Charlotte Gneuß: Gittersee

S. Fischer 2023, 240 S., € 22,-

Paul ist „rübergemacht“. So nannte man in der DDR umgangssprachlich, was offiziell als Republikflucht bezeichnet wurde. Karin, seine 16jährige Freundin, wusste nichts von seinen Plänen, was ihr aber niemand recht glaubt, schon gar nicht die mehr oder weniger offen agierenden staatlichen Sicherheitsorgane. Ihre Familie, ihre Freundschaften – alles steht plötzlich auf dem Prüfstand. Charlotte Gneuß beschreibt einerseits sehr einfühlsam, wie Karin versucht, mit dem völlig unerwarteten Verlust ihrer ersten Liebe umzugehen. Andererseits lässt sie ihre junge Protagonistin schonungslos die Perfidie des Bespitzelungssystems in der DDR erleben. Die Chronologie der Geschehnisse wird immer wieder von Träumen und Erinnerungen durchdrungen. Dazu kommt, dass der Erzählstrom enorm verdichtet ist und voller Andeutungen, die Sätze, Seiten oder auch Kapitel später erklärt werden. Oftmals bleiben sie aber auch offen und in ihrer Auflösung unserer Vorstellungskraft als Lesende vorbehalten. So manchem losen Ende der Erzählstränge wäre ich gerne weiter gefolgt, doch dann hätte ich ein komplett anderes, vermutlich eben nicht so gutes Buch gelesen. (Jana Kühn) Leseprobe

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Louise Kennedy: Übertretung

Aus dem Englischen von Claudia Glenewinkel und Hans-Christian Oeser, Steidl 2023, 304 S., € 25,-

Cushla, 24, hat in dem kleinen, überwiegend protestantischen Ort bei Belfast im Jahr 1975 kein leichtes Leben. Neben ihrer Arbeit als Grundschullehrerin, kümmert sie sich um ihre alkoholkranke Mutter und hilft abends im Pub ihres Bruders an der Bar. Katholiken wie sie kann hier jedes falsche Wort in Schwierigkeiten bringen oder sogar das Leben kosten. Für die Kinder ihrer Klasse zählen Bomben, Tote und Schikanen zu ihrem Alltag. Als der Vater eines ihrer Schüler fast zu Tode geprügelt wird, setzt sie sich für die Familie ein. Zeitgleich beginnt sie heimlich eine Affäre mit einem sehr viel älteren Prozessanwalt, der auch noch verheiratet und protestantisch ist. Als die Ereignisse sich zuspitzen, verliert sie immer mehr die Kontrolle über ihr Leben und gerät nicht nur selbst in große Gefahr.
Mit viel Gespür für Spannung, Tempo und Atmosphäre lässt Louise Kennedy das Nordirland der siebziger Jahre lebendig werden und vermittelt eindringlich, was es heißt, in einem Bürgerkriegsland zu leben. (Syme Sigmund)

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Nicole Flattery: Nichts Besonderes

Aus dem Englischen von Tanja Handels, Hanser Berlin 2023, 272 S., € 24,-

Mae, die 17-jährige Tochter einer alkoholkranken Kellnerin, versucht ihrer nichtssagenden Existenz zu entkommen. Sie schmeißt die Schule und gerät durch Zufall an einen Job als Schreibkraft – in Andy Warhols Factory. Hier transkribiert sie Kassetten mit Interview-Aufnahmen, die später zu dem Buch a: A Novel werden sollten. Auf diese Weise dringt sie – verborgen unter Kopfhörern und mit den Fingern auf den Tasten ihrer Schreibmaschine – in den innersten Warhol-Circle ein. Wie in einer Beichte hört sie den obszönen, verletzlichen, exzentrischen oder selbstverliebten Dialogen tagtäglich zu. Trotz ihrer ununterbrochenen Präsenz im Raum, als Zeugin von Fotosessions, Filmaufnahmen und Szene-Partys bleibt sie für diese Menschen doch unsichtbar, ein unbeachtetes Mädchen am Rand ihrer Wahrnehmung. Nach und nach wandelt sich ihr anfänglicher Stolz, zu etwas Großem, Einzigartigem beizutragen immer mehr in Verstörung über die zu intimen, erniedrigenden und entblößenden Szenen, deren stumme Zeugin sie wird. Nicole Flattery hat ausführlich zu diesem Roman recherchiert, und es gelingt ihr über den Blick Maes diese berühmte, einzigartige Zeit und Location lebendig werden zu lassen und dabei die Menschlichkeit, Verletzlichkeit und auch die Arroganz der damaligen Berühmtheiten zu vermitteln, ohne über sie zu urteilen. Eine faszinierende Reise zurück in die späten 60er Jahre New Yorks, in denen kurzzeitig alles möglich schien. (Syme Sigmund) Leseprobe

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Anne Berest: Die Postkarte

Aus dem Französischen von Amelie Thoma und Michaela Meßner, Berlin Verlag 2023, 539 S., € 28,-

Ephraim, Emma, Noemi, Jacques – aus dem Nichts erhält Anne Berests Mutter Neujahr 2003 eine anonyme Postkarte, nur mit den Vornamen ihrer 1942 in Auschwitz ermordeten Angehörigen. Sie verstört die Familie, doch mangels Erklärung wird sie beiseitegelegt und nie wieder erwähnt. Verdrängen war die Regel, hatte doch Myriam, die Großmutter, die nur durch ein „dünnes Zufallfädchen“ die Naziherrschaft überlebt hatte, über die Vergangenheit geschwiegen. Erst Jahre später, als die Autorin hochschwanger bei ihren Eltern auf die Geburt wartet, erinnert sie die Karte und möchte von ihren Vorfahren hören. Doch erst als ihre eigene Tochter in der Schule antisemitisch diffamiert wird, beginnt sie ernsthaft, die Geschichte ihrer Angehörigen zu recherchieren. Dabei kann sie sich auf das Archiv ihrer Mutter stützen, die, ohne darüber zu reden, alles Erdenkliche zur Familiengeschichte gesammelt hat. Mit Hilfe von Kriminologen und Nachforschungen aller Art wird peu à peu die vielgestaltige Geschichte, die bis in die Gegenwart reicht und unverhoffte Wendungen nimmt, aufgerollt. Das ist spannend und mitreißend wie in einem Krimi erzählt, wird aber durch die Passagen, in denen sie von ihren Rechercheschritten berichtet und uns am persönlichen Austausch mit ihren Angehörigen teilhaben lässt, zu einer direkten Einladung, sich selbst zu seinem eigenen Verhalten zu befragen. (Stefanie Hetze) Leseprobe

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Xi Xi: Meine Stadt

Aus dem kantonesischen Chinesisch und mit einem Nachwort von Karin Betz, Suhrkamp 2023, 253 S., € 24,-

Welch ein Fund, den Suhrkamp da gehoben hat und der von der Übersetzerin Karin Betz in ein nur so vor Lebendigkeit und Einfallsreichtum funkelndes Deutsch übertragen wurde! Meine Stadt erschien 1975 als Fortsetzungsroman in einer Hongkonger Zeitung. Er porträtiert diesen einmaligen Ort, der im Zentrum kolonialer und geopolitischer Macht- und Finanzinteressen stand, während die Bevölkerung, die durch die Ankunft vieler Geflüchteter enorm anstieg, versuchte, mit den verschiedenen Gegebenheiten umzugehen. In dieser vielfältigen Stadtgesellschaft, die den unterschiedlichsten Einflüssen ausgesetzt ist, in der Chinesische Kaiser auf die Beatles und Reissuppen auf Schinkensandwiches treffen, lässt Xi Xi ihren jugendlichen Protagonisten, der mit Mutter und Schwester frisch angekommen ist, die verschiedensten Menschen und Lebensumstände kennenlernen. All diese Begegnungen, Szenen und Episoden sind ein Feuerwerk an Anspielungen, Wort- und Gedankenspielen. Gegenstände und Phänomene erzählen ganz poetisch ihre Sicht der Dinge, wie die Fähre, die sich vom Pier verabschiedet. Filme, Songs und Buchtitel werfen auf das Beschriebene noch einmal ein anderes Licht. Der Kultautorin von 1975 und der Übersetzerin aus der Gegenwart ist es gelungen, das Hongkong von damals plastisch nachvollziehbar zu machen und gleichzeitig die großen Probleme der Menschheit anklingen zu lassen. (Stefanie Hetze) Leseprobe

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Joachim Sartorius: Die Versuchung von Syrakus

mareverlag 2023, 192 S., € 20,-

Die uralte Stadt Syrakus, vor 2500 Jahren Schmelztiegel im Mittelmeerraum, liegt am südöstlichen Rand Siziliens am Ionischen Meer. Der Ätna, Griechenland und Nordafrika sind nah. Im historischen Zentrum auf der vorgelagerten schmalen Insel Ortigia, auf der sich die Antike in unzähligen Schichten niedergelagert hat, hat der Autor seit geraumer Zeit seinen zweiten Wohnsitz. Hier spürt der belesene Flaneur in ausgedehnten Streifzügen durch die Straßen, Märkte und Lokale den vielschichtigen Facetten der immer noch lebendigen Geschichte Syrakus nach. Sie ist tief im Bewusstsein der Bevölkerung verwurzelt, wie seine Gespräche mit Einheimischen anschaulich verdeutlichen. Künstler verarbeiten sie in ihren Gemälden, Adlige pflegen leidenschaftlich ihre Sammlungen antiker Gegenstände. Bei seinem Barbier, den Wirt*innen, einem Polizisten, einer Übersetzerin … gehört das Erinnern zu ihrem Alltag. Gleichzeitig gibt es die Gegenwart, die Bedeutungslosigkeit der Randexistenz, die vielen Probleme durch Verkehr, Armut, Immigration, Lethargie, aber auch die reichen Genüsse an guten Speisen und köstlichen Dolci, die Schönheit und Kraft des die Stadt umgebenden Meeres. Auch wenn wir nicht vor Ort sind, können wir mit diesem Buch diese besondere mediterrane Stadt erkunden, zwei Stadtpläne verschönern den literarischen Spaziergang. (Stefanie Hetze)

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Brigitte Reimann: Die Geschwister

Aufbau 2023, 224 S., € 22,-

Elisabeth, wie ihre Autorin eine glühende Jungsozialistin, erfährt, dass auch ihr zweiter, noch mehr geliebter Bruder Uli die DDR verlassen will. Verzweifelt versucht sie, ihn zum Bleiben zu überreden. Im Jahr des Mauerbaus begonnen, 1963 erstmals veröffentlicht, ist die Erzählung wohl als Reimanns Antwort auf die Abriegelung des Staates zu verstehen. „Die Stasi-Szene gestrichen, die Kunst-Diskussion gestrichen; alles, was an Gefühl  … oder gar Bett gemahnt, ist gestrichen, und jetzt kann man meine schöne Geschichte getrost in jedem katholischen Mädchenpensionat auslegen.“* Doch heute liegt das stark autobiografisch angelehnte Buch in einer Version vor, welche die Zensurbehörde der DDR noch nicht kannte und die nun ohne die später durchgesetzten Streichungen gelesen werden kann. Der Aufbau Verlag nutzt die Gelegenheit dieses Überraschungsfundes für eine ganze Reihe sehr schön gestalteter Neuausgaben, u.a. „Franziska Linkerhand“ und Reimanns Tagebücher „Ich bedaure nichts.“ (Jana Kühn) Leseprobe

* EXTRA! Und wer noch weiter eintauchen möchte, dem sei wärmstens  „Sie träumten vom Sozialismus” über Brigitte Reimann, Maxie Wander und Christa Wolf empfohlen – es ergänzt sich so wunderbar! Mit ihrem nicht (be)wertenden Blick und sehr anschaulich beschrieben zeigt die 1986 geborene Journalistin, wie sich die drei so unterschiedlichen Autorinnen in ihrem Glauben an eine Utopie und dem gleichzeitigen Hadern mit dem dahinter stehenden Staat treffen. Mit ihrer Neubetrachtung eröffnet Würfel Tür und Tor, diesen Kosmos aus spezifisch weiblichen Erfahrungen in der DDR wieder zu entdecken. Leseprobe

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Thomas Harding & BrittaTeckentrup (Illustr.): Das alte Haus an der Gracht

Aus dem Englischen von Nicola Stuart. Jacoby & Stuart 2023, 48 S., € 22,-, ab 8

Das Anne-Frank-Haus an der Prinsengracht in Amsterdam, das zwei Jahre lang Anne Frank und ihrer Familie Schutz bot, ehe ihr Versteck verraten und sie von den Nazis deportiert und ermordet wurden, ist der Protagonist dieses besonderen Sachbilderbuchs. Die detailreichen, zeitlich verorteten Bilder und der präzise, aber einfühlsame Text erzählen aus der Perspektive des Gebäudes dessen wechselhafte Geschichte und die seiner unzähligen Bewohner:innen. So entsteht für Kinder unmittelbar nachvollziehbar ein geographischer und historische Kontext für die Gewalt, die Anne Frank angetan wurde, der im ausführlichen Anhang vertieft wird. Nach Haus am See lädt der neueste Geniestreich des Duos Thomas Harding und Britta Teckentrup Kinder und Erwachsene ein, Dinge und Ereignisse in Zusammenhängen zu begreifen und sich darüber auszutauschen.

Blick ins Buch

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Ulrike Draesner: die Verwandelten

Penguin 2023, 608 S., € 26,-

Dass Kriegskinder ihre Traumata bis in die dritte Generation weitergeben, ist der breiteren Öffentlichkeit seit den erfolgreichen Büchern von Sabine Bode „Kriegskinder“ und „Kriegsenkel“ bekannt. Ulrike Draesner verarbeitet das Thema nun in einem beeindruckenden, vielstimmigen und sprachmächtigen Roman.
Alissa wird in einem Heim des nationalsozialistischen „Lebensborn“ geboren, mit fünf Jahren von einem wohlhabenden nationalsozialistischen Paar adoptiert und wächst als Gerhild auf. Dass sie die Tochter der Köchin Adele aus Breslau ist, die vom Hausherren geschwängert wurde, entdeckt sie erst im hohen Alter.
Ihre Halbschwester Renate erfährt Ende des Krieges die Vergewaltigung durch russische Soldaten und verwandelt sich in Walla, um zu vergessen und im nun polnischen Breslau/Wrocław bleiben zu können.
Erst als ihrer beiden Töchter Kinga und Dorota – Nebelkinder, im Schweigen aufgewachsen –  einander begegnen, lösen sich die düsteren Spuren der Vergangenheit in einer möglicherweise klareren Zukunft auch für Kingas Adoptivtochter Flummy, „Krieg und Nachkrieg entkommen. Vielfach verwurzelt“.
Ulrike Draesner, die als Lyrikerin mit der Sprache virtuos zu wirken versteht, gibt den „Verwandelten“ eine Stimme. In Zeit- und Personenwechseln – mal spricht Alissa im Alter, mal als kleines Mädchen, mal Kinga oder Doro, mal Reni, ihre Mutter Else oder Adele – entfaltet sich ein überaus beeindruckendes Panorama weiblicher Lebenserfahrungen im 20. Jahrhundert. (Syme Sigmund) Leseprobe

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Andrea Giovene: Die Autobiographie des Giuliano di Sansevero

Aus dem Italienischen von Moshe Kahn, Galiani 2022/2023, 5 Bände, je ca. 350 S., je € 26,-

(L’autobiografia di Giuliano di Sansevero, Elliot 2012, € 27,-)

Anfang der 70er Jahre erschienen, passte diese fünf Bände umfassende fiktive Biografie nicht in die von der Avantgarde geprägte literarische Landschaft Italiens. Daher geriet das Werk nach anfänglichen Erfolgen – unter anderem wurde es von der Académie de la Littérature Française als bester europäischer Roman ausgezeichnet – schnell in Vergessenheit. Dabei ist die Lebensgeschichte dieses jungen, 1903 geborenen Adligen aus Neapel große Literatur, die zum Teil an den nur zehn Jahre zuvor veröffentlichten „Il Gattopardo“ erinnert.
Der junge Giuliano wächst in Neapel mit dem verblassenden Prunk seiner Familie auf und gerät nach dem Bankrott des Vaters in die politischen Wirren des 20ten Jahrhunderts. Einfühlsam und sprachversiert folgt Giovene dem Leben dieses Mannes zwischen Tradition und Moderne, ein beobachtender Außenseiter, mit dem wechselnden Geschick seines Landes verbunden.
Nun liegt das Werk erstmals vollständig auf Deutsch vor. Der erste und der zweite Band sind schon erhältlich, Band drei bis fünf sind für 2023 angekündigt. (Syme Sigmund)

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