Alba de Céspedes: Aus ihrer Sicht

Aus dem Italienischen von Karin Krieger. Mit einem Nachwort von Barbara Vinken. Insel Verlag 2023, 637 S., € 28,-

(Dalla parte di lei, Mondadori, ca. € 19,50)

Ein Roman ohne Wenn und Aber erzählt aus der Perspektive einer jungen Frau. Alessandra wächst in kleinbürgerlichen Verhältnissen im Rom der Dreißigerjahre auf. Für Mädchen und Frauen, die noch eine Art von Begehren ausleben möchten, sind im patriarchalen faschistischen Italien, wie die Autorin minutiös schildert, eigentlich nur zwei Rollen vorgesehen: als anständige ihrem Mann unterworfene Ehefrau oder als verpönte Konkubine. Alessandra, die wie ihre aus der Art geschlagene Mutter, einer Künstlerin, die einen Suizid begeht, einen Mann lieben will, ohne von diesem geknechtet zu werden, nimmt einen langen Weg der Rebellion auf sich. Äußerlich angepasst verfolgt sie trotz aller Widerstände kompromisslos ihr Ziel, für sich und ihre leidenschaftlichen Wünsche als Frau zu kämpfen. Der Preis dafür ist hart, doch die Protagonistin bleibt ganz bei ihrer Sicht und dokumentiert sie auch als Niederschrift. Gnadenlos entlarvt De Céspedes die ausweglosen frauenfeindlichen Verhältnisse im Italien der Dreißiger/Vierziger Jahre. Selten wurde in der Literatur so haarscharf und unbestechlich der Finger auf die Wunde der Genderungerechtigkeit gelegt. (Stefanie Hetze) Leseprobe

Die Übesetzerin Karin Krieger spricht über den Roman

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Ulrike Draesner: die Verwandelten

Penguin 2023, 608 S., € 26,-

Dass Kriegskinder ihre Traumata bis in die dritte Generation weitergeben, ist der breiteren Öffentlichkeit seit den erfolgreichen Büchern von Sabine Bode „Kriegskinder“ und „Kriegsenkel“ bekannt. Ulrike Draesner verarbeitet das Thema nun in einem beeindruckenden, vielstimmigen und sprachmächtigen Roman.
Alissa wird in einem Heim des nationalsozialistischen „Lebensborn“ geboren, mit fünf Jahren von einem wohlhabenden nationalsozialistischen Paar adoptiert und wächst als Gerhild auf. Dass sie die Tochter der Köchin Adele aus Breslau ist, die vom Hausherren geschwängert wurde, entdeckt sie erst im hohen Alter.
Ihre Halbschwester Renate erfährt Ende des Krieges die Vergewaltigung durch russische Soldaten und verwandelt sich in Walla, um zu vergessen und im nun polnischen Breslau/Wrocław bleiben zu können.
Erst als ihrer beiden Töchter Kinga und Dorota – Nebelkinder, im Schweigen aufgewachsen –  einander begegnen, lösen sich die düsteren Spuren der Vergangenheit in einer möglicherweise klareren Zukunft auch für Kingas Adoptivtochter Flummy, „Krieg und Nachkrieg entkommen. Vielfach verwurzelt“.
Ulrike Draesner, die als Lyrikerin mit der Sprache virtuos zu wirken versteht, gibt den „Verwandelten“ eine Stimme. In Zeit- und Personenwechseln – mal spricht Alissa im Alter, mal als kleines Mädchen, mal Kinga oder Doro, mal Reni, ihre Mutter Else oder Adele – entfaltet sich ein überaus beeindruckendes Panorama weiblicher Lebenserfahrungen im 20. Jahrhundert. (Syme Sigmund) Leseprobe

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Aron Boks: Nackt in die DDR

Mein Urgroßonkel Willi Sitte und was die ganze Geschichte mit mir zu tun hat. Harper Collins 2023, 400 S., € 24,-

Wenn ich heute auf mein Kunstgeschichtsstudium zurückblicke, dann fällt mir keine Vorlesung ein, in denen Künstler*innen der DDR auch nur erwähnt worden wären. Mehr als verwundert habe ich 2009 im Martin Gropius Bau die Ausstellung „60 Jahre, 60 Werke – Kunst aus der Bundesrepublik Deutschland von 1949 bis 2009“ besucht, in der kein*e einzig*er Künstler*in der DDR oder Ostdeutschlands vertreten war. Willi Sitte war mir dennoch selbstredend ein Begriff – gilt er doch aufgrund seiner Regierungs- und Parteinähe als der umstrittenste Künstler der DDR.
Die nun von seinem Urgroßneffen verfasste Biografie sei all jenen ans Herz gelegt, die vielleicht weniger kunsthistorisch bewandert, aber dennoch gesellschaftspolitisch und historisch interessiert sind. Aron Boks Erzählton in Nackt in die DDR ist erfrischend unakademisch und persönlich – erzählt er doch in weiten Zügen neben der stetig politisch durchzogenen Künstlerkarriere eben auch seine Familiengeschichte. Das macht den besonderen Reiz dieses ausführlichen Streifzugs aus, der mit Sittes Geburtsort im heutigen Tschechien beginnt und vor allem die Lebensgeschichte von Boks Urgroßvater Franz Sitte mit der des berühmten Bruders verknüpft. Boks Biografie liefert bei aller Bekanntheit seines Urgroßonkels einen weiteren dringend notwendigen Baustein einer Neubetrachtung und Bewertung von Künstler*innen aus der DDR, deren Werke mit dem Mauerfall fast vollständig aus der Öffentlichkeit verschwunden sind. (Jana Kühn)

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Milena Michiko Flašar: Oben Erde, unten Himmel

Wagenbach 2023, 304 S., € 26,-

Die Aushilfskellnerin Suzu lebt in einer japanischen Großstadt anonym und zurückgezogen. Kontakte mit Menschen begrenzt sie auf das Nötigste, hin und wieder ein Date ohne Folgen. Eine gewisse Leere muss sie empfunden haben, legt sie sich doch einen Hamster zu.  Als sie mangels „Liebreizes“ ihre Arbeit verliert, nimmt die phlegmatische junge Frau einen ungewöhnlichen Job an. Sie wird Teil einer Truppe, die die unappetitlichen geruchsintensiven Überreste von unbemerkt Gestorbenen reinigt. Es kostet sie zwar Überwindung, was der charismatische lebenslustige Chef nicht gelten lässt. Er verlangt von seinem Team höchsten Einsatz, was gemeinsame tägliche Besuche von Badehaus und Restaurant einschließt. Zugleich erschließt er seinen Leuten, eben auch Suzu und ihrem verschlossenen jungen Kollegen, ihre Arbeit ernst zu nehmen, die Vorgeschichten und die Würde der einsam Gestorbenen, der Kodokushi, zu achten. Peu à peu verändert sich dabei Suzus eigenes Leben. Mit Leichtigkeit und Eleganz verzahnt die Autorin die großen Fragen vom Leben und Sterben, von Nähe und Distanz, Gesellschaft und Einsamkeit, um sie sogleich spielerisch durcheinanderzuwirbeln. Erhöht wird das Lesevergnügen durch einen Anhang, der japanische Begriffe und Spezifika erklärt. (Stefanie Hetze)

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Vincenzo Latronico: Die Perfektionen

Aus dem Italienischen von Verena von Koskull, Claassen Verlag 2023, 128 S., € 22,-

(Le perfezioni, Bompiani 2022, ca. € 20,50)

Anna und Tom haben ihr Hobby zum Beruf gemacht und ziehen aus ihrer als provinziell empfundenen italienischen Heimat als freischaffende Webdesigner in den 2000er Jahren nach Berlin. Hier sind die Mieten noch billig, es schlägt der Puls der Zeit, da wollen sie dazugehören. So reihen sie sich ein in die Menge der Expats dieser Stadt. Kontakt mit Deutschen haben sie kaum, ihre Freunde sind Spanier, Portugiesen oder Amerikaner, es wird englisch gesprochen, wo die Mauer verlief ist nicht von Interesse. Das Leben zwischen Instagram und Berghain, Arbeitstagen im Café und Aperitif an der Spree, Kunstgalerien und Karaoke im Mauerpark hat vor allem eins zu sein – durchdesignt und fotogen.
Doch die Stadt wandelt sich, die Arbeit verliert ihre Faszination, immer mehr ihrer Bekannten gehen „zurück nach Hause“, neue, jüngere Leute drängen nach und unmerklich, doch immer drängender schleicht sich ein Unbehagen in das scheinbar so perfekte Leben.
Vincenzo Latronico hat eine Geschichte über Träume und Enttäuschungen geschrieben, eine mit Klischees spielende Parabel über unser von den Bildern der sozialen Medien bestimmtes Leben und die Suche nach einer immer brüchigeren und selteneren Authentizität. (Syme Sigmund) Blick ins Buch

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Cherie Jones: Wie die einarmige Schwester das Haus fegt

Aus dem Englischen von Karen Gerwig, Culture Books 2022, 328 S., € 25,-

Bilder von den Stränden Barbados‘ wecken Fernweh – was für ein Paradies! Scheinbar muss man sagen, bzw. längst nicht für alle. Dies zeigt sich schon auf den ersten Seiten dieses Romans, der hauptsächlich in den Sommermonaten des Jahres 1980 auf der karibischen Insel spielt. Die junge, hochschwangere Lala steigt mitten in der Nacht eine steile und gefährliche Treppe hinab ans Meer. Sie verliert Blut und sucht ihren Mann Adan, einen Kleinkriminellen, der wieder einmal nicht nach Hause gekommen ist. Fast zeitgleich verliert Mrs. Whalen ihren Ehemann, der bei einem nächtlichen Raubüberfall in ihrer luxuriösen Strandvilla erschossen wird. Gekonnt verschränkt Cherie Jones diese beiden Erzählstränge, verspinnt aber auch weitere Perspektiven wie Lalas Großmutter, besagten Adan, einen Polizisten, einen Gigolo. So entsteht in der Chronologie der Sommertage sowie zahlreichen Rückblenden, vor allem aber über alle Klassen hinweg ein lebendiges wie eindringliches Panorama der Inselbewohner:innen. Schonungslos, muss man sagen, zieht Jones ihre Leser:innen immer tiefer in eine Spirale brutaler, patriarchaler Gewalt. Allerdings verfällt sie dabei keineswegs in misogyne Muster wie so manch anderer Krimi. Sie zeigt ihre Figuren wohl als verletzliche Opfer, vor allem aber als Frauen beim Versuch, einer alles dominierenden Armut zu entkommen. (Jana Kühn) Leseprobe

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Giulia Caminito: Das Wasser des Sees ist niemals süß

Aus dem Italienischen von Barbara Kleiner, Verlag Klaus Wagenbach 2022, 320 S., € 26,-

(L’acqua del lago non è mai dolce, Bompiani 2021, ca. 22,50 €)

Ein Roman, der uns mit Wucht in die Realität der italienischen Provinz katapultiert. Gaia, die Ich-Erzählerin, wächst unter prekärsten Bedingungen auf. Der Vater sitzt seit einem Schwarzarbeitsunfall querschnittsgelähmt passiv herum, während die kämpferische Mutter, eine Mamma Roma, alles mit Ach und Krach über Wasser hält. Mit Tricks schafft diese es, die Familie raus aus Rom in eine Kleinstadt mit vielen Wohlsituierten am Lago di Bracciano zu bugsieren. Für die Tochter beginnt ein enormer Spagat. Sie soll den Aufstieg schaffen, der ihrer Mutter verwehrt ist. Dazu muss sie lernen, noch mehr pauken und jeden Tag den langen Weg nach Rom in eine Reichenschule pendeln. Dabei will sie wie die anderen Dinge anhäufen und sich vergnügen.  Doch so sehr sie sich anstrengt, sie bleibt die bemitleidete Außenseiterin, der sich auch als Erwachsene die Türen versperren. Da hilft nur unbändige Wut, die sich vielfach gewaltsam entlädt. Wie Giulia Caminito die Bandbreite an aufgestauten und ausbrechenden Gefühlszuständen ihrer Protagonistin austariert, ist grandios, verstörend und enorm berührend. Glasklar und unmittelbar ist dazu die deutsche Übertragung von Barbara Kleiner – eine Lektüre, die nachhallt. (Stefanie Hetze)

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Mohamed Mbougar Sarr: Die geheimste Erinnerung der Menschen

Aus dem Französischen von Holger Fock und Sabine Müller, Hanser Verlag 2022, 448 S., € 27,-

Der junge senegalesische Autor Diégane lebt in Paris, arbeitet an seinem ersten Roman und diskutiert nächtelang leidenschaftlich mit seinen Freunden über Literatur. Als er den Roman von T.C. Elimane, einem gleichfalls senegalesischen Autor aus den dreißiger Jahren, zu lesen bekommt, ist er davon so gebannt, dass er beginnt, Nachforschungen anzustellen. Ein Mythos rankt sich um das Buch, von dem nur noch ein Exemplar existiert. Jeder, der es gelesen hat, ist davon zutiefst berührt. Wer war „der schwarze Rimbaud“, der, nachdem sein Roman zunächst gefeiert und dann von Plagiatsvorwürfen überzogen wurde, spurlos verschwand? Anhand dieser Suche spinnt Sarr ein vielfältiges Geflecht aus facettenreichen mal berührenden, mal verstörenden, bisweilen erotischen oder auch mystischen Stimmen, das nicht nur der Person Elimanes immer näher kommt, sondern virtuos von der Macht des Wortes, dem Bild schwarzer Autoren im europäischen Kontext und der senegalesische Gesellschaft erzählt. Ein fesselndes, elegantes Werk voller Anspielungen und Ironie, das völlig zu Recht den Prix Goncourt 2021 verliehen bekommen hat. (Syme Sigmund) Leseprobe

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Carlotta Vagnoli: Memoria delle mie puttane allegre

Marsilio 2022, pp. 160, ca. € 16,50

Cosa hanno in comune Marina di Castagneto Carducci, paesino marittimo nel sud della Toscana e Macondo, città immaginaria creata da Gabriel García Màrquez e ambientazione del suo capolavoro Cent’anni di solitudine? In apparenza niente. Eppure, osservando alcuni dettagli, evocando ambientazioni e personaggi, Carlotta Vagnoli intravede il parallelismo che costituisce il fulcro di questo delizioso libretto. Memoir, studio di genere dell’opera di Màrquez, riflessione personale sui cambiamenti sociali, l’identità femminile e i costumi degli italiani, Memorie delle mie puttane allegre è un piccolo distillato di temi attuali e rilevanti, osservati con gentilezza e narrati con passione. È anche un tributo a un grande romanzo del Novecento, lungamente incompreso e sottovalutato, in cui alle figure femminili sono assegnati ruoli secondari solo in apparenza. Attraverso il testo di Vagnoli ci accorgiamo di come le “puttane tristi” siano in realtà allegramente sovversive. (Giulia Silvestri)

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Paolo Zanotti: Trovate Ortensia!

Ponte alle Grazie 2022, pp. 496, ca. € 27,-

Pisa, anni Novanta. Ci sono i centri sociali, le feste universitarie, il laboratorio di teatro. Ci sono un gruppo di amici, gli studenti Erasmus, i djambè in piazza, nuovi amori, le sere a prender fresco in riva all’Arno, le puntate al bar. Tutto scorre tranquillo, finché un giorno appare una ragazza dall’aspetto strano, eterea, forse un po’ confusa, sicuramente interessante. C’è chi se ne innamora, chi rimane turbato dall’incontro, chi non la sopporta e non si fida di lei. Del resto, nessuno riesce a capire da dove venga, non si è sicuri nemmeno del suo nome. Dice di chiamarsi Ortensia. Dal momento del suo arrivo iniziano a capitare cose strane… Che sia colpa di Ortensia e del segreto che porta con sé? A metà strada fra la commedia e la fantascienza, questo romanzo genuino, postmoderno e (purtroppo) incompiuto fa sentire la mancanza di un autore scomparso troppo presto, tenero, divertente e astuto come pochi altri scrittori della sua generazione. Bonus: Un formidabile glossario di vernacolo pisano in appendice. (Giulia Silvestri)

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