Francesca Melandri: Kalte Füße


Übersetzt von Esther Hansen, Verlag Klaus Wagenbach 2024, 279 Seiten, 24 Euro

Einen knapp 300 Seiten langen Brief hat Francesca Melandri an ihren schon lange verstorbenen Vater geschrieben und diesem Brief den Titel Kalte Füße gegeben. Darin setzt sie sich mit ihrer eigenen Familiengeschichte und Familienerzählung auseinander und verknüpft diese mit Zeitgeschichte und gesellschaftlicher Erzählung. Vornehmlich geht es um Krieg: „Ich muss herausfinden, was Krieg ist, Papa. Deshalb brauche ich deine Hilfe“.
Der Vater hat im 2. Weltkrieg gekämpft, auf der „falschen Seite“, auf Seiten der italienischen Faschisten und war Teil der Ritirate di Russia, des verlustreichen Rückzugs aus Russland, der in Italien als Opfergeschichte erzählt wird. Erst in der Auseinandersetzung mit dem völkerrechtswidrigen Angriffskrieg Russlands auf die Ukraine wird Melandri klar, dass „dein Russlandkrieg, ja größtenteils ein Ukrainekrieg war“. Diese Erkenntnis nimmt sie zum Anlass, genauer hinzuschauen. Schonungslos und ehrlich analysiert die Autorin sowohl den einen, familiengeschichtlichen, als auch den anderen, den gesellschaftspolitischen, Erzählstrang. Sie schreibt über russischen Kolonialismus und die Ignoranz des friedensverwöhnten Westeuropas, über unsere Mitschuld am Versuch der Auslöschung z.B. der ukrainischen Identität durch genau diese Ignoranz. Sie schreibt über das Privileg, sich als Pazifist*in zu sehen, und über den großen Wert von Freiheit. Sie erspart dem Vater nichts und führt doch ein liebevolles Zwiegespräch.
Mit großer, poetischer Notwendigkeit geschrieben. Mindblowing. (Katharina Bischoff)

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Igiaba Scego: Kassandra in Mogadischu


Übersetzt von Verena von Koskull, S. Fischer 2024, 400 Seiten, 26 Euro

Kassandra in Mogadischu ist Igiaba Scegos erster, ins Deutsche übertragener Roman und zeigt uns nach dem kleinen Erzählband Dismatria die ganze Breite dieser virtuosen Erzählerin. Die politische und sehr persönliche Geographie einer Familie wagt große Bögen und webt Familien-, Kolonial- und Zeitgeschichte ineinander: Der Staatsstreich Siad Barres, die Flucht der Eltern und das Zerreißen der Familie, der Ausbruch des somalischen Bürgerkrieges, eine afro-italienische Kindheit und Jugend in einer Gesellschaft, die ihr koloniales Erbe ignoriert – eine Kassandra weit vor den Toren Mogadischus zur Passivität verdammt? Mitnichten. Diese Kassandra tritt dem Jirro, der diasporischen Krankheit von Krieg und Entwurzelung, entgegen und zieht quer durch die Sprachen, schafft Geschichte indem sie – gegen alle Widerstände – entschieden ihre Worte sucht und erzählt. Hier wird ganz deutlich: Postkoloniale Sprache und postkoloniales Sprechen sind grundverschiedene Dinge, ineinander verdreht und verwirkt. Letzteres werde ich, als weiße Deutsche in Deutschland, in seiner Komplexität nie emotional dechiffrieren, nie fühlen können, für ersteres bietet mir Scegos Kassandra einen Raum an, in dem sich mein Zuhören, mein Einfühlen schärft, Ambivalenzen spürbar werden. Kraftvoll, liebevoll, politisch unsagbar wichtig – unbedingt lesen! (Kerstin Follenius)

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Maike Albath: Bitteres Blau

Berenberg 2024, 352 Seiten, 26 Euro

Über kaum eine italienische Stadt kursieren derartig hartnäckige Vorurteile wie über Neapel. Selbst Roberto Savianos bahnbrechende Offenlegung der Machenschaften der Camorra reduzierte Neapel in der Wahrnehmung einer breiten Öffentlichkeit auf einen Ort gnadenloser Gewalt. Später rückte Elena Ferrantes Freundinnen-Megabestseller die Stadt in den Aufmerksamkeitsfokus. Doch es gab seit jeher viel mehr. Die unterschiedlichsten Literat:innen schrieben mit Leidenschaft über ihre Stadt, Filme entstanden, sozialpolitische Initiativen engagierten sich. Diesem Reichtum ist Meike Albath nachgegangen: Auf Spaziergängen und Fahrten, mit Gesprächen, Interviews und ausgiebigen Lektüren ergründete sie die Reize und Widersprüche dieser faszinierenden Metropole. Tief taucht sie ein in ihre paradoxe/n Geschichte/n und Persönlichkeiten. Großartig, wie die Autorin dabei ihr profundes Wissen mit Beobachtungen aus dem städtischen Alltag kombiniert und uns einlädt an diesen besonderen Ort! (Stefanie Hetze)

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Zora Del Buono: Seinetwegen

C.H.Beck, 2024, 201 Seiten, 23 Euro.

Zora del Buono ist acht Monate alt, als ihr Vater bei einem unverschuldeten Autounfall stirbt. Sie kennt die groben Umstände des Unfalls: ein missglücktes Überholmanöver, ein roter Chevrolet, die Initialien des Unfallverursachers. 60 Jahre später plötzlich der Wunsch, diesen E.T., den Töter des Vaters, zu finden. Seinetwegen ist das Protokoll einer Recherche. Durch Zeitungsartikel, Gerichtsurteile, Gespräche mit Zeitzeug*innen nähert sich die Autorin dem damaligen Unfallhergang und damit auch dem Töter an, der plötzlich einen richtigen Namen hat, ein Leben und eine Geschichte. Gleichzeitig reflektiert Zora del Buono ein von Verlust geprägtes Leben (nicht das Fehlen des Vaters ist schmerzhaft, die tiefe Trauer der Mutter ist es), lässt uns teilhaben an Beobachtungen, Erinnerungen, Begegnungen, stellt Listen auf (von Menschen, die bei Autounfällen starben, von bekannten Eigenschaften des Vaters, von Fakten über den Töter, von den eigenen Deformationen) und hadert mit den ungestellten Fragen an die Mutter – in einer Sprache, die nicht nüchtern ist, aber sehr klar, kein bisschen sentimental, aber berührend. Seinetwegen ist die unbedingt lesenswerte Autofiktion einer Menschenfreundin. Ehrlich – wie es scheint, zärtlich, manchmal schonungslos, oft humorvoll, immer klug. (Katharina Bischoff)

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Ruth Maria Thomas: Die schönste Version

S.Fischer 2024, 272 Seiten, 24 Euro.

Jella und Yannick. Leidenschaftlich. Voneinander überrascht. Verliebt. Am Anfang ihres Lebens. Ein Paar wie es so viele gibt. Bis ein Beziehungsstreit eskaliert, es fallen heftige Worte auf beiden Seiten und mit einem Mal ist alles anders als zuvor. Seine Hände schließen sich um ihren Hals und sie rettet sich in letzter Minute. Was der jungen Protagonistin Jella passiert ist etwas Normales. Häusliche Gewalt gegen Frauen ist kein Phänomen vom Rand sondern sie geschieht. Ruth Maria Thomas nimmt sich dieses Themas an und wagt das Spagat, eine solch wichtige Geschichte zu erzählen, ohne sie zu reduzieren auf Fragen der Täter- oder Opferschaft. In die Wohnung des überforderten Vaters zurückgekehrt, folgen wir der Protagonistin auf ihrer Suche nach all den kleinen Kompromissen und übergangenen Zweifeln, die sie an diese Stelle führten. Welchen Preis hat sie gezahlt, um den begehrtesten Jungen im Dorf zu daten? Wie leicht war es, die beste Jugendfreundin in der Lausitz zurückzulassen, weil deren Lipgloss und T-Shirts durch die Augen der neuen Studienfreunde sonderbar aussahen? Eine Coming of Age Geschichte der späten Nullerjahre. Kompromisslos erzählt. Nicht aus der Hand zu legen. (Kerstin Follenius)

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David Wagner: Verkin

Rowohlt 2024, 400 Seiten, 22 Euro

In seinem Prolog teasert der Autor bereits kräftig an mit Ingredienzien wie Gartenparty, weißhaariger Armenierin im metallisch glänzenden Paillettenkleid, einer geschmuggelten weißen Van-Katze mit blauem und braunem Auge sowie mit Anspielungen auf „seltsame“ Reisen durch Istanbul, die Türkei und das Leben der besagten Verkin. Sogleich startet das erzählerische Feuerwerk, spielt David Wagner mit Fakten und Fiktion rund um ihr schillerndes Leben: Verkin, aus der wohlhabenden Oberschicht stammend, die schon als Jugendliche im Orientexpress zwischen ihren Schweizer Internaten und Istanbul unzählige Liebschaften anfing, X Mal verheiratet war, X Sprachen spricht, X wichtige Menschen kennt und als verfolgte Armenierin gleichzeitig AKP-Lokalpolitikerin ist.. . Oder ist doch alles erfunden? Eigentlich wollte sein Alter Ego, der Ich-Erzähler David, ein Buch über türkische Shopping Malls schreiben, aber bereits ein erster Besuch in ihrem sagenhaften Haus am Bosporus, eigentlich nur zur Übergabe deutscher Wurstwaren für ihren Katzenschmuggel bestimmt, treibt ihn in ihre Umlaufbahn. Immer wieder begleitet er sie als Teil ihrer Entourage in Istanbul und der Türkei und befragt sie über ihr Leben. Und sie erzählt freimütig, spottet über seine Begriffsstutzigkeit und setzt immer wieder eins drauf auf ihre phantastischen Geschichten, worauf der Erzähler weiter nachhakt. Es ist ungemein vergnüglich, dieser eigensinnigen kosmopolitischen Scheherazade zu lauschen! (Stefanie Hetze)

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Elsa Morante: La Storia

Aus dem Italienischen von Maja Pflug und Klaudia Ruschkowski, Wagenbach 2024, 768 Seiten, 38 Euro.

Es ist eine unglaubliche Leseerfahrung, aufwühlend und beglückend zugleich, sich auf Elsa Morantes großen Roman La Storia einzulassen. Nicht nur erzählt sie von der zart-unbedarften Ida, die als Halbjüdin jung verwitwet, im faschistischen Rom der Vierzigerjahre  ganz allein auf sich gestellt ihren großspurigen Sohn Nino sowie ihr winziges Söhnchen Useppe durchbringen muss.  Neben dem hochdramatischen Schicksal ihrer Protagonistin, das sie fein austariert knallhart, diskret und voller Zuneigung erzählt, rückt sie immer wieder andere Figuren, denen die Gewalt der Verhältnisse ebenso übel mitspielt, in den Fokus ihrer epischen Schilderungen. Dass Armut, Vertreibung, Vernichtung Folgen einer verheerenden Weltpolitik sind, betont Morante durch ihre knappen Zusammenfassungen tatsächlicher historischer Ereignisse vor jedem Kapitel. Gleichzeitig feiert sie in ihrem Werk das Leben und die Freude am Sein, verkörpert  durch den hinreißenden Useppe. Umwerfend, wie die beiden Übersetzerinnen uns dank ihrer vielschichtigen lebendigen Übertragung mitnehmen in diese Zeit, an diesen Ort und in die Menschen hinein. (Stefanie Hetze)

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Hua Hsu: Stay True

Aus dem Englischen übersetzt von Anette Grube, aki 2024, 232 Seiten, 22 Euro.

Ich bin in einem anderen Land, mit einer anderen Sprache, anderen Privilegien als Hua Hsu aufgewachsen, ich habe andere Musik gehört und andere Entscheidungen getroffen. Aber die Art und Weise, wie Hua Hsu über jung sein und Freundschaft schreibt, über die Gleichzeitigkeit von Nonchalance und Ernsthaftigkeit, hat etwas sehr Universelles und tief Berührendes. Eigentlich spricht nichts dafür, dass Hua und Ken sich befreunden. Ken ist für Huas Maßstäbe zu laut, zu konventionell, zu gutaussehend, zu selbstsicher. Aber dann passiert es doch und plötzlich sprechen sie über Gott und die Welt, analysieren Filme bis tief in die Nacht, streiten über Musik, installieren Insiderwitze und gehen irgendwie davon aus, dass das für immer so bleibt. Bis Ken Opfer eines Raubmordes wird und Hua sich mit Trauer und Schuldgefühlen konfrontiert sieht. Stay True ist, wie der Untertitel verspricht, ein Memoir über eine Freundschaft – vor der Folie einer asian-american Herkunft und den damit einhergehenden Fragen von Identität und Zugehörigkeit, mit Exkursen zu Derrida (Politik der Freundschaft) und E.H. Carr (Was ist Geschichte) und Reflektionen über die Bedeutung von Kurt Cobain oder den perfekten Sound der Beach Boys. Es ist der fortwährende Versuch des Beschreibens eines Lebensgefühls, einer Zeit, und eben dessen, was eine (Jugend)Freundschaft eigentlich ausmacht. Oder – wie der Autor selbst es ganz am Ende des Buches sagt – der Versuch „den Geruch von Secondhand Rauch auf Flanell“ oder die „Sonne, die einen besonderen braunen Goldton erschuf“ zu beschreiben. (Katharina Bischoff)

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André Kubiczek: Nostalgia

Rowohlt Berlin 2024, 399 S., € 25,-

Zusammenhänge logisch herzuleiten und für Fassbares und Unerklärliches Wörter zu finden. Damit wächst André als Kind einer DDR-Intellektuellenfamilie in Potsdam auf, bei der die Stasi durch den seltenen Telefonanschluss quasi mit am Küchentisch sitzt. Beim Vater stimmt die Herkunft, aber bei seiner Mutter passt nichts. Obwohl Sozialistin und gewordene DDR-Bürgerin sprengt sie als stilbewusste Laotin aus der Oberschicht jeden Rahmen. Schon als Kind registriert André seismographisch, wo und wie sie aneckt und was seine Eltern sich als Überlebensstrategien einfallen lassen.  Auch er verlässt meist mit tiefgezogener Kapuze das Haus. Ein Leben als Drahtseilakt, dem mit er mit List und Abnabelung zu begegnen versucht. Wie in einer dokumentarischen Zeitmaschine nimmt der Autor uns mit in seine eigene Kindheit und Jugend. Es bleibt aber nicht bei einem atmosphärisch genauen Erinnerungsroman. Mit einem Twist rückt Kubiczek die Perspektive seiner schwerkranken Mutter ins Zentrum, was ihr Lebensdilemma eindrücklich fühlbar macht. Da ist ganz viel Zartheit im Spiel. (Stefanie Hetze) Leseprobe

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James Baldwin: Kein Name bleibt ihm weit und breit

Zum 100. Geburtstag von James Baldwin, übersetzt von Miriam Mandelkow, mit einem Vorwort von Ijoma Mangold, dtv, 272 Seiten, 22 Euro.

Vor über 50 Jahren wurden James Baldwins Erinnerungen „No Name in the Street“ erstmals veröffentlicht, ein schneller, bruchstückhafter aber tiefgründiger, mal scharfer, mal zarter Ritt durch ein Leben als schwuler, schwarzer, amerikanischer Intellektueller. Jetzt wurden die Erinnerungen in einer neuen, diskriminierungssensiblen Übersetzung von Miriam Mandelkow neu herausgebracht. Die Erinnerungen beginnen in Harlem, New York, ganz kurz nur erzählt James Baldwin von seiner Familie, der Mutter, dem Stiefvater, mit dem es bekanntlich schwierig war, und seinen acht jüngeren Geschwistern. Auf diesen wenigen ersten Seiten offenbart sich der Blick, mit dem auf alle weiteren Ereignisse geguckt wird: ehrlich, radikal und schonungslos aber bisweilen liebevoll und fast zärtlich. James Baldwin reflektiert Machtverhältnisse und Rassismus, wenn er über Stationen in Paris, London, Hamburg, schreibt, von Begegnungen mit Martin Luther King, Malcom X und anderen Aktiven in der Bürgerrechtsbewegung erzählt (- ach, Pioniere -) oder über ein unbehagliches, weil die Entfremdung so groß geworden ist, Wiedersehen mit einem Freund aus Kindertagen nachdenkt. Er räumt auf mit grundlegend falschen (weißen) Annahmen, erzählt von einer – wie er im weiteren Verlauf ausführt – ihn tief verstörenden Reise in die Südstaaten, von einem dort noch mal ganz anders erlebten, weil segregierenden Rassismus, von der physisch spürbaren Angst beim Gang über ein Rollfeld. „Kein Name bleibt ihm weit und breit“ ist keine leichte Lektüre, aber eine sehr notwendige. (Katharina Bischoff)

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