Heike Brandt, Giulia Orecchia (Illustr.): Kaya weiß, was sie will

Moritz Verlag, 121 S., € 18, ab 3

Kaya möchte einen Apfel aus dem Korb weit oben, rettet mit ihrer Oma Tinka eine Maus, will nicht die vielen Treppen laufen und knallt mit dem Kopf an eine Tür. So alltäglich wie abenteuerlich geht es in diesen neun beglückend schönen Vorlesegeschichten zu, was von Kayas Erwachsenen zuhause und in der Kita mit viel Zugewandheit, Geduld, Fantasie, vor allem immer auf Augenhöhe mit dem Kind begleitet wird. Mit dem stetig gleichen Einstieg „Soll ich dir eine Geschichte erzählen?“ knüpft Heike Brandt geschickt an die Vorliebe vieler junger Kinder an, die eigenen Erlebniswelten wieder und wieder erzählt zu bekommen. Giulia Orecchia, eine Ikone der italienischen (Kinder)Buchillustration, ausgezeichnet u.a. mit dem Premio Andersen, hat für Kayas Geschichten farbenfroh lebendige Illustrationen beigesteuert, welche die altersgemäß kurz gehaltenen Texte wunderbar ergänzen. Unser jüngster Test-Leser liebte Kaya schon im ersten Durchlauf. Kaya hat alles, was ein zukünftiger Klassiker braucht! (Jana Kühn) Leseprobe

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Charlotte Gneuß: Gittersee

S. Fischer 2023, 240 S., € 22,-

Paul ist „rübergemacht“. So nannte man in der DDR umgangssprachlich, was offiziell als Republikflucht bezeichnet wurde. Karin, seine 16jährige Freundin, wusste nichts von seinen Plänen, was ihr aber niemand recht glaubt, schon gar nicht die mehr oder weniger offen agierenden staatlichen Sicherheitsorgane. Ihre Familie, ihre Freundschaften – alles steht plötzlich auf dem Prüfstand. Charlotte Gneuß beschreibt einerseits sehr einfühlsam, wie Karin versucht, mit dem völlig unerwarteten Verlust ihrer ersten Liebe umzugehen. Andererseits lässt sie ihre junge Protagonistin schonungslos die Perfidie des Bespitzelungssystems in der DDR erleben. Die Chronologie der Geschehnisse wird immer wieder von Träumen und Erinnerungen durchdrungen. Dazu kommt, dass der Erzählstrom enorm verdichtet ist und voller Andeutungen, die Sätze, Seiten oder auch Kapitel später erklärt werden. Oftmals bleiben sie aber auch offen und in ihrer Auflösung unserer Vorstellungskraft als Lesende vorbehalten. So manchem losen Ende der Erzählstränge wäre ich gerne weiter gefolgt, doch dann hätte ich ein komplett anderes, vermutlich eben nicht so gutes Buch gelesen. (Jana Kühn) Leseprobe

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Margaret Kennedy: Das Fest

Aus dem Englischen von Mirjam Madlung, Schöffling 2023, 432 S., € 24,-

Was für eine Katastrophe und dies an der malerischen Küste Cornwalls! Ein Felssturz hat ein kleines Hotel unter sich begraben. Nur die Gäste, die sich bei einem Fest am Strand aufhielten, haben überlebt. Doch wer zu diesen Glücklichen gehört, wird erst ganz am Ende dieses mitreißend-garstigen Gesellschaftsroman aufgedeckt. Bis dahin tauchen wir ein in den skurrilen Kosmos eines privat geführten Hotels im England der Nachkriegszeit. Bei allen Personen – von den Gästen mit ihren alles andere als niedlichen Kindern über das sich bekämpfende Personal bis zu der Familie, die das Hotel nur aus finanzieller Not betreibt, treten neben sparsam verteilten sympathischen Zügen allmählich diverse Schattenseiten und Abgründe zu Tage. Es kommt zu leidenschaftlichen Machtspielen, Romanzen und Kämpfen in diesem übervollen Haus, das sich überhaupt nicht zum Hotel eignet. Wie in einer Spirale steigert die Autorin die Perfidie der Intrigen und spielt virtuos mit den Erwartungen ihrer Leser:innenschaft, die mitfiebert, wer am Ende überleben wird. Etwa die richtig Bösen oder entpuppt sich der Gute doch als hinterhältig? Das macht großen Spaß, britische Unterhaltung at it’s best. (Stefanie Hetze)

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Louise Kennedy: Übertretung

Aus dem Englischen von Claudia Glenewinkel und Hans-Christian Oeser, Steidl 2023, 304 S., € 25,-

Cushla, 24, hat in dem kleinen, überwiegend protestantischen Ort bei Belfast im Jahr 1975 kein leichtes Leben. Neben ihrer Arbeit als Grundschullehrerin, kümmert sie sich um ihre alkoholkranke Mutter und hilft abends im Pub ihres Bruders an der Bar. Katholiken wie sie kann hier jedes falsche Wort in Schwierigkeiten bringen oder sogar das Leben kosten. Für die Kinder ihrer Klasse zählen Bomben, Tote und Schikanen zu ihrem Alltag. Als der Vater eines ihrer Schüler fast zu Tode geprügelt wird, setzt sie sich für die Familie ein. Zeitgleich beginnt sie heimlich eine Affäre mit einem sehr viel älteren Prozessanwalt, der auch noch verheiratet und protestantisch ist. Als die Ereignisse sich zuspitzen, verliert sie immer mehr die Kontrolle über ihr Leben und gerät nicht nur selbst in große Gefahr.
Mit viel Gespür für Spannung, Tempo und Atmosphäre lässt Louise Kennedy das Nordirland der siebziger Jahre lebendig werden und vermittelt eindringlich, was es heißt, in einem Bürgerkriegsland zu leben. (Syme Sigmund)

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Nicole Flattery: Nichts Besonderes

Aus dem Englischen von Tanja Handels, Hanser Berlin 2023, 272 S., € 24,-

Mae, die 17-jährige Tochter einer alkoholkranken Kellnerin, versucht ihrer nichtssagenden Existenz zu entkommen. Sie schmeißt die Schule und gerät durch Zufall an einen Job als Schreibkraft – in Andy Warhols Factory. Hier transkribiert sie Kassetten mit Interview-Aufnahmen, die später zu dem Buch a: A Novel werden sollten. Auf diese Weise dringt sie – verborgen unter Kopfhörern und mit den Fingern auf den Tasten ihrer Schreibmaschine – in den innersten Warhol-Circle ein. Wie in einer Beichte hört sie den obszönen, verletzlichen, exzentrischen oder selbstverliebten Dialogen tagtäglich zu. Trotz ihrer ununterbrochenen Präsenz im Raum, als Zeugin von Fotosessions, Filmaufnahmen und Szene-Partys bleibt sie für diese Menschen doch unsichtbar, ein unbeachtetes Mädchen am Rand ihrer Wahrnehmung. Nach und nach wandelt sich ihr anfänglicher Stolz, zu etwas Großem, Einzigartigem beizutragen immer mehr in Verstörung über die zu intimen, erniedrigenden und entblößenden Szenen, deren stumme Zeugin sie wird. Nicole Flattery hat ausführlich zu diesem Roman recherchiert, und es gelingt ihr über den Blick Maes diese berühmte, einzigartige Zeit und Location lebendig werden zu lassen und dabei die Menschlichkeit, Verletzlichkeit und auch die Arroganz der damaligen Berühmtheiten zu vermitteln, ohne über sie zu urteilen. Eine faszinierende Reise zurück in die späten 60er Jahre New Yorks, in denen kurzzeitig alles möglich schien. (Syme Sigmund) Leseprobe

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Ayòbámi Adébáyò: Das Glück hat seine Zeit

Aus dem Englischen von Simone Jacob, Piper 2023, 496 S., € 26,-

Die Familie des 15jährigen Eniola lebt seit der Arbeitslosigkeit des Vaters in immer größerer Armut. Gerade noch so halten sie den immer ungeduldigeren Vermieter ihrer Ein-Zimmer-Wohnung hin. Wuraola, die aus einer sehr wohlhabenden Familie stammt, kämpft wiederum als junge Assistenzärztin mit den Widrigkeiten des maroden nigerianischen Gesundheitssystems. An und für sich haben beide nur wenig gemeinsam. Doch Ayòbámi Adébáyò lässt ihre Wege in einer Schneiderei kreuzen, wo Eniola als Laufbursche arbeitet und Wuraolas Mutter hochverehrte Stammkundin ist. So erfahren wir abwechselnd vom Alltag und aus dem Umfeld zweier Familien, deren sozioökonomischer Status kaum unterschiedlicher sein könnte. Erzählerisch gekonnt, fesselnd und mit stetig steigendem Tempo bildet Adébáyò so einerseits ein gesellschaftliches Panorama des heutigen Nigerias im Strudel aus fragwürdigen Traditionen und Machtmissbrauch auf vielen Ebenen ab. Andererseits sind gerade aus familiärer Sicht diese Konflikte universell und leider durchaus übertragbar auf unsere Breiten. (Jana Kühn)

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Anne Berest: Die Postkarte

Aus dem Französischen von Amelie Thoma und Michaela Meßner, Berlin Verlag 2023, 539 S., € 28,-

Ephraim, Emma, Noemi, Jacques – aus dem Nichts erhält Anne Berests Mutter Neujahr 2003 eine anonyme Postkarte, nur mit den Vornamen ihrer 1942 in Auschwitz ermordeten Angehörigen. Sie verstört die Familie, doch mangels Erklärung wird sie beiseitegelegt und nie wieder erwähnt. Verdrängen war die Regel, hatte doch Myriam, die Großmutter, die nur durch ein „dünnes Zufallfädchen“ die Naziherrschaft überlebt hatte, über die Vergangenheit geschwiegen. Erst Jahre später, als die Autorin hochschwanger bei ihren Eltern auf die Geburt wartet, erinnert sie die Karte und möchte von ihren Vorfahren hören. Doch erst als ihre eigene Tochter in der Schule antisemitisch diffamiert wird, beginnt sie ernsthaft, die Geschichte ihrer Angehörigen zu recherchieren. Dabei kann sie sich auf das Archiv ihrer Mutter stützen, die, ohne darüber zu reden, alles Erdenkliche zur Familiengeschichte gesammelt hat. Mit Hilfe von Kriminologen und Nachforschungen aller Art wird peu à peu die vielgestaltige Geschichte, die bis in die Gegenwart reicht und unverhoffte Wendungen nimmt, aufgerollt. Das ist spannend und mitreißend wie in einem Krimi erzählt, wird aber durch die Passagen, in denen sie von ihren Rechercheschritten berichtet und uns am persönlichen Austausch mit ihren Angehörigen teilhaben lässt, zu einer direkten Einladung, sich selbst zu seinem eigenen Verhalten zu befragen. (Stefanie Hetze) Leseprobe

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Pari Thomson: Greenwild – Die Jagd nach dem Wunderlicht

Aus dem Englischen von Maren Illinger, illustriert von Elisa Paganelli, Fischer SAUERLÄNDER 2023, 380 S., € 17,90, ab 10

Daisys Mutter, eine erfolgreiche Journalistin, verschwindet auf einer Recherchereise im Amazonas-Gebiet. Sie selbst kann sich in letzter Minute vor grimmigen Verfolgern in den Londoner Botanischen Garten retten. Dort öffnet ihr eine geheimnisvolle Pforte den Weg nach Greenwild, einer fantastischen Welt voller wundersamer Pflanzen – vor allem voller Grüner Magie. Und offensichtlich kannte ihre Mutter diese Welt, war selbst eine Botanistin. Und: “Botanistin zu sein, bedeutet vor allem, darüber nachzudenken, was wir für die Natur tun können – und nicht nur, was sie für uns tun kann.” Daisy macht sich auf die Suche nach ihrer Mutter und erlebt zahlreiche Abenteuer, die bei aller Fantasie viele Anknüpfungspunkte in unserer Welt haben und en passant für den Schutz der Einzigartigkeit von Natur- und Pflanzenwelt sensibilisieren. Fesselnder Auftakt einer magisch-botanischen Trilogie in schönster Buchgestaltung, Teil II kommt schon im Herbst – wir sind gespannt! (Jana Kühn) Leseprobe

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Xi Xi: Meine Stadt

Aus dem kantonesischen Chinesisch und mit einem Nachwort von Karin Betz, Suhrkamp 2023, 253 S., € 24,-

Welch ein Fund, den Suhrkamp da gehoben hat und der von der Übersetzerin Karin Betz in ein nur so vor Lebendigkeit und Einfallsreichtum funkelndes Deutsch übertragen wurde! Meine Stadt erschien 1975 als Fortsetzungsroman in einer Hongkonger Zeitung. Er porträtiert diesen einmaligen Ort, der im Zentrum kolonialer und geopolitischer Macht- und Finanzinteressen stand, während die Bevölkerung, die durch die Ankunft vieler Geflüchteter enorm anstieg, versuchte, mit den verschiedenen Gegebenheiten umzugehen. In dieser vielfältigen Stadtgesellschaft, die den unterschiedlichsten Einflüssen ausgesetzt ist, in der Chinesische Kaiser auf die Beatles und Reissuppen auf Schinkensandwiches treffen, lässt Xi Xi ihren jugendlichen Protagonisten, der mit Mutter und Schwester frisch angekommen ist, die verschiedensten Menschen und Lebensumstände kennenlernen. All diese Begegnungen, Szenen und Episoden sind ein Feuerwerk an Anspielungen, Wort- und Gedankenspielen. Gegenstände und Phänomene erzählen ganz poetisch ihre Sicht der Dinge, wie die Fähre, die sich vom Pier verabschiedet. Filme, Songs und Buchtitel werfen auf das Beschriebene noch einmal ein anderes Licht. Der Kultautorin von 1975 und der Übersetzerin aus der Gegenwart ist es gelungen, das Hongkong von damals plastisch nachvollziehbar zu machen und gleichzeitig die großen Probleme der Menschheit anklingen zu lassen. (Stefanie Hetze) Leseprobe

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Mercedes Lauenstein & Juri Gottschall: Splendido

Italienisch kochen mit besten Zutaten und viel Gefühl. Dumont 2022, 256 S., € 34,-

Manchmal braucht es, bis auch wir ein Buch entdecken, zu überbordend die Schwemme an italienischen Kochbüchern. Umso größer ist unsere Begeisterung für dieses Buch, das kompromisslos die Einfachheit der Küchen Italiens feiert und uns beim Selberkochen anregt und auffordert, sich auf das Wesentliche zu konzentrieren: auf die besten aller Zutaten und auf den selbstbestimmten Umgang mit den Rezepten. Die Geschichten zu den Gerichten sind kein schmückendes Beiwerk wie sonst üblich, sondern geben die nötigen Hintergrundinformationen, um in das Wesen eines Rezepts einzutauchen und ein gutes Gespür zu entwickeln, worauf es bei ihm wirklich ankommt. Da passt es auch, dass kaum Mengenangaben vorhanden sind, denn mal ist eine Artischocke winzig, mal riesengroß. Köstlich kann mit diesem Buch gekocht werden, kann der Essenz von Klassikern wie der Caponata oder Spaghetti all’Amatriciana nachgegangen werden oder vielleicht ganz Neues entdeckt werden wie einem Salat aus rohem weißem Spargel. Und sich zudem erfreuen an der Ästhetik und den sinnenfreudigen Fotografien. Prächtig! (Stefanie Hetze) Blick ins Buch

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