Mirrianne Mahn: Issa

Rowohlt 2024, 304 S., € 24,-

Issa ist verwirrt:  Sie ist schwanger, hin- und hergerissen zwischen Kindsvater („sofort heiraten“), ihrer Mutter („abtreiben“) und eigenen Gefühlen und Plänen. Mehr oder weniger freiwillig lässt sie sich darauf ein, aus der deutschen Großstadt zu ihrer Großmutter und Urgroßmutter nach Kamerun zu fliegen, um dort an traditionellen Ritualen teilzunehmen. Das Haus der Omas, ihre Strenge und Rätselhaftigkeit, ihre Liebe und Klugheit sind ihr aus der Kindheit eng vertraut. Sie kann anfangen zu entspannen, ist sie nicht nur dem Zerren ihrer Engsten entronnen, sondern auch dem deutschen Rassismus. Gleichzeitig eckt sie in der unüberschaubar weit verzweigten afrikanischen Großfamilie mit ihrem „Deutschsein“ an und lässt die Rituale wie etwas Äußerliches über sich ergehen.
Raffiniert erweitert die Autorin den Radius von einer persönlichen Erzählung zu einer Jahrhundertgeschichte von Ausbeutung, Kolonialismus und Sexismus, indem sie parallel die Traumata und Selbstbehauptungskämpfe von Issas Vorfahrinnen in pointierten historischen Kapiteln bis in die Gegenwart nachzeichnet und damit ihren Zwiespalt vom Leben im Dazwischen in einen breiten Kontext stellt. Das passiert alles ganz beiläufig. Eine unbedingte Empfehlung. (Stefanie Hetze)

 

Leseprobe

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Kim Chakanetsa & Mayoba Alawi: Afrika

Kreuz und quer durch einen bunten Kontinent. Aus dem Englischen von Margot Wilhelmi, Gerstenberg 2023, 96 durchgehend farbige S., € 26,-, ab 10 für alle

Edel und geheimnisvoll lockt der schöne Einband, ihn aufzuschlagen. Innen geht es gleich weiter mit grafischen Mustern und Symbolen, einem ausführlichen Inhaltsverzeichnis und grundlegenden Infos, die zu einer Reise durch die Regionen und Länder des vielseitigen Kontinents einladen. In Texten und Bildern werden historische Ereignisse, verschiedenste Kulturen, unterschiedlichste Menschen, Sprachen, Landschaften, Schlüsselfiguren und Vorbilder sowie regionale Besonderheiten spotlightartig vorgestellt. Da kommt ebenso Traditionelles zur Sprache wie die Verwendung modernster Technik. Kinder, Jugendliche und Erwachsene erfahren durch die konzentrierten Texte der simbabwischen Autorin und die coolen Bilder des nigerianischen Illustrators jede Menge Interessantes und Wissenswertes über diesen vielschichtigen vitalen Kontinent. Die Flaggen aller Länder, ein Glossar und Register runden dieses herausragende Sachbuch für die ganze Familie ab. (Stefanie Hetze) Blick ins Buch

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Cal Flyn: Verlassene Orte

Enden und Anfänge in einer menschenleeren Welt. Aus dem Englischen von Milena Adam, Matthes & Seitz 2023, 343 S., € 34,-

Der 100. Band der von Judith Schalansky herausgegebenen Naturkunden ragt selbst unter den Titeln dieser besonderen Reihe heraus. Die preisgekrönte schottische Essayistin vollführt in ihrem Buch einen Spagat, denn sie entdeckt und beschreibt Naturphänomene, die es nach menschlichem Ermessen eigentlich nicht geben dürfte. Ihr Interesse gilt Orten und Landstrichen, die schwer durch Klimakrisen, Kriege und Katastrophen kontaminiert und eigentlich unbewohnbar sind. Meist mussten die Menschen sie von einem Moment auf den anderen räumen und ihre Häuser samt Inventar sich selbst überlassen. Leer und verfallen begannen diese zerstörten Landschaften und Gebäude ein neues Eigenleben, siedelten sich allmählich Gräser, Bäume, Wälder zwischen aufbrechendem Asbest und Beton an, kamen zuhauf Tiere in die menschenfreien Zonen. Ein Paradox entsteht weltweit in diesen verlassenen Gegenden, eine neue resiliente Artenvielfalt, die, so scheint es, mit Verseuchtem besser klarkommt als mit der menschlichen Existenz. Die auf ihren Erkundungsreisen beobachteten gleichzeitig faszinierenden wie irritierenden Vorkommnisse brechen herkömmliche Gedankenraster auf. Was für eine außergewöhnliche Reise! (Stefanie Hetze) Blick ins Buch

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Deniz Utlu: Vaters Meer

Suhrkamp Verlag 2023, 384 S., € 25,-

Yunus ist 13, als sein Vater fällt, zwei Schlaganfälle erleidet und von nun an im Locked-in-Syndrom gefangenen ist, nur noch mit den Augen kommunizierend. Als junger Erwachsener versucht Yunus sich ein Bild des Anwesend-Abwesenden zu machen.
In Zeitsprüngen, die von der Kindheit des Vaters bis in die Gegenwart mäandern, erzählt er von einem „Berg von einem Mann“, der ihm die Welt erklärte, herzlich lachen, heftig fluchen und wunderbar kochen konnte. Aufgewachsen in der südostanatolischen Stadt Mardin, ging er zum Studium nach Istanbul und später nach Hannover, wo er schließlich Ingenieur wurde. Ein junger, lebenshungriger, leidenschaftlicher aber auch zutiefst einsamer Mann. Doch er erzählt auch von seiner Mutter, die für diesen Mann eine Universitätslaufbahn als Biologin aufgab, und von sich selbst, der Haltlosigkeit des vaterlosen Jugendlichen und seiner Suche nach dem Wesentlichen zwischen den greifbaren Dingen.
Deniz Utlu geht von Autobiografischem aus, Vaters Meer ist aber kein autobiographischer Roman. Der Autor suchte nach dem „Raum, der zwischen Erinnertem und Imaginiertem“ besteht und hat uns einen beglückend poetischen, vielschichtigen und feinsinnig-sensiblen Text geschenkt. (Syme Sigmund) Leseprobe

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Toni Morrison: Rezitativ

Mit einem Nachwort von Zadie Smith. Aus dem Amerikanischen von Tanja Handels, Rowohlt 2023, 96 S., € 20,-

Dieses schmale Buch hat es in sich! Dabei ist die Handlung relativ unspektakulär. Zwei Mädchen in einem Kinderheim werden zu unzertrennlichen Komplizinnen, trotzen gemeinsam den dortigen Zumutungen und der Trennung von ihren Müttern.  Als sich ihre Wege trennen, verlieren die einstigen Gefährtinnen einander aus den Augen. Bei zufälligen Begegnungen als Erwachsene können sie nicht an ihre Vergangenheit anknüpfen, sind sie einander mehr als fremd. Das Außergewöhnliche an dieser einzigen Erzählung Toni Morrisons ist, dass die Autorin schon auf der ersten Seite klarstellt, dass beide Mädchen eine unterschiedliche Hautfarbe haben, nur verrät sie nicht, wer von den beiden schwarz oder weiß ist. Das erzeugt bei der Lektüre große Irritationen, ertappt man sich immer wieder, dies an bestimmten Details herausfinden zu können. Aber warum eigentlich? Dieses geniale Spiel mit den Fallen und Klischees von Wahrnehmung tariert die Nobelpreisträgerin meisterlich aus. Sie hat diese geniale  Erzählung bereits 1983 veröffentlicht. Vierzig Jahre später können wir sie nun endlich auf Deutsch lesen, angereichert durch Zadie Smiths erhellendes Nachwort. (Stefanie Hetze)  Leseprobe

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Natascha Berger, Anna Taube (Illustr.): Astronautenkinder

arsEdition 2022, 48 S., € 16,-, ab 4

Astronautin Mira wünscht sich Kontakt zu anderen Kindern – wer spricht ihre Sprache? Astronaut Tim mag es nicht, wenn alles durcheinander ist und ordnet jeden Tag aufs Neue seine Planeten. Astronautin Zara kann manchmal ihre Rakete nicht steuern und ihr Abwehrsystem feuert in alle Richtungen. Diese und andere Astronautenkinder stellt das großformatige und bildstark, wie einfühlsam illustrierte Buch vor. Seine Macherinnen greifen darin sehr wahrscheinlich die Vorstellung auf, dass neurodiverse Menschen „in ihrer ganz eigenen Welt leben“ und gestalten daraus ein Weltall, in dem die „Astonautenkinder“ unterwegs sind und einander begegnen. Über die Bezeichnung lässt sich bestimmt diskutieren, wiederum gibt es kein anderes Buch, das in dieser Bandbreite, empowernd und informativ von Neurodiversität erzählt.

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Annie Barrows, Leo Espinosa (Illustr.): Zum Glück bist du kein Pilz

Aus dem Englischen von Petra Buck, Klett Kinderbuch 2023, 32 S., € 16,-, ab 4

Alles beginnt mit einer Tomatendose. Wir Menschen sind nämlich kein bisschen wie eine Tomatendose, erklärt gleich zu Beginn das Kind, das uns sehr schlau durch dieses Bilderbuch begleitet. Es folgen zahlreiche, auf den ersten Blick ebenso absurd anmutende Vergleiche mit einem Schwimmbad, einer Hyäne und dem titelgebenden Pilz. Schritt für Schritt führt das alles zur Erkenntnis, dass wir Menschen uns alle miteinander sehr ähnlich sind und viel mehr Gemeinsamkeiten als Unterschiede haben. Die ein wenig an Altmeister Miroslav Šašek erinnernden Illustrationen machen großen Spaß und begleiten die Fragen und Erkenntnisse nach dem Menschsein ausgesprochen fröhlich.

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Noa Lovis Pfeiffer, Lätitia Linu & Yayo Kawamura (Illustr.): Untenrum

Beltz & Gelberg 2023, 32 S., € 16,-, ab 4

Lo hat da in der Kita etwas aufgeschnappt: „Papa, was bedeutet Untenrum?“ Ganz genau will es das Kind wissen und gemeinsam finden sie viele lustige Untenrum-Wörter wie Schniedel, Schneckchen oder Mutzel. Wunderbar beiläufig kommt Mama (von der Arbeit) nach Hause, wo Papa gerade die Wäsche aufhängt und bringt sich mit neuen Ideen in die Untenrum-Wörter-Suche ein. (Wort)Spielerisch, dennoch sachlich genau und kindgerecht werden Körper, Genitalien und Geschlechter genauer vorgestellt und auch Inter- und Transszenarien mitgedacht. Lo und sein Geschwisterkind Mika sind in der Bild- und Textebene genderneutral beschrieben. Empowernd für Kinder, den eigenen Körper neugierig und selbstbestimmt kennen zu lernen – ein richtig großer Wurf!

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Maria Bakhareva, Anna Desnitskaya (Illustr.): Märkte in aller Welt

Aus dem Russischen von Thomas Weiler, Gerstenberg 2023, 80 S., € 26,-, ab 8

In Zeiten gigantischer Supermärkte und Lieferservices nach Hause sind Orte, an denen Menschen sich treffen, um Lebensmittel direkt zu verkaufen und einzukaufen, für Kinder oft Terra incognita. Dieses großformatige wimmelige Sachbilderbuch, das neben zwei Märkten in Hamburg und München, berühmte Märkte, Basare und Hallen aus verschiedenen Ländern und Kontinenten vorstellt, lädt Kinder und Erwachsene ein, sich mit allen Sinnen in das vielfältige Marktgeschehen zu stürzen. Jede Menge Lebensmittel gibt es zu entdecken, Rezepte regen zum Kochen und Ausprobieren neuer Gerichte und Gaumenfreuden ein. Ein paar Begriffe in den verschiedenen Sprachen lassen sich lernen, Preise für Obst, Snacks usw. einordnen, die verschiedensten Einkaufsgewohnheiten anschauen – kurzum ein pralles tolles Buch, in dem es viel zu entdecken gibt und Lust macht, selbst einmal einen Wochenmarkt zu besuchen und / oder in der Gruppe sich über die Märkte, die die Kinder kennen, auszutauschen. Blick ins Buch

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Chantal-Fleur Sandjon: Die Sonne so strahlend und Schwarz

Thienemann 2023, 384 S., € 17,-, ab 14 für alle

Eigentlich ist die 17-jährige Schwarze Berlinerin Nova hart trainierende Rollschuhläuferin, doch hat ihr misshandelnder Stiefvater ihr einen Arm gebrochen und ihr nicht nur den Sport unmöglich gemacht. Doch jetzt startet eine neue Zeit. Zusammen mit ihrer Mutter und ihrem jüngeren Halbbruder kann sie nach häuslicher Gewalt und Frauenhaus in einer neuen Wohnung endlich zur Ruhe kommen, traut sie sich sogar hinaus in den neuen Kiez, lernt den queeren Felix* kennen und verliebt sich blitzartig in die schwarz leuchtende Akoua. Eine aufregende lesbische Coming-of-Age-Geschichte beginnt mit vielen Up’s und Downs, nicht nur in der Beziehung der beiden jungen Frauen. Rassismus und Sexismus sind leider omnipräsent. Doch so viel sei verraten, ihre Liebe, ihre Ressourcen und ihre Community sind stark. Das alles wäre schon genug für einen fantastischen empowernden Roman, doch hat Chantal-Fleur Sandhon durch die Form, die sie gewählt únd bravourös ausgeführt hat, eine wirkliche Perle geschaffen. Nova erzählt ihre Geschichte in Versen, die sich vortasten, tänzeln, kreisen, vibrieren, anhalten, Luftsprünge machen. Das ist atemberaubend zu lesen und auch optisch ein Genuss. (Stefanie Hetze) Blick ins Buch

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