber nach dem Tod seiner Autorin in einer sympathischen Auflage neu herausgegeben worden und immer noch eine Wucht. Ganz nah dran erzählt Scherer in ihrer hinreißenden Reportage die mühevolle Geschichte des arbeitslosen Akkordeonspielers Wladimir Alexandrowitsch Kolenko, der nach dem Fall der Sowjetunion versucht, sich auf Berlins Straßen als Musiker durchzuschlagen und seine Familie zu Hause zu ernähren. Wie hart es ist, wie abhängig er von den ihm einen Schlafplatz zur Verfügung stellenden einsamen Frauen, erfahren wir hautnah. Jede Menge bürokratischer Hürden in Berlin, in Russland und auf den komplizierten langen Reisen dazwischen muss er irgendwie allein bewältigen. Ganz andere Ressourcen haben dagegen russische Migrant:innen mit schier unbegrenzten Geldquellen, deren Leben die Autorin wie weitere Figuren der Stadt streift. Glänzend geschrieben ist das Buch wie eine Schule, genau hinzusehen. (Stefanie Hetze) Leseprobe

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Virginia Woolf: Roger Fry. Eine Biografie

Aus dem Englischen übersetzt und herausgegeben und mit einem Vorwort von Tobias Schwartz. AvivA 2023, 480 S. und 16 farbige Bildseiten, € 32,-

Der englische Kunstkritiker, Kurator und Maler Roger Fry ist hierzulande nahezu unbekannt, was erklären mag, dass dem AvivA Verlag eine kleine feine Sensation gelungen ist: die deutsche Erstveröffentlichung eines Werks von Virginia Woolf! 1940 in England als ihr letztes Buch erschienen, liest sich das Porträt ihres guten Freundes aus dem legendären Bloomsbury Kreis frisch und lebendig wie ein Buch von heute. Formal eher unspektakulär, so schildert Woolf Frys Leben und Werdegang chronologisch, fächert sie die Facetten dieses leidenschaftlichen Kämpfers und Visionärs für die Moderne weit auf. Mit Respekt, intimster Kenntnis und Humor porträtiert sie den Freund, verwebt auf geniale Weise seine eigenen Briefe und Schriften mit ihren literarischen Schilderungen. Gleichzeitig überschreitet sie den engen Rahmen einer Biografie und konzentriert sich auf die gewaltigen kulturellen Umbrüche, die er mit zwei Ausstellungen auslöste, und die sich nachhaltig auf die Künste in England auswirkten, nicht zuletzt auf Virginia Woolfs eigenes Schreiben. Aber lesen Sie selbst. (Stefanie Hetze)

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Lesung Barbara Honigmann

UNVERSCHÄMT JÜDISCH

In ihrem neuen Buch schreibt Barbara Honigmann über Literatur, das Leben und jüdische Identität.

Sie ist ist eine Klasse für sich: Ob sie von einer lebhaften Begegnung mit einem jüdischen Geschäftsmann im Flugzeug nach New York erzählt, die in der Frage gipfelt: Worüber reden eigentlich Gojim? Oder ob sie davon berichtet, wie sie als Vierzehnjährige in Ost-Berlin den Existentialismus für sich entdeckte. Immer tut sie es mit ihrem feinen Sinn für Komik, und wenn nötig, offen und direkt. Ihr Lebensweg führte sie aus der DDR in den Westen, von Deutschland nach Frankreich, aus der Assimilation in das Tora-Judentum.

Im ganz wörtlichen Sinn ist sie ‚unverschämt jüdisch‘ und schreibt darüber so persönlich, humorvoll und lebensklug, wie nur sie es kann.

Es moderiert: Moshe Kahn

Unverschämt jüdisch
wann? Donnerstag, 23.11.2023 um 19 Uhr
wo? Eberhard-Ossig-Stiftung | Markgrafenstraße 88 | 10969 Berlin

Anmeldung: info@eberhard-ossig-stiftung.de

Wir begleiten die Veranstaltung mit einem Büchertisch.