A. L. Kennedy: Als lebten wir in einem barmherzigen Land

Aus dem Englischen von Ingo Herzke und Susanne Höbel, Hanser 2023, 464 S., € 28,-

England, zur Zeit des Corona-Lockdowns. Die Grundschullehrerin Anna versucht ihre Schüler online zu unterrichten, und schreibt nebenher Tagebuch. Als sie anlässlich eines Gerichtsprozesses, bei dem Freunde aus der Zeit, da sie mit einer Gruppe von Straßenkünstlern in den 80er Jahren gegen die der englischen Regierung protestierte, angeklagt sind, Buster in der Menge entdeckt und ihm folgt. Buster war damals ihr Freund – und ein V-Mann der Polizei, der sie alle verraten hat.
Ausgehend von dieser Begegnung erzählt sie von ihrer bewegten Vergangenheit, die bei ihr auch Traumata und Ängste hervorgebracht hat, sowie von den Problemen der Gegenwart, und fügt dabei Briefe ein, die Buster ihr schreibt und in denen er seinen Werdegang vom verdeckten Ermittler zum Auftragsmörder offenbart – doch bleibt er dabei ambivalent, lässt sich die Grenze zwischen Gut und Böse nicht so einfach ziehen.
Dafür ist A.L. Kennedy zu klug. Sie erzählt spannend und unterhaltsam von ihrem Land, das von einer skrupellosen, verkommenen Machtelite, den „Stilzchen“ regiert wird. Dabei bewahrt sie gekonnt die Balance zwischen Ironie, Sarkasmus und Ernsthaftigkeit.
Sie scheint damit ins Schwarze getroffen zu haben, das englische Original hat jedenfalls noch keinen Verlag gefunden, zu brisant ist die Kritik, zu offensichtlich die Abrechnung mit den gegenwärtigen Verhältnissen. (Syme Sigmund) Leseprobe

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Gwendolyn Brooks: Maud Martha

mit einem Nachwort von Daniel Schreiber. Aus dem amerikanischen Englisch von Andrea Ott, Manesse 2023, 160 S., € 22,-

Maud Martha ist eine Frau mit einer zarten Seele und einem Sinn für das Schöne. Doch sie lebt in Chicagos South Side, wächst auf in den dreißiger Jahren des vorigen Jahrhunderts, und sie ist schwarz. So lernt das Mädchen, das Löwenzahn liebt, da es „tröstlich war, dass etwas, was gewöhnlich war, gleichzeitig eine Blume sein konnte“ früh, dass das Leben ihr nicht gibt, was sie sich wünscht.
In kurzen Episoden, mit feinem Gespür für lyrische Zwischentöne, erzählt Gwendolyn Brooks, die als erste schwarze Frau für ihre Gedichte mit dem Pulitzerpreis ausgezeichnet wurde, von einem Leben, das sich gezwungenermaßen in einer Welt einrichtet, die von Armut und Alltagsrassismus sowohl seitens der Weißen, aber auch innerhalb Martha Mauds eigener Community geprägt ist, wo gleichfalls hellere Haut als schöner gilt. Ihre hübschere Schwester wird von den Eltern bevorzugt, ihr Mann hätte sich eine hellhäutigere Frau gewünscht, die erträumte eigene Wohnung entpuppt sich als zwei Zimmer mit Küchenecke, Gemeinschaftsbad und Kakerlaken. Martha Maud geht voll stiller Würde durch ihr „graues“ Leben, durch eine Welt, die ihr diese Würde eigentlich nicht zugestehen möchte.
1953 veröffentlich ist dieses Kleinod von Roman nun endlich erstmals ins Deutsche übertragen worden. (Syme Sigmund) Leseprobe

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Tarjei Vesaas: Der Keim

Aus dem Norwegischen von Hinrich Schmidt-Henkel. Mit einem Nachwort von Michael Kumpfmüller, Guggolz 2023, 240 S., € 24,-

Das ist alles andere als ein Idyll, diese grüne schöne Insel voller Obstbäume im norwegischen Meer, wie gleich zu Beginn des Romans mit harten Szenen aus dem Inneren eines Schweinestalls unmissverständlich klar gemacht wird. Einer, der von außen kommt, ein traumatisierter Städter, versucht, an diesem Ort seinen Frieden zu finden. Planlos läuft er über die Insel, trifft auf diverse Bewohner:innen, die dem wirren Fremden eher kopfschüttelnd begegnen. Meisterlich, wie der Autor schon die ersten Irritationen, die sich bei den Menschen, ihren Familien und ihren Beziehungen auftun, ins Spiel bringt und unaufhörlich die Spirale der Ereignisse anzieht. Das hat Hitchcockqualität, geht aber weit darüber hinaus. Denn der zweite Mord betrifft im Prinzip alle. Wie Vesaas die Abgründe schildert, in die (wir) Menschen unglaublich schnell und bedenkenlos geraten können und was das für langfristige Folgen haben kann, ist atemberaubend. Und Hinrich Schmidt-Henkel hat in seiner Übersetzung dafür eine knappe zeitlose Sprache gefunden, die das Geschehen mühelos auf die Gegenwart überträgt. (Stefanie Hetze) Leseprobe

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Herbert Clyde Lewis: Gentleman über Bord

Aus dem amerikanischen Englisch von Klaus Bonn, leinengebunden im Schuber, mare 2023, 176 S., € 28,-

Henry Preston Standish ist ein Gentleman der alten Schule, stets elegant, sportlich und distinguiert. Und so erscheint ihm sein Fall von einem Ozeandampfer in den Pazifik zunächst als peinliches Missgeschick. „So etwas machte man nicht“. Nun treibt der junge, durchtrainierte Mann Stunde um Stunde im Wasser und macht sich Gedanken über seine Lage, sicher, dass dies eine äußerst erzählenswerte Anekdote aus seinem Leben sein wird. Doch an Bord wird sein Verschwinden lange, viel zu lange, nicht bemerkt, und so nimmt das Schicksal seinen Lauf.
Dass eine derart tragische Konstellation einen überaus unterhaltsamen Roman ermöglicht, ist überraschend, doch Lewis hält meisterlich die Balance zwischen der immer auswegloser werdenden Situation, den illusorisch-selbstgefälligen – und sehr amüsant zu lesenden – Gedanken seines Protagonisten und der Beschreibung der Ereignisse an Bord, die ein Entdecken seines Verschwindens slapstickartig eins ums andere verzögern.
Erschienen ist das Buch im Original 1937. Es wurde hier erstmals ins Deutsche übertragen. (Syme Sigmund)

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Judith Hermann: Wir hätten uns alles gesagt

S. Fischer 2023, 192 S., € 23,-

In einer schon fortgeschrittenen Nacht, als sie mit einem alten Freund unterwegs ist, trifft Judith Hermann in einem Späti auf der Kastanienallee zufällig ihren ehemaligen Analytiker. Zum ersten Mal außerhalb des geschützten Raums seiner Praxis, als sie und ihr Freund in ein langes Müttergespräch eingetaucht waren. Diese zufällige surreale Begegnung, die die Autorin wie eine filmreife Szene beschreibt, lässt sie nicht los. Sie folgt ihrem Ex-Analytiker in eine Kneipe und nutzt das Aufeinandertreffen und all das, was es bei ihr an Erinnerungen und Reflexionen auslöst, zum Ausgangspunkt ihres Buches zum „Schweigen und Verschweigen im Schreiben“ und erschafft einen ganzen Kosmos aus ihrer ungewöhnlichen Kindheit und Jugend. Aus Familie und Freundschaften, Berlin und dem Land, Tagen und Nächten, Dingen und Ideen, Alltag und Literatur. Mit ihrer direkten verdichteten Sprache gelingt ihr bravourös der Spagat, sehr Privates zu erzählen und gleichzeitig darüber hinaus vom Lebensgefühl einer Frau in der Mitte des Lebens zu schreiben – und dies in ihrem unverwechselbaren tollen Sound! (Stefanie Hetze) Leseprobe

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Anne Rabe: Die Möglichkeit von Glück

Klett-Cotta 2023, 384 S., € 24,-

Stine – wie ihre Autorin 1986 geboren und zum Mauerfall erst drei Jahre alt – erinnert kaum Details der DDR-Zeit. Die Lebenserfahrungen ihrer Eltern und Großeltern prägen sie dennoch und sind auch prägend für diesen Roman. Doch Rabe erzählt auch von Generationskonflikten jenseits der Wende-Thematik, von (Groß)Eltern, denen bedürfnisorientiertes Begleiten von Kindern fremd ist, für die Kinder funktionieren und vor allem gehorchen müssen. Dafür verschränkt die Autorin Kindheitserinnerungen mit Erfahrungen von Mutterschaft, wobei dies nur eines der sehr vielen Themenfelder Rabes ist. Dreh- und Angelpunkt sind die Recherchen zu Stines systemtreuen Opa Paul, die immer neue Fragen aufwerfen – Fragen nach Gewalt in der Familie, aber auch in der Gesellschaft der Nachwendezeit. Dabei schaltet sich stetig eine zweite Erzählinstanz zur Ich-Erzählerin Stine, die hinterfragt, kommentiert oder fortschreibt. Wäre der Text eine Bühnensituation oder Filmsequenz, hätte man eine Stimme aus dem Off im Ohr. Anne Rabe debütiert zwar literarisch, man erkennt jedoch deutlich die Handschrift der erfahrenen Essayistin, Dramatikerin und Drehbuchautorin. Im collagenhaften Aufbau, mal faktenreich, mal erzählerisch droht das Buch manchmal etwas zu zerfasern. Doch gelingt es Anne Rabe stets, die disparaten Teile fesselnd zusammenzuhalten. (Jana Kühn) Leseprobe

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Joachim Sartorius: Die Versuchung von Syrakus

mareverlag 2023, 192 S., € 20,-

Die uralte Stadt Syrakus, vor 2500 Jahren Schmelztiegel im Mittelmeerraum, liegt am südöstlichen Rand Siziliens am Ionischen Meer. Der Ätna, Griechenland und Nordafrika sind nah. Im historischen Zentrum auf der vorgelagerten schmalen Insel Ortigia, auf der sich die Antike in unzähligen Schichten niedergelagert hat, hat der Autor seit geraumer Zeit seinen zweiten Wohnsitz. Hier spürt der belesene Flaneur in ausgedehnten Streifzügen durch die Straßen, Märkte und Lokale den vielschichtigen Facetten der immer noch lebendigen Geschichte Syrakus nach. Sie ist tief im Bewusstsein der Bevölkerung verwurzelt, wie seine Gespräche mit Einheimischen anschaulich verdeutlichen. Künstler verarbeiten sie in ihren Gemälden, Adlige pflegen leidenschaftlich ihre Sammlungen antiker Gegenstände. Bei seinem Barbier, den Wirt*innen, einem Polizisten, einer Übersetzerin … gehört das Erinnern zu ihrem Alltag. Gleichzeitig gibt es die Gegenwart, die Bedeutungslosigkeit der Randexistenz, die vielen Probleme durch Verkehr, Armut, Immigration, Lethargie, aber auch die reichen Genüsse an guten Speisen und köstlichen Dolci, die Schönheit und Kraft des die Stadt umgebenden Meeres. Auch wenn wir nicht vor Ort sind, können wir mit diesem Buch diese besondere mediterrane Stadt erkunden, zwei Stadtpläne verschönern den literarischen Spaziergang. (Stefanie Hetze)

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Steven Guarnaccia & Raum Italic: Das kleine Pasta-ABC

Hatje Cantz 2023, 136 S., € 18,-

Zu Recht trägt dieses sympathische kleine Buch den Untertitel „Ein heiteres Nudelbuch“. Immer schon war der Amerikaner Steven Guarnaccia von den klangvoll auszusprechenden Pastasorten angezogen gewesen. Erst bei einem langen Italienaufenthalt lernte er die Fülle der Sorten und vor allem der für die jeweilige Beschaffenheit besten Saucen kennen. In seinem ABC stellt er uns nun die Varianten von Acini di pepe über Gigli, Radiatori bis hin zu den Ziti vor mit kurzen Beschreibungen ihrer Besonderheiten und Erklärungen ihrer Namen. Dazu gibt es als echte Hingucker charmante anspielungsreiche Illustrationen und im zweiten Teil über 40 wirklich tolle abwechslungsreiche Pastarezepte, die sich leicht und lecker nachkochen lassen und sich jenseits der klassischen Tomatensauce bewegen. (Stefanie Hetze) Blick ins Buch

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Priya Guns: Dein Taxi ist da

Aus dem Englischen von Mayela Gerhardt, Blumenbar 2023, 329 S., € 23,-

Damani, schwarz, bisexuell, scheinselbständig als Fahrerin für ein Fahrdienstunternehmen, das sie knebelt, reibt sich auf. Sie fährt ihr Auto Tag und Nacht durch den extremen stressigen Verkehr der namenlosen Großstadt, in der ständig demonstriert wird und die Stimmung aufgeladen ist. Das Geld reicht trotzdem von hinten und vorne nicht und dann muss sie sich nach dem Tod ihres geliebten Vaters auch noch um ihre pflegebedürftige Mutter kümmern. Hätte sie nicht ihr Krafttraining und ihre coolen Freund*innen, mit denen sie sich in einem besetzten Haus trifft, wäre sie aufgeschmissen. Und dann geschieht etwas völlig Unerwartetes, sie verknallt sich in eine scharfe Frau. Nur ist sie weiß, reich und wohlmeinend. Wie da zwei Lebensrealitäten und Haltungen bei starker sexueller Anziehung aufeinanderprallen, hat die Autorin in ihrem Feuerwerk eines Debütromans in schnellen Szenen, rasanten Wechseln von Diskursen, Schauplätzen und Figuren sowie einer direkten schnörkellosen Sprache eingefangen. Das macht trotz aller Dramatik großen Spaß. (Stefanie Hetze) Hörprobe

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Wilhelm Bode: Hasen – Ein Portrait

Matthes & Seitz 2023, Reihe Naturkunden, mit zahlreichen Abbildungen, 159 S., € 22,-

Hasen haben – das wissen wir alle – zu Ostern Hochkonjunktur. Aber auch während des restlichen Jahres bietet dieses kleine, wie immer im Rahmen der Naturkunden äußerst ansprechend gestaltete Buch viel Interessantes zu entdecken.
Wieso schlägt der Hase Haken? Wie schnell kann er rennen? Woher stammt eigentlich die Figur des Osterhasen? Warum war der Hase das heilige Tier der Aphrodite? Und was hat die Geschichte „Der Hase und der Igel“ mit dem Konflikt zwischen Feudalherren und Kleinbauern Mitte des 19. Jahrhunderts zu tun? Diese und viele andere unterhaltsam-überraschende Fakten über den neugierigen und wendigen Bewohner unserer Felder und Wiesen lassen sich hier erlesen. Und wenn wir demnächst einmal das Glück haben sollten, einem Hasen über den Weg zu laufen, werden wir ihn nach dieser Lektüre sicher mit neuem Auge hinterherschauen, wie er mit großen Sätzen davonspringt. (Syme Sigmund) Leseprobe

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