Cherie Jones: Wie die einarmige Schwester das Haus fegt

Aus dem Englischen von Karen Gerwig, Culture Books 2022, 328 S., € 25,-

Bilder von den Stränden Barbados‘ wecken Fernweh – was für ein Paradies! Scheinbar muss man sagen, bzw. längst nicht für alle. Dies zeigt sich schon auf den ersten Seiten dieses Romans, der hauptsächlich in den Sommermonaten des Jahres 1980 auf der karibischen Insel spielt. Die junge, hochschwangere Lala steigt mitten in der Nacht eine steile und gefährliche Treppe hinab ans Meer. Sie verliert Blut und sucht ihren Mann Adan, einen Kleinkriminellen, der wieder einmal nicht nach Hause gekommen ist. Fast zeitgleich verliert Mrs. Whalen ihren Ehemann, der bei einem nächtlichen Raubüberfall in ihrer luxuriösen Strandvilla erschossen wird. Gekonnt verschränkt Cherie Jones diese beiden Erzählstränge, verspinnt aber auch weitere Perspektiven wie Lalas Großmutter, besagten Adan, einen Polizisten, einen Gigolo. So entsteht in der Chronologie der Sommertage sowie zahlreichen Rückblenden, vor allem aber über alle Klassen hinweg ein lebendiges wie eindringliches Panorama der Inselbewohner:innen. Schonungslos, muss man sagen, zieht Jones ihre Leser:innen immer tiefer in eine Spirale brutaler, patriarchaler Gewalt. Allerdings verfällt sie dabei keineswegs in misogyne Muster wie so manch anderer Krimi. Sie zeigt ihre Figuren wohl als verletzliche Opfer, vor allem aber als Frauen beim Versuch, einer alles dominierenden Armut zu entkommen. (Jana Kühn) Leseprobe

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Mohamed Mbougar Sarr: Die geheimste Erinnerung der Menschen

Aus dem Französischen von Holger Fock und Sabine Müller, Hanser Verlag 2022, 448 S., € 27,-

Der junge senegalesische Autor Diégane lebt in Paris, arbeitet an seinem ersten Roman und diskutiert nächtelang leidenschaftlich mit seinen Freunden über Literatur. Als er den Roman von T.C. Elimane, einem gleichfalls senegalesischen Autor aus den dreißiger Jahren, zu lesen bekommt, ist er davon so gebannt, dass er beginnt, Nachforschungen anzustellen. Ein Mythos rankt sich um das Buch, von dem nur noch ein Exemplar existiert. Jeder, der es gelesen hat, ist davon zutiefst berührt. Wer war „der schwarze Rimbaud“, der, nachdem sein Roman zunächst gefeiert und dann von Plagiatsvorwürfen überzogen wurde, spurlos verschwand? Anhand dieser Suche spinnt Sarr ein vielfältiges Geflecht aus facettenreichen mal berührenden, mal verstörenden, bisweilen erotischen oder auch mystischen Stimmen, das nicht nur der Person Elimanes immer näher kommt, sondern virtuos von der Macht des Wortes, dem Bild schwarzer Autoren im europäischen Kontext und der senegalesische Gesellschaft erzählt. Ein fesselndes, elegantes Werk voller Anspielungen und Ironie, das völlig zu Recht den Prix Goncourt 2021 verliehen bekommen hat. (Syme Sigmund) Leseprobe

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Natalie Bayer / Mark Terkessidis (Hg.): Die postkoloniale Stadt lesen

Historische Erkundungen in Friedrichshain-Kreuzberg. Verbrecher Verlag 2022, 352 S., € 20,-

Nicht alle sind über die Spuren des Kolonialismus informiert, gerade nicht über solche, die in den zentralen Bezirken Berlins, Kreuzberg und Friedrichshain, in denen viele von uns wohnen und arbeiten, zu finden sind. In diesem wissenschaftlichen Essayband befassen sich mehrere Autor*innen mit historischen Persönlichkeiten sowie auch mit bestimmten Orten der Hauptstadt, die eine Rolle in der deutschen Kolonialgeschichte gespielt haben und auf die eine oder andere Weise das Stadtbild geprägt haben. Es wird untersucht, wie der Kolonialismus noch in der Gegenwart anwesend ist. Nach dieser Lektüre wird ein Spaziergang am Spreeufer, oder das Betrachten des alten Schildes der ehemaligen Oranien-Apotheke am Oranienplatz anders. Ein spannender, trotz wissenschaftlicher Form zugänglicher Überblick über einen zu oft unbekannten Teil der Geschichte unserer Stadt. (Giulia Silvestri) Leseprobe

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Ann Petry: The Narrows

Aus dem amerikanischen Englisch von Pieke Biermann, Nagel & Kimche 2022, 544 S., € 28,-

Link ist ein junger Mann mit hervorragendem Universitätsabschluss, schön wie ein Adonis, einst Star der Footballmannschaft seines Colleges, brillant und sensibel. Doch in der Kleinstadt in der Nähe von New York Anfang der 1950er Jahre hilft ihm das wenig. Aufgewachsen als schwarzes Adoptivkind in der berüchtigten Gegend am Fluss, den Narrows, bei der ehemaligen Lehrerin Abbie Crunch, die stets Angst hat, etwas „racetypisches“ zu tun, und geprägt von Bill Hod, dem Boss der Unterwelt, der ihn unter seine Fittiche nimmt und ihm Stolz auf seine Herkunft vermittelt, arbeitet er als Barmann in Hod’s Kneipe The Last Chance.
Als Link eines Abends einer jungen weißen Frau begegnet, entwickelt sich eine leidenschaftliche Liebesaffäre zwischen den beiden, bis Link durch Zufall herausfindet, dass sie verheiratet ist, und zwar mit dem reichsten Mann des Städtchens. Von da an nimmt das unausweichliche Verhängnis in einer Melange aus verletztem Stolz, Klassendünkel und rassistischen Vorurteilen seinen Lauf.
Dieser Roman gilt als Petrys Hauptwerk, eine sensibel beobachtete Milieuschilderung, mit einem Panorama an charakterstarken Figuren und kunstvoller Verflechtung der verschiedenen Lebensgeschichten. Der Sound ihrer Sprache ist purer Jazz und die hervorragende Übersetzung von Pieke Biermann überträgt ihn auf beeindruckende Weise ins Deutsche. Fesselnde, ganz große Literatur. (Syme Sigmund)

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Joceline Altevogt, Thomas Delaroziere (Illustr.): Trau dich zu träumnen

Nalingi 2022, 38 S., 23,90 €, ab 5

Das Bilderbuch erzählt die empowernde Geschichte der Fußballerin Eunice Beckmann, die es gegen viele Widerstände geschafft hat, als Schwarzes Mädchen in den Profifußball aufzusteigen. Schon als Kind, damals noch das einzige Mädchen im Verein, tut sie nichts lieber als Fußball zu spielen, mit 16 wird ihr Talent entdeckt und sie startet eine Karriere in vielen, auch internationalen Fußball-Clubs. Das Buch gibt ebenso einen Einblick in den Alltag der Familie – Eunices Eltern stammen aus Ghana – z. B. mit Wörtern in Twi, einer in Ghana gesprochenen Sprache. Ein kurzes Nachwort der Autorin, die mit Eunice Beckmann zur Schule ging sowie zahlreiche persönliche Fotos der Fußballerin runden das tolle Buch ab, indem sie die Geschichte noch einmal mehr in der Realität verankern.

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Farish, Bonny, Daley (Illustr.): Ein Fest für Joseph

Aus dem amerikanischen Englisch von Penelope Dützmann, Orlanda 2022, 32 S., € 18,-, ab 4

Joseph, der zu zweit mit seiner Mutter in einer US-amerikansichen Großstadt lebt, vermisst das gemeinsame Kochen und Essen mit vielen Menschen, so wie er es aus dem großen Lager für Geflüchtete in Ostafrika kennt. Er versucht verschiedene Menschen zu sich nach hause einzuladen, aber leider kommt niemand. Als schließlich doch noch Whoosh und ihre Mama, die schon aus Josephs großer Fahrt bekannt sind, zu Besuch kommen, wird es ein sehr schöner Abend. Das Bilderbuch ist farbenfroh und lebendig illustriert. Ein Glossar erklärt die zahlreichen Begriffe in Luo – einer Sprache aus dem Südsudan/Norduganda, die Josephs Familie spricht.

Blick ins Buch

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P. Amofa-Antwi, E. C. Völker & S. Hödl: Steck mal in meiner Haut!

EMF 2022, 48 S., € 14,-, Grundschulalter

Die  KiKA-Moderatorin Pia Amofa-Antwi und die Journalistin Saskia Hödl haben gemeinsam ein anschauliches Sachbuch mit dem Untertitel Antirassismus, Aufklärung und Empowerment verfasst, das auf jeweils zwei Textebenen verschiedene Szenarien erklärt, in denen alltäglicher wie struktureller Rassismus auftreten können – also Situationen, in denen Menschen aufgrund äußerer Merkmale, ihrer Religion, ihres Namens usw. Diskriminierung erfahren.  Für Kinder werden die Situationen anhand zahlreicher Beispiele beschrieben. Für Eltern und Pädagog:innen finden sich Begleittexte, die aus erwachsener Perspektive die gleichen Aspekte beleuchten und mit praktischen Tipps zum Umgang erweitert sind.

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Gayl Jones: Corregidora

Aus dem Amerikanischen von Pieke Biermann, Kanon 2022, 224 S., € 23,-

Die Vorfahrinnen der Protagonistin Ursa haben eine verheerende endlose Abfolge an rassistischer und sexualisierter Gewalt erlitten als Abhängige eines brutalen Sklavenhalters, der sie missbrauchte, vergewaltigte und ausbeutete. Das Einzige, was den Frauen blieb, war, dass ihre jeweilige Nachfahrin Zeugnis ablegen konnte von dem, was ihnen angetan worden war. Erst Ursa hat die Chance, ein selbstbestimmteres Leben zu führen als Bluessängerin. In ihren Songs singt sie vom Schmerz und der Schwarzen angetanen Gewalt und erfüllt so den Auftrag, das Vermächtnis weiterzugeben. Doch die sozialen und zwischenmenschlichen Verhältnisse lassen sie der Spirale aus Willkür, Rassismus und Sexismus nicht entkommen. Tief eingegraben ist sie in Psyche und Körper. Was für ein Buch! Es berührt, verstört und gräbt sich tief in eine/n ein. Pieke Biermann hat in ihrer grandiosen Neuübersetzung einen eigenen Sound für den Blues des 1975 erstmals erschienenen Originals gefunden. Im Nachwort gibt sie einen Einblick in die Herausforderung, diesen herausragenden Roman über das Erbe der Sklaverei zu übersetzen. Ein gefeierter Meilenstein Schwarzer Literatur ist endlich hierzulande zugänglich. (Stefanie Hetze) Leseprobe und Hintergrundinformationen

Joy Delanane liest aus Corregidora

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Claude McKay: Banana Bottom

Aus dem Amerikanischen von Heddi Feilhauer, ebersbach & simon 2022, 320 S., € 24,-

Bita Plant ist im jamaikanischen Dorf Banana Bottom geboren und aufgewachsen. Nach einer schwierigen Kindheit wird ihr von den Pastoren Malcolm und Priscilla Craig geholfen, nach England auszuwandern, wo sie sieben Jahre lang im Internat ausgebildet wird. Bei ihrer Rückkehr nach Jamaika muss sie feststellen, dass ihr kulturelles Erbe mit der neu erworbenen Lebensweise in Konflikt steht. Dennoch fängt sie an, ihr Heimatland wiederzuentdecken und die Pläne, die ihre Pflegeeltern für sie haben, lösen sich in Luft auf … Humorvoll und scharfsinnig, wird diese charmante Coming-of-Age-Geschichte in einer schönen, sanften Prosa erzählt. Durch intensive Dialoge und empfindsame Beschreibungen der karibischen Landschaften und des Landlebens zeigt der Autor ein zweifelloses Talent, die inneren Mechanismen und die Sehnsüchte der menschlichen Seele zu zeigen. Claude McKays „Banana Bottom“ war ein Vorbild für Zora Neale Hurstons 1937 erschienenen Roman „Vor ihren Augen sahen sie Gott“. Es wurden bisher keine Bücher des Autors ins Deutsche übersetzt. Eine großartige Entdeckung! (Giulia Silvestri)

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Emmanuele Courrèges: Atemberaubende Mode aus Afrika

Aus dem Englischen von Kai Kilian, Gerstenberg 2022, 240 S., € 45,-

Die eine afrikanische Mode gibt es nicht, wie die Autorin betont, sie schreibe auch keine Geschichte der afrikanischen Mode. Stattdessen präsentiert sie den Kosmos der fulminanten vitalen Modeszenen auf dem afrikanischen Kontinent und in der Diaspora. Die jungen Designer:innen, Fotograf:innen und Kreativen besinnen sich auf ihre traditionellen Kulturen und Mythen, zitieren, brechen und dekonstruieren sie, indem sie sie mit modernen Designs und Materialien kombinieren und ursprüngliche Zuschreibungen neu interpretieren. So überschreiten sie die Grenzen der Vorstellung von Geschlecht und Rollen. Das geschieht mit viel Witz, Nonkonformismus und enormem Einfallsreichtum. Egal wie extravagant die Entwürfe, fast immer kommen die reichen handwerklichen Traditionen der Kleiderfertigung zum Einsatz und werden von den Designer:innen bewusst gefördert. Neben den wirklich informativen Texten sind die Fotos unterschiedlichster Fotograf:innen das Herzstück dieses Prachtbandes. Ganz klassische Modefotos in Studios oder auf Laufstegen wechseln mit kunstvoll an Originalschauplätzen in Szene gesetzten Aufnahmen ab und erzählen damit nebenbei von einem sehr diversen heutigen Afrika voll des Selbstbewusstseins. Grandios! (Stefanie Hetze) Blick ins Buch

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