Ulrike Draesner: zu lieben

Penguin, 345 Seiten, 24 Euro

Ein nicht mehr ganz junges Paar wünscht sich ein Kind. Der Wunsch ist und wird nach mehreren Fehlgeburten so dringend, dass aufgrund des fortgeschrittenen Alters nur noch eine Auslandsadoption bleibt. Nach einem mehrjährigen Behördenlauf bringt das Paar ein dreijähriges Kind von Colombo nach Berlin. Ulrike Draesner assoziiert sich ausgesprochen freimütig, mal humorvoll, mal aufwühlend durch den Kosmos ihrer eigenen Familiengeschichte – einer Familienfindung, der vielschichtigen Suche nach Elternschaft, die auch den Verlust des (Eltern)Paares bedeutet. Dabei folgt sie durchaus einer Chronologie der Geschehnisse, öffnet jedoch in Rückblenden, Ausblicken oder Exkursen immer wieder Tür und Tor zu gesellschaftspolitisch relevanten Fragen, so etwa was es bedeutet, als weiße Familie ein Schwarzes Kind zu adoptieren. “zu lieben” ist kein Roman im eigentlichen Sinne. Ulrike Draesner unterstreicht dies selbst, indem schon auf dem Buchcover das beigestellte Roman nur noch durchgestrichen zu lesen ist. Streichungen dieser Art finden sich zahlreich, als ob die Autorin Einblick gewährt, nicht nur in ihr Leben, sondern auch in ihren Schreibprozess. Schon einige Zeit lag dieses Buch bei mir. Sein Thema und seine ersten Seiten hatten mich so sehr dafür eingenommen, dass ich mir seine Lektüre für die freien Tage zwischen den Jahren aufhob. Es hat sich sehr gelohnt! (Jana Kühn)

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Ann Petry: Miss Muriel

Aus dem Amerikanischen von Pieke Biermann, Nagel & Kimche 2024, 352 Seiten, 24 Euro

Ann Petrys wirklich beeindruckendes Buch beginnt mit drei langen Erzählungen aus dem Kosmos einer Schwarzen amerikanischen Apothekerfamilie, die als einzige Schwarze in einer von Weißen bewohnten Kleinstadt lebt und aus Selbstschutz klare Grenzen ziehen muss. So registriert die zwölfjährige Protagonistin der ersten Story sehr genau, wie heikel die Trennlinie zwischen dem Dienst an der Kundschaft und dem Schutz der familiären Privatsphäre ist, die jederzeit durch rassistische Übergriffe gefährdet ist. Während die Apothekerfamilie ihren Drugstore als Bollwerk einzusetzen versucht, hat der Rassismus außerhalb, an anderen Orten und in anderen Konstellationen wie ein Gift die nordamerikanische Gesellschaft zersetzt. Punktgenau und in einer glasklaren Sprache erzählt Petry, wie sehr unterschiedliche Menschen davon betroffen sind und wie sie sich dagegen wehren. Das macht wütend und berührt zutiefst. Schon 1971 erschienen, sind die Erzählungen nun nach über einem halben Jahrhundert endlich auf Deutsch erschienen. Von Pieke Biermann blendend übersetzt, sind sie brennend aktuell. (Stefanie Hetze)

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Jörg Sundermeier, Katrin Funcke: Eine verbogene Geschichte.

bahoe books 2024, 56 Seiten, 22 Euro, ab 5

Wo ist diese Wiese auf der sich blaue Kröten Pullover stricken und dabei, ganz aus Versehen  – nein, eher ganz aus Langeweile – die schönsten Geschichten von Freundschaft, Sehnsucht und Mut erzählen? Jörg Sundermeier und Katrin Funke haben sie entdeckt und lassen uns teilnehmen an den Abenteuern dieser zufällig beieinander Gestrandeten: Der Maulwurf Rüffeldirk und die Maus Mattjöh suchen ganz Unterschiedliches und finden die verbogensten, gemeinsamen Wege um beisammen zu bleiben und anderen zu begegnen. Manche sehr kluge Anspielung hängt vielleicht für Kinder noch ein Stückchen zu hoch – die Suche des Zitronenfalters Büzanz nach seinen Ursprüngen und dessen Alpenüberquerung beispielsweise – kann da aber auch getrost hängen bleiben, ohne die Geschichte zu irritieren. Anderes ist dafür so hochphilosophisch auf Kinderaugenhöhe, dass man liebend gerne den Einschlafgesprächen nach dem abendlichen Vorlesen lauschen möchte, die diese Geschichte in Gang bringen mag. Wenn Jörg Sundermeier den Dreh gefunden hat, das Beste der Fabel in unsere Zeit zu retten, dann weiß Katja Funke genau welchen Bildrhythmus es braucht um dieser Erzählung eine ganz tiefe Ressonanz zu verleihen – ihre Gebirgsbilder sind eine Reise für sich. Eine wunderbar verbogene Hommage an das Erzählen in Bildern und Worten!
Für unbedingt alle ab 5 Jahren. (Kerstin Follenius)

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Sy Montgomery: Das Geschenk des Kolibris


Übersetzt aus dem amerikanischen Englisch von Stefanie Schäfer
Diogenes, 2024, 128 Seiten, 18 Euro

Der Kolibri ist ein Vogel der Superlative – es ist der einzige Vogel, der schweben kann, er ist im Vergleich zu seinem Körpergewicht am schnellsten und im Verhältnis zu seiner Grösse der am weitesten ziehende Zugvogel. Er ist unvergleichlich zart, unfassbar hungrig, unglaublich kampfbereit. Brenda, erfahrene Vogelretterin, nimmt sich (mal wieder) zweier verlassener Kolibriküken an, wenige Tage alt und nicht größer als Hummeln. Sy Montgomery, Naturforscherin und Schriftstellerin, wird eingeladen, zu helfen. Und darüber schreibt sie. Von dem Brutkasten, in dem die Vogelgeschwisterchen leben, von der mühseligen Fütterungsprozedur, von der Artenbestimmung nach einigen Tagen, von den ersten Flugversuchen und schließlich der Freilassung.
Der leichte, soghafte und poetische Text zeugt von einer wunderbaren Beobachtungsgabe, es gelingt der Autorin, die Leser*innen ganz nah an den Brutkasten und später in den schönen, bestäuberfreundlich angelegten Garten mitzunehmen, in dem die Kolibris ihre ersten Flugversuche machen. Die Aufregung wird fast körperlich spürbar, wenn Maya das erste Mal den schützenden Käfig verlässt und dann stundenlang nicht mehr gesehen wird oder wenn Zuni sich kurz darauf den Flügel verdreht. Aber alles geht gut aus. Die beiden ziehen bald gen Mexiko. In zauberhaften Beschreibungen vermittelt Sy Montgomery viel Interessantes und Wissenswertes über Kolibris, zum Beispiel, dass sie im Ruhezustand 250 Mal pro Minute atmen und ihr Herz im gleichen Zeitraum 500 Mal schlägt. Oder dass der leichteste Kolibri keine 2 Gramm, der schwerste gerade mal 24 Gramm wiegt. Oder dass die Atzteken glaubten, Kolibris seien wiedergeborene Krieger. Es macht große Freude, dieses Buch zu lesen. (Katharina Bischoff)

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Dolores Prato: Unten auf der Piazza

Mit einem Nachwort von Esther Kinsky. Aus dem Italienischen von Anna Leube, Hanser 2024, 976 Seiten, 38 Euro

Was für ein herausforderndes, jeglichen Rahmen sprengendes und dabei unaufgeregtes, stilles Buch! Lebenserfahren, im hohen Alter, schaut die Autorin, immer eine Außenseiterin, auf ihre Kindheit im ausklingenden 19. Jahrhundert in einer kleinen Stadt auf einem Bergspitz in den italienischen Marken zurück. Es ist eine Kindheit ohne familiäre Geborgenheit, voller Scham und Ausgrenzung. Unehelich geboren, wurde sie von ihrer adeligen Mutter zu entfernten Verwandten, einem alten Priester und dessen Schwester gegeben. Überfordert zog sich die Tante, die ein unergründliches Geheimnis umgab, in ihre Lektüren zurück, während der Onkel, ein vielfältig begabter Menschenfreund, ihr die Sphäre der Dinge, des Wissens und der Worte eröffnete. Nur durch Beobachten erschließt sich das sensible Mädchen ihre Umgebung, was Dolores Prato mit ihrem großen Roman nachvollzieht. Detailliert und in einer unendlich reichen Sprache, die Anna Leube phantastisch im Deutschen abbildet, verleibt sich Prato diese vergangene Welt voller verschwundener Rituale, Phänomene und Tätigkeiten ein und dreht ihre Position als Ausgestoßene um. Wer sich auf dieses im besten Sinne altmodische Leseabenteuer einlässt, kann nur staunen und sich berühren lassen. (Stefanie Hetze)

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Phillip B. Williams: Ours. Die Stadt

S. Fischer, 2024, 704 Seiten, 28 Euro

1834. St. Louis, Missouri. Eine Schwarze Frau und ihr Schwarzer Begleiter betreten eine Bankfiliale und kaufen, gegen anfänglichen Widerstand und obwohl es aus vielerlei Gründen unmöglich scheint – Missouri ist zu dieser Zeit noch ein sogenannter Sklavenstaat – ein Stück Land. Das ist der Beginn von Ours, bald nur bewohnt von entflohenen oder befreiten Sklav*innen, irgendwann unauffindbar für Weiße. Die Bewohner*innen ermächtigen sich in der neuen Freiheit, sie geben sich selber Namen, suchen sich Berufe und füllen die Zeit nach ihren Wünschen. Saint – so der Name der Frau aus der Bank – schützt und regiert die Stadt mit den ihr eigenen magischen Fähigkeiten. Ihr Zauber kann Geister verbannen, Beziehungen fördern oder verhindern, nicht immer hat sie ihre eigene Kraft im Griff. Im unbedingten Wunsch den Schmerz der Vergangenheit, die Peitschenhiebe, den Geruch nach Blut, die Erinnerungen an Baumwollfelder zu verbannen, verrutscht die Grenze zwischen Verantwortung und Macht(missbrauch) immer wieder. Der Debütroman Ours – Die Stadt des amerikanischens Lyrikers Philipp B. Williams beschreibt in sehr poetischer, dichter Sprache eine kraftvolle, wenngleich fragile und vulnerable Utopie. Und das ist unbedingt lesenswert! (Katharina Bischoff)

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Mithu Sanyal: Antichristie

Hanser 2024, 544 Seiten, 25 Euro

Vielen war klar, dass die Queen erst sterben muss, bevor das britische Empire kritisch die eigene Kolonialgeschichte in den Blick bekommt. Die Queen starb, nichts geschah. Und dann kam Mithu Sanyal. Wer die vielschichtige, kluge und provokante Stimme Sanyals in Identiti mochte, wird für Antichristi unbezahlten Urlaub nehmen. Auf 544 Seiten verwebt die Autorin deutsch-indisch-britische Kolonialgeschichte mit ganz grundlegenden Fragen um Identität, Trauer und Verlust. Dramaturgisch äußerst geschickt werden hier nationale Themen mit persönlichen Schicksalen verwoben. Die Idee, mit der diese rasante Geschichte ihren Anfang nimmt, nämlich das Werk Agatha Christies kritisch zu überarbeiten und Hercule Poirot diverser zu gestalten, zeigt, mit welch übergroßen Aufgaben ein postkoloniales England konfrontiert ist. Man ahnt es schon: they were not amused! Ein virtuoser Ritt durch die Zeiten und Diskurse in der kein Mythos von Großbritanniens Establishment auf dem anderen bleibt. Wahnsinnig lustig, herrlich rebellisch und mit einer so mitreißenden Lust am erzählen, dass man direkt noch mal von vorne anfangen will. (kf)

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Maria Stepanova: Der Absprung

Aus dem Russischen von Olga Radetzkaja, Suhrkamp 2024, 141 Seiten, 23 Euro

Hundertvierzig schmale Seiten, die es in sich haben, die das erzwungene Lebensgefühl wiedergeben,  sich auf absolut gar nichts mehr verlassen zu können.  Selbst eine harmlose Lesereise von A nach B entwickelt sich für die Protagonistin, die aus ihrem Land, das Krieg gegen ein Nachbarland führt, flüchten musste, zu einer Grenzerfahrung. Unterwegs verpasst sie ihren Zug, funktioniert ihr Telefon nicht. Sie strandet in einer Grenzstadt, ohne dass irgendjemand davon weiß. Was ihr erst ein Atemholen verschafft, sie einfach herumstreift und sich ein Hotelzimmer nimmt. Doch die Gedanken, die Erinnerungen, die Wut auf das „Untier“, die Scham lassen sie nicht los, selbst als sie einem Mann durch leere Vorstadtstraßen regelrecht nachstellt. Das, was zu ihrem Exil führte, ist zu übermächtig, drängt immer wieder an die Oberfläche, selbst als sie als zersägte Jungfrau in einem heruntergekommenem Wanderzirkus landet. Doch alles andere als ohnmächtig setzt Maria Stepanova ihre Sprache, ihre Bilder, ihre Gefühle, ihre Phantasie so klug, stark und poetisch ein, dass es tief berührt und gleichzeitig überzeugend demonstriert, dass sie sich ihre Sprache nicht wegnehmen lässt. Und Olga Radetzkaja hat den Roman in ein verdichtetes knappes Deutsch übertragen, das trotzdem die vielen Anspielungen und doppelten Böden aufschimmern lässt. (Stefanie Hetze)

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Iida Turpeinen: Das Wesen des Lebens


Aus dem Finnischen von Maximilian Murmann, S. Fischer Verlag, 2024, 320 Seiten, 24 Euro

„Einst brauchte die Seekuh keine Angst vor Raubtieren zu haben, doch egal wo sich der Mensch ausbreitet, verschwinden alsbald die großen Arten.“ Davon erzählt Iida Turpeinen in ihrem Debütroman – mitreißend, berührend und klug geht es in vier Zeitkapiteln, die sich über drei Jahrhunderte erstrecken, um Wissenschaftsgeschichte.
1741 entdeckt der Naturforscher Georg Wilhelm Steller die später nach ihm benannte Stellersche Seekuh. Er begleitet die Große Nordische Expedition von Vitus Behring, sie erleiden Schiffbruch und die Besatzung muss auf einer unbewohnten Insel überwintern. Hier sieht und beschreibt der Forscher das friedliebende, gesellige, spielfreudige, riesige und unschuldige Tier ein erstes Mal. Dreißig Jahre später ist die Stellersche Seekuh ausgestorben, ausgerottet von Pelzjägern.
In den weiteren Kapiteln wird von Constance Furuhjelm in Alaska erzählt, die – eher zufällig und against all odds – das Skelett einer Stellerschen Seekuh katalogisiert, von der fast symbiotischen Beziehung zwischen dem Zoologen Alexander von Nordmann und der Zeichnerin Hilda Olsen, die ihm die alternden Augen und Hände ersetzt und das erste Bild einer Stellerschen Seekuh anfertigt, und von vier Brüdern, die ihre Liebe zur Natur verbindet. Einer von ihnen wird später mit der Restaurierung eines Stellerschen Sehkuh Skeletts beauftragt.
Immer wieder geht es um das Verhältnis zwischen Mensch und Natur, Forscherdrang und Faszination, Ausbeutung und Ehrfurcht. Ein spannendes, wenngleich melancholisches Buch. Nach der Lektüre würde man so gerne eine Stellersche Seekuh mit ihrer Familie im Meer spielen sehen … (Katharina Bischoff)

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Francesca Melandri: Kalte Füße


Übersetzt von Esther Hansen, Verlag Klaus Wagenbach 2024, 279 Seiten, 24 Euro

Einen knapp 300 Seiten langen Brief hat Francesca Melandri an ihren schon lange verstorbenen Vater geschrieben und diesem Brief den Titel Kalte Füße gegeben. Darin setzt sie sich mit ihrer eigenen Familiengeschichte und Familienerzählung auseinander und verknüpft diese mit Zeitgeschichte und gesellschaftlicher Erzählung. Vornehmlich geht es um Krieg: „Ich muss herausfinden, was Krieg ist, Papa. Deshalb brauche ich deine Hilfe“.
Der Vater hat im 2. Weltkrieg gekämpft, auf der „falschen Seite“, auf Seiten der italienischen Faschisten und war Teil der Ritirate di Russia, des verlustreichen Rückzugs aus Russland, der in Italien als Opfergeschichte erzählt wird. Erst in der Auseinandersetzung mit dem völkerrechtswidrigen Angriffskrieg Russlands auf die Ukraine wird Melandri klar, dass „dein Russlandkrieg, ja größtenteils ein Ukrainekrieg war“. Diese Erkenntnis nimmt sie zum Anlass, genauer hinzuschauen. Schonungslos und ehrlich analysiert die Autorin sowohl den einen, familiengeschichtlichen, als auch den anderen, den gesellschaftspolitischen, Erzählstrang. Sie schreibt über russischen Kolonialismus und die Ignoranz des friedensverwöhnten Westeuropas, über unsere Mitschuld am Versuch der Auslöschung z.B. der ukrainischen Identität durch genau diese Ignoranz. Sie schreibt über das Privileg, sich als Pazifist*in zu sehen, und über den großen Wert von Freiheit. Sie erspart dem Vater nichts und führt doch ein liebevolles Zwiegespräch.
Mit großer, poetischer Notwendigkeit geschrieben. Mindblowing. (Katharina Bischoff)

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