Fiona Sironic: Am Samstag gehen die Mädchen in den Wald und jagen Sachen in die Luft


Ecco 2025, 208 Seiten, 23 Euro

Am Samstag gehen die Mädchen in den Wald und jagen Sachen in die Luft ist nicht nur der hinreißendste Titel dieser Saison. Es ist auch der nicht minder faszinierende Befreiungsschlag der beiden Teenager Maja und Merle, Töchter sogenannter Momfluencerinnen, deren Ruhm darin begründet liegt, jedes Detail ihrer Familie zu streamen. Im Versuch die eigene überöffentliche Geschichte wieder einzufangen, greifen die Mädchen zu radikalen Mitteln und sprengen zunächst die Festplattenbackups der Mütter in die Luft. Beobachtet werden sie dabei von Era, einer Schulkameradin Majas. Zurück bei Stift und Notizbuch wird sie zur Chronistin eines Zeitenwandels: Wälder brennen, Vögel sterben in rasantem Tempo aus. Was als Selbstermächtigungsgeste zweier digital ausgebeuteter Teenager beginnt, entwickelt sich zu einer Graswurzelbewegung und bald schon ziehen Banden von wütenden Mädchen durch die Straßen der unbelebbar gewordenen Städte und sprengen sich frei von den Objekten ihrer digitalen Unterdrückung. Die Zukunft, in die Fiona Sironic uns schickt, ist nicht allzu fern. Die fortschreitende Klimakrise liefert den Hintergrund dieser dystopischen Erzählung aus der die Autorin eine mitreißend utopische Kraft zieht und, fast nebenbei, eine wunderschön traurige Liebesgeschichte erzählt. Ein feministisches Feuerwerk – klug, wild und inspirierend! (Kerstin Follenius)

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Lena Schätte: Das Schwarz an den Händen meines Vaters

S. Fischer 2025, 192 Seiten, 24 Euro

Der Vater ist eine Frohnatur, ein Geschichtenerzähler. Einer, der auf „alle Fragen eine Antwort weiß und wenn nicht, sich eine ausdenkt“. Er ist ein Arbeiter mit schwarzen Händen, die nur im Urlaub sauber werden. Und er ist Alkoholiker. Wie sein Vater. Wie viele Männer in der Familie.
Lena Schätte erzählt in ihrem autofiktionalen Roman schonungslos von Maloche, Armut und Alkoholismus. Motte, die Ich-Erzählerin, wächst in einer Arbeiter*innenfamilie auf. Schon früh lernt sie die Regeln der Co-Abhängigkeit: So zu lügen, dass es jeder glaubt. Immer ein Fluchtgeld zur Hand zu haben und dass das, was zu Hause passiert, zu Hause bleibt. Der Vater verliert die Arbeit, die Familie das Haus. Motte wird erwachsen und trinkt selbst. Als der Vater an Krebs erkrankt, sucht sie nach einem Weg, sich zu verabschieden.
Die Autorin erzählt all das in einer bestechend klaren und direkten Sprache – schon allein das macht den Roman unbedingt lesenswert. Jedes Wort sitzt und einzelne Sätze bohren sich in ihrer Härte und Poesie ins Leser*innenherz. In nicht linear erzählten Bruchstücken setzt sich das Bild einer Familie, eines Lebens zusammen und es sind vor allem die Auslassungen, das Nicht-Gesagte, die ihm seine Ambivalenz und eine ungeheure, zärtliche Schlagkraft verleihen. (Katharina Bischoff)

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Tarjei Vesaas: Frühlingsnacht

Aus dem Norwegischen von Hinrich Schmidt-Henkel
Guggolz 2025, 238 Seiten, 25 Euro

Es ist ein heißer Frühlingstag auf dem Land. Hallstein und seine Schwester Sissel frohlocken. Die Eltern sind in die Stadt gefahren und werden erst am nächsten Tag zurückkommen! Während der 14-Jährige fantasiert, was all jetzt Verheißungsvolles in Freiheit möglich sein könnte, hat Sissel Besuch von einem Verehrer, den sie aber im Streit wegschickt. Hallstein, der die beiden genauestens beobachtet hat, ihre Gefühlswandlungen aber nicht nachvollziehen kann, flüchtet sich in die explodierende Natur. Dies ist der Beginn eines atemberaubenden Romans, in dem der jugendliche Protagonist im Laufe einer Nacht, in der eine fremde zerrüttete Familie mit einer Gebärenden in ihre Privatsphäre eindringt, von widersprüchlichsten intensiven Gefühlen und Überlegungen durchgerüttelt wird. Er verwandelt sich von einem passiven Beobachter zu einem eher unfreiwilligen Akteur. Meisterlich, wie Vesaas ihn als Spielball einsetzt und ihn gleichzeitig seine Kindlichkeit verlieren lässt. Das erzeugt beim Lesen eine ungeheure Spannung, die Hinrich Schmidt-Henkel mit seiner Übersetzung dieser feuchten heißen Frühlingsnacht zum Schweben bringt. (Stefanie Hetze)

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R. Engler, D. Jaspersen, M. Engelke (Illustr.): So geht schlafen, kleiner Wombat

mairisch, 32 Seiten, 18 Euro, ab 4 

Die ganze Nacht hat der kleine Wombat mit dem großen Wombat nach Herzenslust gespielt. Jetzt geht langsam die Sonne auf, die Spielzeit ist vorbei und die Schlafenszeit beginnt. Aber die Tunnel sind doch noch gar nicht fertig! schimpft der Kleine. Bevor es ins Bett geht, muss er dem Großen deshalb noch zeigen, was er alles kann: Rennen, Drehen, Fliegen, es wird ins Bett gerollt und das große Finale ist das Schlafen. Der liebevoll erdachte Vorlesespaß ist kleinen Tobern wie auf den Leib geschrieben und die eigenwillig krackeligen Bilder enden im schönsten Kuscheln, vielleicht ja sogar Einschlafen! Bei uns hat es bestens funktioniert – Dantes jüngster Testleser war hellauf begeistert und wurde wombatmüde zugleich. (Jana Kühn)

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Jens Rassmus: Rosa und Bleistift

Edition Nilpferd, 40 Seiten, 18 Euro, ab 4

Am Ende eines Tages stellen Rosa und Bleistift fest, dass heute leider gar nicht mit ihnen gezeichnet wurde – wie schade! Staunend betrachten die beiden das toll zu Papier gebrachte Bild eines blauen Autos, das ohne sie entstanden ist. Ob das wohl fährt? Neugierig springt Rosa in das Bild hinein, um es auszuprobieren. Noch etwas ängstlich hüpft Bleistift hinterher und schon saust das blaue Auto durch die abenteuerliche Welt der Bilder. Farbenfroh und eintönig, schraffiert und lasiert, gepinselt und gestrichelt, minutiös gezeichnet und wild gekrakelt – in diesen collageartigen Tableaus passt alles herrlich oder wird von zwei mutigen Stiften fantasievoll passend gemacht. Und mit Fantasie geht es weiter – immer. (Jana Kühn)

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Dulce Chacón: Was Hortensia nicht mehr erzählen konnte

Aus dem Spanischen von Friederike Hofert, w_orten & meer 2024, 415 Seiten, 28 Euro

Spanien, 1939, der Bürgerkrieg ist gerade vorbei, die Protagonist*innen des Romans sind vornehmlich Republikaner*innen, Besiegte. Auf Grundlage von Zeitzeug*innenberichten und in erster Linie aus der Perspektive von Frauen schildert „Was Hortensia nicht mehr erzählen konnte“ die desaströsen Zuständen in den Gefängnissen, die Willkür, die Gewalt, Krankheiten. Der Roman erzählt aber auch von Zusammenhalt und Schwesternschaft, von kleinen Siegen und großer Treue, erzählt vom Leben der Guerillas in den Bergen und dem Leben der Zurückgebliebenen in der Stadt. Es werden Demütigungen beschrieben, die zu lesen kaum auszuhalten ist. Aber: „Widerstand heißt gewinnen“, so sagt es Tomasa, eine der Inhaftierten. In diesem Sinne ist „Was Hortensia nicht mehr erzählen konnte“ ein hoffnungsvolles Buch. Tomasa wird irgendwann das Meer sehen, wie sie sich das gewünscht hat. Aber sie wird an den Strand stolpern, weil sie – wie alle, die aus dem Gefängnis kommen – das Laufen erst wieder lernen muss.
Dulce Chacón wollte mit ihren Romanen auch auf die Geschichten derer hinweisen, die nicht auf der Sieger*innenseite standen. „Was Hortensia nicht mehr erzählen konnte“ erschien in Spanien bereits 2002. (Katharina Bischoff)

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Anna Langfus: Gepäck aus Sand

Aus dem Französischen übersetzt von Patricia Klobusiczky
AB – Die andere Bibliothek 2025, 288 Seiten, 48 Euro

Ein Roman gegen das Vergessen und Verharmlosen. Schonungslos zeigt er das Innerste eines traumatisierten Menschen, was beim Lesen selten tief berührt und aufrüttelt. Dabei deutet die Autorin sehr klug die erlebten Gräuel der Schoah nur an und konzentriert sich auf das Danach, ob und wie ein Weiterleben möglich ist. Völlig orientierungslos irrt die Protagonistin in „Gepäck aus Sand“ in ihrem Exil durch eine Gegenwart, die sie nicht betrifft.  Wie ein antiker Chor kommentieren die Präsenzen ihrer ermordeten Angehörigen unablässig ihr Tun und ihre Gedanken. Sie lassen nicht locker, selbst als sie eine Liaison mit einem älteren Mann eingeht und mit ihm in Südfrankreich versucht, Urlaub zu machen. Weder von diesem Mann noch von nicht verfolgten Verwandten erhält die junge Frau selbstlose Unterstützung. Auch als sie sich am Meer einer Gruppe Kinder anschließt und sich ein paar Momente der Hoffnung andeuten, zerfallen diese. Es gibt für sie kein Entkommen. Patricia Klobusiczky hat für ihre Neuübersetzung dieses Weltliteratur-Romans eine glasklare Sprache gefunden, da sitzt und schneidet jedes Wort. Ich möchte die Lektüre dieses Buchs nicht missen. (Stefanie Hetze)
Noch mehr Informationen über die Neuübersetzung

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Annett Gröschner: Schwebende Lasten


C.H. Beck 2025, 282 Seiten, 26 Euro

Magdeburg, 1938. Hanna Krause ist Besitzerin eines Blumenladens im Knattergebirge, dem verwinkelten, von Armut und Überleben gezeichneten Arbeiter*innen- und Elbhafenviertel. An ihrem 25. Geburtstag betritt ein Mann den Laden, übergibt ihr die Postkarte eines Stillebens des niederländischen Malers Ambrosius Bosschaert, 50 Mark und den Auftrag, den dargestellten Strauß für ihn nachzubilden. Der Kunde kommt nicht wieder, der Auftrag hingegen begleitet Hanna ein Leben lang. Wie schon in Moskauer Eis, mit dem dieser Roman in ganz enger Verbindung steht, hat Annett Gröschner auf die für sie typische Weise das Dokumentarische mit dem Erzählerischen verschaltet: Jedem Kapitel ist eine Blume dieses Straußes vorangestellt, die dem wechselhaften Leben der Protagonistin eine innere, wie äußere Struktur verleiht. Drei politische Systeme, einen Krieg und zwei Revolutionen später hat Hanna ihren inneren Kompass nie verloren. Aus der Blumenbinderin ist zwischenzeitlich eine Kranführerin geworden und Gröschner versteht sich blendend auf das Spiel mit den harten Kontrasten. In dichten, temporeichen Schritten erzählt sie mit Hanna Krause eine deutsche Geschichte, die mit viel Feingefühl an den richtigen Stellen innehält und die Lasten zum Schweben bringt.

Wäre diese Geschichte nicht so voller Leben, könnte sie fast ein Denkmal sein – für eine Stadt, ein Viertel, die Lebensgemeinschaft des in Trümmern versunkenen Knattergebirges, aber vor allem für eine widerständige Frauenbiographie, die nicht dem Leben trotzt, sondern ohne je Heldin oder Opfer zu sein, trotzdem lebt. (Kerstin Follenius)

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Akiko Miyakoshi: Die kleine Spitzmaus 

Aus dem Japanischen übersetzt von Paula Weber und Nicola T. Stuart, Jacoby & Stuart, 80 Seiten, 14 Euro, ab 5

Mit einem hinreißenden Blick schaut diese kleine  Spitzmaus direkt vom Cover ins Herz ihrer Betrachter*innen. Die japanische Autorin und Illustratorin Akiko Miyakoshi erzählt uns in drei kurzen Geschichten aus ihrem Leben in einer großen Stadt mitten in einem menschlichen Umfeld. Hier gibt es Vintage ohne jeden Schick, dafür mit berückendem Charme: Telefonapparate mit Wählscheiben, Kofferradios, Röhrenfernsehgeräte und Ohrensessel, die Miyakoshi in warmem Licht geschickt in Szene setzt. Die Spitzmaus arbeitet, träumt und verbringt Zeit mit ihren besten Freunden. Alle Tagesabläufe, jede Handlung findet zu festen Zeiten statt. Es scheint kaum Besonderes zu geben, und doch strahlt sie eine in sich ruhende Zufriedenheit aus. Und ebenso unaufgeregt wirken die zahlreichen, mal farbigen, mal schwarz-weißen Illustrationen. Kinder, die es lieben, sich tagtäglich in vertrauten Bahnen und mit kleinen Ritualen durch die Welt zu bewegen, werden sich in diesem Buch bestens zuhause fühlen. In seiner einfachen Sprache, den kurzen Sätzen und dank der vielen Bilder funktionieren die Geschichten zum Vorlesen für Kinder im Kita-Alter, im Grundschulalter wiederum zum ersten Selbstlesen. Enjoy the simple things in life! Diese Spitzmaus zeigt, dass es weder Mut noch Ausnahmetalente zum Glück braucht. (Jana Kühn)

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Ulli Lust: Die Frau als Mensch

Reprodukt 2025, 256 Seiten, 29 Euro

Als die junge Protagonistin Ulli in den 1970er Jahren ihrer Mutter beim Putzen einer österreichischen Dorfkirche hilft, entdeckt sie eine Statue im hinteren Kirchenschiff: Maria, die den Teufel besiegt. Sie ahnt hier schon, was sich auf ihrem späteren Weg bestätigen wird: Nicht nur in der Ausstattung dieser Kirche, in der gesamten Kunstgeschichte ist sie ist eine Frau unter vielen, sehr vielen Männern. Das gilt für Maria, wie auch für die Autorin selbst. 45 Jahre später kehrt die mittlerweile etablierte Dokumentarzeichnerin Ulli Lust in jene Kirche zurück und macht sich von dort aus auf den Weg, diese immer noch unerzählte Geschichte „Der Frau als Mensch“ grafisch freizulegen. Sie beginnt mit einer Führung durch die von Forschung jahrtausendelang ignorierten und missinterpretierten prähistorischen Figurinen. Hier ist die graphic novel gleichermaßen Museum wie kunsthistorisch-anthropologischer Meilenstein, dem ich Standardwerkstatus wünsche. Die Geschichte der Marginalisierung endet bei Ulli Lust jedoch nicht mit der fehlenden weiblichen Perspektive in Forschung, Literatur und Kunstgeschichte. Sie folgt den Linien der Unterdrückung über den afrikanischen Kontinent, von den Anfängen der Hominiden bis zur systematischen und ökonomischen Ausbeutung indigener Kulturen und ihrer angestammten Territorien. Ein Museumsbesuch der besonderen Art – reingehen! (Kerstin Follenius)

Das Buch bestelle ich bei Dante!