Ocean Vuong: Der Kaiser der Freude

Aus dem Amerikanischen von Anne-Kristin Mittag und Nikolaus Stingl, Hanser 2025, 527 Seiten, 27 Euro

Eigentlich hat Hai, ein 19-jähriger queerer Amerikaner vietnamesischer Abstammung, das Leben noch vor sich, aber für ihn tun sich nur Abgründe auf. Er hat seinen Freund verloren, ist fest im Griff seiner Tablettensucht, das College hat er mit einem Schuldenberg geschmissen. Ohne Perspektive kehrt er in sein Heimatnest zurück, wo apokalyptischer Stillstand, Verfall und Leere herrschen. Hier trifft er auf Grazina, die am Ende ihres ereignisreichen Lebens steht. Wie ihr altersschwaches Haus zerbröseln ihr Geist und Körper, gleichzeitig blitzen immer wieder Momente ihrer Stärke und Gewitztheit auf. Hai schlüpft bei ihr unter und begibt sich mit ihr auf phantastische Reisen zwischen Realität und Demenz, die Vuong umwerfend schildert.  Über seinen sehr besonderen Cousin Sony findet Hai einen Job in einem Fastfoodrestaurant. Alle, die dort prekär arbeiten und die in der Regel auch in der Literatur ein Schattendasein führen, befördert der Autor mit all ihren Problemen, Spleens und Träumen ins Rampenlicht. Er bewegt sich mit ihnen, mit Hai, mit Grazina in abgefuckten, atemberaubend beschriebenen Orten und Landschaften. Voller Zärtlichkeit und Respekt, aber auch höchst unterhaltsam verwickelt er sie in spannende Roadmovies, dramatische Beziehungs- und Familiengeschichten und kontrastiert ihre Sehnsüchte mit den knallharten Realitäten der USA. Eine ergreifende Ode auf das vielfältige Amerika. (Stefanie Hetze)

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Kevin Chen: Geisterdämmerung

Aus dem Chinesischen von Monika Li, Matthes & Seitz Berlin 2025, 383 Seiten, 26 Euro

Kevin Chen, Berliner Autor und Filmschauspieler, ist in Taiwan geboren und aufgewachsen. Die Beziehung zu diesem Land bildet den perfekten Hintergrund für diesen außergewöhnlichen Roman, der bereits in mehr als zehn Sprachen übersetzt worden ist.
Ein junger Mann, Tianhong, wird für den Mord seines Partners verurteilt und sitzt dafür zehn Jahre im Gefängnis in Berlin. Nach seiner Entlassung weiß er nicht wohin. Schlussendlich kehrt er zurück in sein taiwanisches Heimatdorf: Yongjing, was ewiger Frieden bedeutet, doch für ihn alles andere ist als das.
Der Roman ist voller Gewalt und wurde sehr packend geschrieben. Er ist gleichzeitig eine Geschichte von Geistern, die tief in der taiwanesischen Kultur verwurzelt sind. Immer wieder entstehen schöne Bilder, wie die Beschreibung atemberaubender Landschaften oder beglückende familiäre Momente. Kevin Chen erzählt sehr assoziativ, verschiedene Geschichten und Erzählperspektiven sind übereinander gelagert: Das sorgt für eine bewegte, atemberaubende Lektüre, die gleichzeitig amüsiert, erschreckt und zum Nachdenken bringt.

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Nora Hoch: Das beste Versteck des Sommers

dtv 2025, 176 Seiten, 15 Euro, ab 9

… und jede Menge Himbeereis! Ja, Eis spielt eine große Rolle in diesem herrlich sommerlichen Roman für Kinder, der ebenso mit gefühlvollem Tiefgang aufwartet. Den einmaligen Geschmack von Himbeereis wird Oma Rosa ihr ganzes Leben nicht vergessen. Das Rezept ihres Vaters für Blaubeereis fällt ihr aber beim besten Willen nicht mehr ein. Überhaupt vergisst sie in letzter Zeit ziemlich viel. Ihre Enkelin Ada bemerkt diese Veränderungen wohl, vor allem aber hat sie den mahnenden Ton ihrer eigenen Mutter im Ohr, dass Oma Rosa jetzt „anders“ sei und vieles nicht mehr alleine schaffe. Muss sie ja auch nicht, sie hat ja Ada, und die würde sofort mit Oma Rosa in das italienische Bergdorf aufbrechen, in dem Oma Rosa aufgewachsen ist und wo sie ganz sicher, sagt Oma, das Eisrezeptebuch ihres Vaters versteckt hat. Ihre ältere Schwester Rike hat Ada schnell von der Reiseidee begeistert … ihre Mutter leider gar nicht. Doch es geht trotzdem los und es wird aufregend und es wird himbeereisgut. Nora Hoch hat als Theaterpädagogin und Dramaturgin ein untrügliches Gespür für lebendige Dialoge und einen erzählerischen Spannungsbogen, der en passant die Demenz der Großmutter und die damit einhergehenden Herausforderungen an eine Familie aufgreift. Wie Ada und Rike ihre Oma Rosa nach Italien bringen und was es mit dem Eisrezeptebuch auf sich hat, ist in jedem Fall eine vergnüglich leichte Sommerlektüre, die im Gedächtnis bleibt.  (Jana Kühn)

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Oliver Lovrenski: bruder, wenn wie nicht family sind, wer dann

Aus dem Norwegischen von Karoline Hippe
Hanser Berlin, 2025, 252 Seiten, 22 Euro

bruder, wenn wir nicht family sind, wer dann zu lesen ist eine literarische Achterbahnfahrt.
Das Debüt des zum Zeitpunkt des Erscheinens gerade einmal 19-jährigen Autors Oliver Lovrenski erzählt vom Aufwachsen der vier Freunde Ivor, Marco, Jonas und Arjan in den Straßen Oslos. Während anfangs noch Vorstellungen von einer Zukunft existieren – Anwalt werden oder eine Boxkarriere, Familie gründen und es besser machen als der eigene Vater –, bestimmen bald Sucht und Gewalt, Jugendamt und Polizei den Alltag.
Was die Jungs trägt, ist ihre unbedingte Loyalität zueinander. Sie ziehen durch die Stadt, hängen ab, konsumieren oder verticken Drogen, gehen zur Schule oder eben nicht, Lassen sich von Jonas Oma bekochen, spielen Kniffel mit ihr und machen den Abwasch, prügeln sich, verlieben sich, bedrohen oder werden bedroht, wollen ihre kleinen Brüder vor ihrer Realität beschützen und ihren Müttern die Tränen nehmen.
Von diesen Leben voller Ambivalenzen erzählt Lovrenski – phantastisch übersetzt von Karoline Hippe – in einer rohen, rhythmischen Sprache, fast ohne Interpunktion, fast alles kleingeschrieben (außer Baba, Oma). Eine fulminante Lektüre! (Katharina Bischoff)

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Yasmina Reza: Die Rückseite des Lebens

Aus dem Französischen von Claudia Hamm, Hanser 2025, 200 Seiten, 24 Euro

Eine schmächtige Frau erschießt ihren gewalttätigen Mann, versteckt seine Leiche, schleift sie in ein von ihr gegrabenes Loch. Als dies von Fliegen heimgesucht wird, zerrt sie sie durchs Kinderzimmer auf den Dachboden, wo sie sie einbetoniert. Eine Frau tickt in der Metro aus, sticht mit einem Messer um sich und beleidigt rassistisch. Ein Mann versucht, mit Atropin alte Frauen zu vergiften, um an ihr Erbe zu kommen. Solch dramatische Taten werden in der Regel kurz medial hochgekocht, um alsbald von einem neuen Skandal abgelöst zu werden. Nur Strafgerichte gehören zu den Orten, an denen minutiös hergeleitet wird, wie es zu derart unberechenbaren Handlungen kommen konnte. Yasmina Reza protokolliert seit Jahren Prozesse, in denen die Widersprüche der menschlichen Existenz in all ihren Verästelungen zur Sprache kommen. Dabei urteilt sie nicht und interessiert sich auch nicht für das finale Urteil. Sie lässt sich ganz auf die Äußerungen der jeweiligen Seite ein, was bei der Lektüre zu einem ständigen Perspektivwechsel und damit einer rasanten Abfolge von Mitfühlen und Urteilen führt. Das macht ungemein klug deutlich, wie schnell alltägliche Situationen kippen können. Wie gefährdet und von Zufällen bestimmt das Leben ist, erzählt Reza auch in sehr persönlichen Skizzen, die wieder auf eine andere Art berühren und die kostbare Zerbrechlichkeit des Daseins erfahrbar machen. Ein wirklich besonderes Buch! (Stefanie Hetze)

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Annika Büsing: Wir kommen zurecht


Steidl, 2025, 288 Seiten, 24 Euro

„Zu funktionieren ist wie Magie, wie eine schwarze Flamme, die auf der Haut brennt, ohne sie zu versengen“, heißt es irgendwo in der Mitte des Romans. Da wissen wir als Leser*in bereits, dass Philipp kurz vor seinem 18. Geburtstag steht und sich aufs Abitur vorbereitet. Wir wissen, dass er mit seinem Vater und dessen Freundin in einem Haus mit Garten, Espressomaschine und einer Reinigungskraft lebt, dass es in der Schule eigentlich ganz okay läuft und dass er einen richtig guten Freund hat, mit dem er zum Kiffen auf den Friedhof geht. Alles funktioniert soweit. Philipp funktioniert. Alles ganz normal.
Die Flamme, die auf Philipps Haut brennt, ist seine abwesende, psychisch kranke Mutter. Sie ist schon lange nicht mehr Teil seines Alltags, nur manchmal taucht sie auf, um ihm einen Hund zu schenken, den sie ihm gleich wieder wegnimmt oder, um mit ihm in irgendeine Stadt zu fahren und auf halbem Weg zu vergessen, was sie dort will. Manchmal lässt sie ihr Auto auch einfach irgendwo stehen und wird daraufhin von der Polizei gesucht.
Annika Büsing erzählt in einer wunderbar einfachen, poetischen Sprache, klug und zurückhaltend, mit allen Ambivalenzen vom Kipppunkt zwischen Kindheit und Erwachsen-Sein, vom Eltern-Sein, von Freundschaft, vom Rausch, von schönen Begegnungen.
Ein traurig-tröstend-wärmendes Buch, dass einen auch nach der Lektüre noch eine ganze Weile glauben lässt: alles ist irgendwie anstrengend, aber alles kann irgendwie gut werden. (Katharina Bischoff)

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Katherine Rundell: Impossible Creatures

Übersetzt von Henning Ahrens, Fischer SAUERLÄNDER 2025, 384 Seiten, ab 11

Wieder einmal sind die Ferien bei den Großeltern Ausgangspunkt großer Abenteuer … in diesem Fall im Norden Schottlands, wo sich Christopher natürlich nicht an das Verbot seines Großvaters hält, einen nahen Hügel zu erklimmen. Prompt öffnet sich dem außergewöhnlich tierlieben Jungen dort ein Übergang zu einer fantastischen Welt und er begegnet Mal, einem Mädchen, das vor einem Mörder flieht. Sie kann mit einem alten Mantel fliegen und beschützt einen jungen Greif – vielleicht den letzten seiner Art. Die Magie des Archipels scheint zu versiegen, etwas Dunkles steht bevor. Nicht nur der Greif, alle Fabelwesen sind in Gefahr, mit ihnen der gesamte Archipel. Allein das Unsterbliche verspricht Rettung, ist jedoch verschollen. Katherine Rundell vereint in ihrer enorm spannenden Trilogie Fabelwesen aus den Mythologien einmal rund um den Globus – eben Impossible Creatures. Neben Kindern sehr sicher bekannten Wesen wie Einhorn und Drache begegnen sie dem Al-mi’raj (ein gehörnter Hase), dem Lavellan (eine Art bösartige Spitzmaus) oder dem Mantikor (ein gefährlicher Löwe mit Skorpionschwanz). So entsteht mit dem Archipel eine Fabelwelt der Sonderklasse! (Jana Kühn)

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Wolfgang Krolow: Kreuzberg die Welt


Assoziation A, 288 Seiten, 44 Euro

Die Werkschau des Fotografen Wolfgang Krolow „Kreuzberg die Welt“ lässt uns durch die Scheiben unserer Buchhandlung direkt in die revolutionäre, schwarz-weiße, wilde Vergangenheit unserer Nachbarschaft schauen. Frisch aus der süd-westdeutschen Provinz in Berlin, wird Krolow ab den 1970er Jahren Teil der Kreuzberger linkspolitischen Szene, die er nicht nur dokumentiert, sondern in Bildern mitbewegt. Die Perspektiven, die er wählt sind mitunter waghalsig, ungewohnt. Ungestört spielende Kinder direkt neben einem Polizeieinsatz, ein Punk im sonnigen Fenstergesims, hoch oben in einer Fassade, melancholisch zusammengesunken wie seine Frisur. Vielleicht ist das eines der wichtigsten Fundstücke in Krolows Bildern: Widerstand muss normal sein, findet immer mitten im Leben statt. Und mehr noch: Anarchie, Straßenkampf, Instandbesetzung ist mitunter etwas Zartes, sehr Poetisches – ein Demonstrant, inmitten von Pflastersteinen stehend, schaut selbstvergessen in das klaffende Loch einer Straße. Kleine, kontemplative Vignetten, die von den Geschichten hinter den Ereignissen berichten, aber immer hochpolitisch sind: Krolow interessiert sich für die migrantische Kultur Kreuzbergs zu einer Zeit, als es vielen Linken noch schwer fällt sich zu solidarisieren. Ein liebevoll-kämperfischer Blick auf das alte Kreuzberg, von dem das neue sich gerne wieder inspirieren lassen darf. (Kerstin Follenius)

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Fiona Sironic: Am Samstag gehen die Mädchen in den Wald und jagen Sachen in die Luft


Ecco 2025, 208 Seiten, 23 Euro

Am Samstag gehen die Mädchen in den Wald und jagen Sachen in die Luft ist nicht nur der hinreißendste Titel dieser Saison. Es ist auch der nicht minder faszinierende Befreiungsschlag der beiden Teenager Maja und Merle, Töchter sogenannter Momfluencerinnen, deren Ruhm darin begründet liegt, jedes Detail ihrer Familie zu streamen. Im Versuch die eigene überöffentliche Geschichte wieder einzufangen, greifen die Mädchen zu radikalen Mitteln und sprengen zunächst die Festplattenbackups der Mütter in die Luft. Beobachtet werden sie dabei von Era, einer Schulkameradin Majas. Zurück bei Stift und Notizbuch wird sie zur Chronistin eines Zeitenwandels: Wälder brennen, Vögel sterben in rasantem Tempo aus. Was als Selbstermächtigungsgeste zweier digital ausgebeuteter Teenager beginnt, entwickelt sich zu einer Graswurzelbewegung und bald schon ziehen Banden von wütenden Mädchen durch die Straßen der unbelebbar gewordenen Städte und sprengen sich frei von den Objekten ihrer digitalen Unterdrückung. Die Zukunft, in die Fiona Sironic uns schickt, ist nicht allzu fern. Die fortschreitende Klimakrise liefert den Hintergrund dieser dystopischen Erzählung aus der die Autorin eine mitreißend utopische Kraft zieht und, fast nebenbei, eine wunderschön traurige Liebesgeschichte erzählt. Ein feministisches Feuerwerk – klug, wild und inspirierend! (Kerstin Follenius)

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Lena Schätte: Das Schwarz an den Händen meines Vaters

S. Fischer 2025, 192 Seiten, 24 Euro

Der Vater ist eine Frohnatur, ein Geschichtenerzähler. Einer, der auf „alle Fragen eine Antwort weiß und wenn nicht, sich eine ausdenkt“. Er ist ein Arbeiter mit schwarzen Händen, die nur im Urlaub sauber werden. Und er ist Alkoholiker. Wie sein Vater. Wie viele Männer in der Familie.
Lena Schätte erzählt in ihrem autofiktionalen Roman schonungslos von Maloche, Armut und Alkoholismus. Motte, die Ich-Erzählerin, wächst in einer Arbeiter*innenfamilie auf. Schon früh lernt sie die Regeln der Co-Abhängigkeit: So zu lügen, dass es jeder glaubt. Immer ein Fluchtgeld zur Hand zu haben und dass das, was zu Hause passiert, zu Hause bleibt. Der Vater verliert die Arbeit, die Familie das Haus. Motte wird erwachsen und trinkt selbst. Als der Vater an Krebs erkrankt, sucht sie nach einem Weg, sich zu verabschieden.
Die Autorin erzählt all das in einer bestechend klaren und direkten Sprache – schon allein das macht den Roman unbedingt lesenswert. Jedes Wort sitzt und einzelne Sätze bohren sich in ihrer Härte und Poesie ins Leser*innenherz. In nicht linear erzählten Bruchstücken setzt sich das Bild einer Familie, eines Lebens zusammen und es sind vor allem die Auslassungen, das Nicht-Gesagte, die ihm seine Ambivalenz und eine ungeheure, zärtliche Schlagkraft verleihen. (Katharina Bischoff)

Das bestelle ich!