Ulli Lust: Die Frau als Mensch

Reprodukt 2025, 256 Seiten, 29 Euro

Als die junge Protagonistin Ulli in den 1970er Jahren ihrer Mutter beim Putzen einer österreichischen Dorfkirche hilft, entdeckt sie eine Statue im hinteren Kirchenschiff: Maria, die den Teufel besiegt. Sie ahnt hier schon, was sich auf ihrem späteren Weg bestätigen wird: Nicht nur in der Ausstattung dieser Kirche, in der gesamten Kunstgeschichte ist sie ist eine Frau unter vielen, sehr vielen Männern. Das gilt für Maria, wie auch für die Autorin selbst. 45 Jahre später kehrt die mittlerweile etablierte Dokumentarzeichnerin Ulli Lust in jene Kirche zurück und macht sich von dort aus auf den Weg, diese immer noch unerzählte Geschichte „Der Frau als Mensch“ grafisch freizulegen. Sie beginnt mit einer Führung durch die von Forschung jahrtausendelang ignorierten und missinterpretierten prähistorischen Figurinen. Hier ist die graphic novel gleichermaßen Museum wie kunsthistorisch-anthropologischer Meilenstein, dem ich Standardwerkstatus wünsche. Die Geschichte der Marginalisierung endet bei Ulli Lust jedoch nicht mit der fehlenden weiblichen Perspektive in Forschung, Literatur und Kunstgeschichte. Sie folgt den Linien der Unterdrückung über den afrikanischen Kontinent, von den Anfängen der Hominiden bis zur systematischen und ökonomischen Ausbeutung indigener Kulturen und ihrer angestammten Territorien. Ein Museumsbesuch der besonderen Art – reingehen! (Kerstin Follenius)

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Eva Strasser: Wildhof

Wagenbach 2025, 208 Seiten, 22 Euro

„Irgendwann war doch mal alles gut, in irgendeiner versteckten Ecke der Vergangenheit hat es doch verdammt noch mal gefunkelt.“
Lina, fast 30, kommt nach Wildhof zurück, um die bei einem Verkehrsunfall verstorbenen Eltern zu beerdigen und deren Haus am Fluss zu verkaufen. Ein trauriger Anlass, ein trauriges Haus, ein verwilderter Garten, viel Natur und viele Erinnerungen. Lina will nichts davon, aber die Natur ist mächtig und vertraut und die Erinnerungen sind schön.
Rotzig und seltsam somnambul bewegt sich Lina durch diese Gemengelage, tut, was zu tun ist, trifft auf alte Freund*innen, das ist gut. Und sie sieht sich mit seltsamen Dingen konfrontiert: die Kuckuckuhr – nicht aufgezogen – schlägt, ein moosbewachsener alter Fußball liegt wie neu im Garten, immer wieder sieht sie eine prächtige Rehkönigin im Wald und immer und immer wieder hört sie das Lachen von Luise, ihrer Zwillingsschwester, die verschwand als beide fast 13 waren und die ihr, wie Lina jetzt versteht, eine Botschaft hinterlassen hat.
Ein Buch, das davon erzählt, dass fast immer alles möglich ist. Es zu lesen ist wie ein rauschhaftes langes bittersüßes Fest. (Katharina Bischoff)

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Christine Wunnicke: Wachs

Berenberg, 2025, 176 Seiten, 24 Euro

Was für ein grandioser Einstieg: eine kleine verhüllte Gestalt verschafft sich im Dunkeln Eintritt in die Kaserne der Schwarzen Musketiere. Ständig betend, zaghaft und gleichzeitig klar entschlossen arbeitet sie sich vor, bis sie einem Offizier ihr Begehren vortragen kann. Sie, die sich als Tochter einer Apothekerfamilie vorstellt, möchte eine Leiche kaufen!
Mit dieser filmreifen Szene eröffnet Christine Wunnicke ihren rasanten biografischen Roman über das Leben und die Liebe zweier französischer Doppelbegabungen aus dem 18. Jahrhundert, der Anatomin und Wachsbildnerin Marie Biheron und ihrer Freundin, der Künstlerin und Botanikerin Madeleine Basseporte. Beide wirkten bahnbrechend in ihren Metiers, Madeleine wurde im Jardin du Roi als Pflanzenmalerin festangestellt, Maries naturgetreue anatomische Wachsmodelle reüssierten in den Welten der Wissenschaften und König*innen kauften beider Werke. Beide waren äußerst eigensinnig und eigenständig, ineinander verliebt und dies in den vor- und revolutionären Wirren. Hinreißend, wie die Autorin mit diesen Komponenten spielt und leichtfüßig, in knappen schnellen Sätzen, mit skurrilen Details, voll der Erotik, mit pointiert gesetzten altertümlichen Begriffen, einen sprühenden queeren Roman geschaffen hat. (Stefanie Hetze)

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Fabian Saul: Die Trauer der Tangente


Matthes & Seitz 2024, 320 Seiten, 26 Euro

Die Trauer der Tangente ist das vielleicht dichteste, das mit Sicherheit berührendste Buch, das ich seit langem gelesen habe. Über zehn Jahre hat Fabian Saul Gedanken, Begegnungen, Zitate, Erlebnisse und Orte sedimentieren lassen, bis sie – so scheint es wenigstens – von selbst ihre Geschichte, ihren erzählerischen Verlauf gefunden haben. Es geht darin um Freundschaft, um Liebe, um Abschiede, um das Eigene im Anderen. In kurzen Erzählfragmenten erschließt sich im Lesen ein immer enger geknüpftes Netz aus Orten und namenlos bleibenden Menschen, die ihre Identität erst langsam durch sich wiederholende Wendungen und Zuschreibung erhalten, die dem Buch einen fast musikalischen Duktus verleihen. „Trocadéro hast Du gesagt…“ ist so eine dieser poetischen Chiffren, die ganz langsam die Stadt Paris als Ort einer Begegnung, als koloniale Kulisse, als einen Kindheitsraum definieren. Sauls Erzählen bleibt immer flüchtig und vorläufig, gräbt sich als literarisches Bild umso tiefer und dauerhafter ein, auch wenn das Buch schon lange beiseite gelegt ist. Die titelgebende Tangente ist es, über die Fabian Saul sicher durch dieses vielschichtige Universum führt, punktuelle Berührungen von einer solchen Intensität erzeugt, das man mit vollem Herzen wieder an das Erzählen glauben mag.
(Kerstin Follenius)

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Thomas Korsgaard: Hof / Stadt

Übersetzt aus dem Dänischen von Justus Carl und Kerstin Schöps
Kanon, 2024/2025, jeweils ca. 280 Seiten, 25 Euro

„Hof“ und „Stadt“ sind die ersten zwei Teile einer Romantrilogie des jungen Autors Thomas Korsgaard, der in Dänemark als literarisches Wunderkind gilt.
Im Zentrum der Erzählung steht Tue, zu Beginn 12 Jahre alt, der in sehr prekären Verhältnissen auf einem heruntergewirtschafteten Bauernhof in Dänemark lebt. Die Mutter hat nach einer Totgeburt eine schwere Depression, der Vater ist glücklos, launisch, manchmal brutal. Es wird wenig gesprochen in der Familie und noch weniger zugehört. Das Haus ist dreckig, die Gegend karg und auch die Schule ist kein guter Ort. In diesem sehr trostlosen Setting versucht Tue sich durchzuschlagen, manchmal ebenso glücklos, launisch und brutal wie der Vater, manchmal fast schlafwandlerisch und im Verlauf der Geschichte zunehmend selbstbewusst in seiner Andersartigkeit. Korsgaard schenkt den Protagonist*innen und den Leser*innen nichts, nur manchmal scheint eine große Zartheit durch und gibt es kleine Momente der Hoffnung. Tue wird es schaffen.
Im Herbst erscheint Teil 3: „Paradies“. (Katharina Bischoff)

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Ulrike Draesner: zu lieben

Penguin, 345 Seiten, 24 Euro

Ein nicht mehr ganz junges Paar wünscht sich ein Kind. Der Wunsch ist und wird nach mehreren Fehlgeburten so dringend, dass aufgrund des fortgeschrittenen Alters nur noch eine Auslandsadoption bleibt. Nach einem mehrjährigen Behördenlauf bringt das Paar ein dreijähriges Kind von Colombo nach Berlin. Ulrike Draesner assoziiert sich ausgesprochen freimütig, mal humorvoll, mal aufwühlend durch den Kosmos ihrer eigenen Familiengeschichte – einer Familienfindung, der vielschichtigen Suche nach Elternschaft, die auch den Verlust des (Eltern)Paares bedeutet. Dabei folgt sie durchaus einer Chronologie der Geschehnisse, öffnet jedoch in Rückblenden, Ausblicken oder Exkursen immer wieder Tür und Tor zu gesellschaftspolitisch relevanten Fragen, so etwa was es bedeutet, als weiße Familie ein Schwarzes Kind zu adoptieren. “zu lieben” ist kein Roman im eigentlichen Sinne. Ulrike Draesner unterstreicht dies selbst, indem schon auf dem Buchcover das beigestellte Roman nur noch durchgestrichen zu lesen ist. Streichungen dieser Art finden sich zahlreich, als ob die Autorin Einblick gewährt, nicht nur in ihr Leben, sondern auch in ihren Schreibprozess. Schon einige Zeit lag dieses Buch bei mir. Sein Thema und seine ersten Seiten hatten mich so sehr dafür eingenommen, dass ich mir seine Lektüre für die freien Tage zwischen den Jahren aufhob. Es hat sich sehr gelohnt! (Jana Kühn)

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Ann Petry: Miss Muriel

Aus dem Amerikanischen von Pieke Biermann, Nagel & Kimche 2024, 352 Seiten, 24 Euro

Ann Petrys wirklich beeindruckendes Buch beginnt mit drei langen Erzählungen aus dem Kosmos einer Schwarzen amerikanischen Apothekerfamilie, die als einzige Schwarze in einer von Weißen bewohnten Kleinstadt lebt und aus Selbstschutz klare Grenzen ziehen muss. So registriert die zwölfjährige Protagonistin der ersten Story sehr genau, wie heikel die Trennlinie zwischen dem Dienst an der Kundschaft und dem Schutz der familiären Privatsphäre ist, die jederzeit durch rassistische Übergriffe gefährdet ist. Während die Apothekerfamilie ihren Drugstore als Bollwerk einzusetzen versucht, hat der Rassismus außerhalb, an anderen Orten und in anderen Konstellationen wie ein Gift die nordamerikanische Gesellschaft zersetzt. Punktgenau und in einer glasklaren Sprache erzählt Petry, wie sehr unterschiedliche Menschen davon betroffen sind und wie sie sich dagegen wehren. Das macht wütend und berührt zutiefst. Schon 1971 erschienen, sind die Erzählungen nun nach über einem halben Jahrhundert endlich auf Deutsch erschienen. Von Pieke Biermann blendend übersetzt, sind sie brennend aktuell. (Stefanie Hetze)

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Jörg Sundermeier, Katrin Funcke: Eine verbogene Geschichte.

bahoe books 2024, 56 Seiten, 22 Euro, ab 5

Wo ist diese Wiese auf der sich blaue Kröten Pullover stricken und dabei, ganz aus Versehen  – nein, eher ganz aus Langeweile – die schönsten Geschichten von Freundschaft, Sehnsucht und Mut erzählen? Jörg Sundermeier und Katrin Funke haben sie entdeckt und lassen uns teilnehmen an den Abenteuern dieser zufällig beieinander Gestrandeten: Der Maulwurf Rüffeldirk und die Maus Mattjöh suchen ganz Unterschiedliches und finden die verbogensten, gemeinsamen Wege um beisammen zu bleiben und anderen zu begegnen. Manche sehr kluge Anspielung hängt vielleicht für Kinder noch ein Stückchen zu hoch – die Suche des Zitronenfalters Büzanz nach seinen Ursprüngen und dessen Alpenüberquerung beispielsweise – kann da aber auch getrost hängen bleiben, ohne die Geschichte zu irritieren. Anderes ist dafür so hochphilosophisch auf Kinderaugenhöhe, dass man liebend gerne den Einschlafgesprächen nach dem abendlichen Vorlesen lauschen möchte, die diese Geschichte in Gang bringen mag. Wenn Jörg Sundermeier den Dreh gefunden hat, das Beste der Fabel in unsere Zeit zu retten, dann weiß Katja Funke genau welchen Bildrhythmus es braucht um dieser Erzählung eine ganz tiefe Ressonanz zu verleihen – ihre Gebirgsbilder sind eine Reise für sich. Eine wunderbar verbogene Hommage an das Erzählen in Bildern und Worten!
Für unbedingt alle ab 5 Jahren. (Kerstin Follenius)

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Sy Montgomery: Das Geschenk des Kolibris


Übersetzt aus dem amerikanischen Englisch von Stefanie Schäfer
Diogenes, 2024, 128 Seiten, 18 Euro

Der Kolibri ist ein Vogel der Superlative – es ist der einzige Vogel, der schweben kann, er ist im Vergleich zu seinem Körpergewicht am schnellsten und im Verhältnis zu seiner Grösse der am weitesten ziehende Zugvogel. Er ist unvergleichlich zart, unfassbar hungrig, unglaublich kampfbereit. Brenda, erfahrene Vogelretterin, nimmt sich (mal wieder) zweier verlassener Kolibriküken an, wenige Tage alt und nicht größer als Hummeln. Sy Montgomery, Naturforscherin und Schriftstellerin, wird eingeladen, zu helfen. Und darüber schreibt sie. Von dem Brutkasten, in dem die Vogelgeschwisterchen leben, von der mühseligen Fütterungsprozedur, von der Artenbestimmung nach einigen Tagen, von den ersten Flugversuchen und schließlich der Freilassung.
Der leichte, soghafte und poetische Text zeugt von einer wunderbaren Beobachtungsgabe, es gelingt der Autorin, die Leser*innen ganz nah an den Brutkasten und später in den schönen, bestäuberfreundlich angelegten Garten mitzunehmen, in dem die Kolibris ihre ersten Flugversuche machen. Die Aufregung wird fast körperlich spürbar, wenn Maya das erste Mal den schützenden Käfig verlässt und dann stundenlang nicht mehr gesehen wird oder wenn Zuni sich kurz darauf den Flügel verdreht. Aber alles geht gut aus. Die beiden ziehen bald gen Mexiko. In zauberhaften Beschreibungen vermittelt Sy Montgomery viel Interessantes und Wissenswertes über Kolibris, zum Beispiel, dass sie im Ruhezustand 250 Mal pro Minute atmen und ihr Herz im gleichen Zeitraum 500 Mal schlägt. Oder dass der leichteste Kolibri keine 2 Gramm, der schwerste gerade mal 24 Gramm wiegt. Oder dass die Atzteken glaubten, Kolibris seien wiedergeborene Krieger. Es macht große Freude, dieses Buch zu lesen. (Katharina Bischoff)

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Dolores Prato: Unten auf der Piazza

Mit einem Nachwort von Esther Kinsky. Aus dem Italienischen von Anna Leube, Hanser 2024, 976 Seiten, 38 Euro

Was für ein herausforderndes, jeglichen Rahmen sprengendes und dabei unaufgeregtes, stilles Buch! Lebenserfahren, im hohen Alter, schaut die Autorin, immer eine Außenseiterin, auf ihre Kindheit im ausklingenden 19. Jahrhundert in einer kleinen Stadt auf einem Bergspitz in den italienischen Marken zurück. Es ist eine Kindheit ohne familiäre Geborgenheit, voller Scham und Ausgrenzung. Unehelich geboren, wurde sie von ihrer adeligen Mutter zu entfernten Verwandten, einem alten Priester und dessen Schwester gegeben. Überfordert zog sich die Tante, die ein unergründliches Geheimnis umgab, in ihre Lektüren zurück, während der Onkel, ein vielfältig begabter Menschenfreund, ihr die Sphäre der Dinge, des Wissens und der Worte eröffnete. Nur durch Beobachten erschließt sich das sensible Mädchen ihre Umgebung, was Dolores Prato mit ihrem großen Roman nachvollzieht. Detailliert und in einer unendlich reichen Sprache, die Anna Leube phantastisch im Deutschen abbildet, verleibt sich Prato diese vergangene Welt voller verschwundener Rituale, Phänomene und Tätigkeiten ein und dreht ihre Position als Ausgestoßene um. Wer sich auf dieses im besten Sinne altmodische Leseabenteuer einlässt, kann nur staunen und sich berühren lassen. (Stefanie Hetze)

Das bestelle ich!