Stefanie Sargnagel: Iowa – Ein Ausflug nach Amerika

Mit korrigierenden Fußnoten von Christiane Rösinger. Rowohlt 2023, 304 S., € 22,-

Ein privates liberales College in einer amerikanischen Kleinstadt in the Middle of Nowhere hat die Autorin erstaunlicherweise eingeladen, die privilegierten Studierenden dort in Creative Writing zu unterrichten. Zur Verstärkung nimmt sie ihre Tourfreundin, die 30 Jahre ältere Künstlerin Christiane Rösinger mit, die auf dem Campus auch ein Konzert geben soll. Sie kommen in einem großen Haus der Uni mit nur einem Sofa und einem Fernsehsessel (die Coverabbildung!) unter, müssen sich miteinander sortieren und gleichzeitig dieses seltsame Amerika des Mittleren Westens erkunden. Teilweise zu Fuß, ein Unding, ziehen sie los, wenn sie sich denn endlich aus ihrer Bequemlichkeit und ihrer Künstlerinnen-WG aufgerafft haben. Lakonisch vergleicht Sargnagel ihre Beobachtungen und Erlebnisse vom bizarren Amerika mit ihren Bildern und Erwartungen im Kopf, die Rösinger immer wieder knochentrocken und lebenserfahren kommentiert. Dieser ständige Dialog der zwei Künstlerinnen, die an ganz unterschiedlichen Punkten im Leben stehen, macht den besonderen Reiz dieser Reiseerzählung aus, das gegenseitige Reden, Necken und Kritisieren von spöttisch bis liebevoll. (Stefanie Hetze) Leseprobe

Das bestelle ich!

Rachel Ferguson: Die Brontës gingen zu Woolworths

Aus dem Englischen von Sabine Reinhardus, Nagel & Kimche 2023, 256 S., € 22,00

Englische Autorinnen der 1930er Jahre erleben gerade ein spektakuläres Comeback. Neben Wiederauflagen von Klassikerinnen wie Josephine Tey und Margaret Kennedy gibt es auch eine deutsche Erstveröffentlichung zu vermelden und dringend zu empfehlen. Rachel Fergusons „Die Brontës gingen zu Woolworths“ is very british indeed: skurril, unterhaltsam, tiefgründig und schwer aus der Hand zu legen.
Die Handlung ist schnell umrissen: Mrs. Carne und ihre drei Töchter haben nach dem Tod des Vaters einiges zu tun, um ihre Position in der Gesellschaft zu sichern. Zumal die Töchter recht genau wissen, was sie vom Leben wollen und das nicht unbedingt den sozialen Normen ihrer Zeit entspricht. Ihr Ausweg aus diesem Dilemma ist bestechend einfach und hinreißend komisch. Mangels realer Kontakte, erfinden sich die vier Frauen ein reges Sozialleben mit allerlei prominenter Besetzung, das sie in verteilten Rollen zu Hause zum Leben erwecken. Als plötzlich eine dieser fiktiven Begegnungen real wird, kommen die vier ins Straucheln.
Ferguson beherrscht dieses Spiel mit doppelten Böden, Täuschungen und haarfeinen Pointen meisterhaft. Sie erzählt mit ihren vier Protagonistinnen die Geschichte weiblicher Selbstermächtigung die im ganz privaten ihren Anfang nimmt und das mit einer Lust am Fabulieren, am Erzählen, das man unversehens inmitten großer Literatur steht, die ganz einfach Spaß macht.
Ferguson ist die perfekte Begleiterin für lange, winterliche Leseabende. Ein hinreißend böses und abgrundtief lustiges Buch über das Geschichtenerfinden und die schöpferische Kraft von Familie. (Kerstin Follenius)

Das bestelle ich!

Daniel Kehlmann: Lichtspiel

Rowohlt 2023, 480 S., € 26,-

G.W. Pabst, neben Lang, Murnau und Lubitsch einer der ganz großen Regisseure der Weimarer Republik, Entdecker von Greta Garbo, ging nach der Machtergreifung der Nazis in die USA, es gelang ihm aber nicht, in Hollywood Fuß zu fassen. Hier setzt Kehlmann ein, der das Leben Pabsts von diesem Moment an bis 1945 in einen packenden Roman verwandelt hat.
Pabst ging zurück nach Europa, nach Frankreich. Während eines Besuchs in Österreich bei seiner schwerkranken Mutter wird er vom Kriegsausbruch überrascht und kann das Land nicht mehr verlassen. Ihm, der aufgrund seiner sozialkritischen Filme der „rote Pabst“ genannt wurde, wird nun zu verstehen gegeben, dass er Filme zu drehen hat, eine Ablehnung hätte schwerwiegende Folgen für ihn und seine Familie. Der Regisseur fügt sich – in Kehlmanns Interpretation – nur widerwillig, doch wird er nach dem Krieg der Verstrickung beschuldigt, seine große Zeit ist definitiv vorbei.
Wie ist Kunst möglich unter einem totalitären Regime? Wie kann man integer bleiben, wenn der eigene Mut nicht zum Widerstand reicht? Ist korrumpierte Kunst noch Kunst? Zeitlose Fragen, die leider aktueller nicht sein könnten. (Syme Sigmund) Leseprobe

Das bestelle ich!

Ethel Smyth: Paukenschläge aus dem Paradies. Erinnerungen

Herausgegeben und aus dem Englischen übersetzt von Heddi Feilhauer. Ebersbach & Simon 2023, 256 S., € 24,-

„Es sei sehr einfach in graziöser Weise mit dem Strom zu schwimmen, aber einer Gegenströmung zu trotzen erfordere etwas ganz anderes.“
Was das sein könnte, verrät uns Ethel Smyth in diesen autobiographischen Erinnerungen. Die junge Ethel wusste früh, dass sie etwas will – beim Spielen draußen eine Hose tragen, zum Beispiel. Als junge Erwachsene tritt sie in Hungerstreik, um dem Vater zu beweisen, dass es ihr Ernst ist mit der Musik. Als er zustimmt, geht es los, dieses stürmische, inspirierte und temperamentvolle Leben der Ethel Smyth. Sie verlässt die Heimat, wird Musikerin, Komponistin, Schriftstellerin und Frauenrechtlerin. Sie trifft Brahms und Tschaikowsky, Kaiserin Eugenie und Queen Victoria, Emily Pankhurst und Virginia Woolf. Sie lebt in Dreiecksbeziehungen mit Männern und Frauen und beherrscht den Spagat zwischen Konventionen und ihrem Bruch aufs Feinste. Ein Beispiel: Mit dem Fahrrad besucht sie ihre Freundin Eugenie, die letzte Monarchin Frankreichs, in deren Residenz unweit des Familienanwesens der Smyths in Südengland. In den Büschen vor dem Palast wechselt sie schnell die Fahrradhose gegen standesgemäße Kleidung. Die Ex-Kaiserin erfährt es, lacht schallend und stellt ihr fortan ein Umkleidezimmer im Palast zur Verfügung. Temporeich, aufmüpfig und selbstbewusst erzählt – ein gar nicht mal so viktorianisches Vergnügen! (Kerstin Follenius)

Das bestelle ich!

Maxim Biller: Mama Odessa

Kiepenheuer & Witsch 2023, 230 S., € 24,- 

Nach dem Tod der Mutter kreisen die Gedanken des Schriftsteller-Sohnes um ihre Familiengeschichte und ihr zurückgelassenes Leben in Odessa. Die Familie Grinbaum sah sich zur Emigration gezwungen, nachdem die politischen Aktivitäten des Vaters lebensbedrohlich wurden. Der Vater träumt von einer Zukunft in Israel, wo sie aber nie ankommen. Auch in ihrem neuen Wohnort im Hamburger Grindelviertel kommen sie – jeder auf seine Weise – nie wirklich an. Für die Mutter, die für längere Zeit vortäuscht, nur rudimentär deutsch zu sprechen, und die sich in den russischen Klassikern zu Hause fühlt, wird das Schreiben entlang der Familiengeschichte zum Zufluchtsort.
Die assoziative Gedankenreise des Erzählers ergänzt sein Erinnertes durch mütterliche Erzählungen und Briefe und lässt so ein facettenreiches Bild von historischen Ereignissen und Familienmythen entstehen, das auf wunderbare Weise nachdenklich macht. Immer präsent und atmosphärisch stark erzählt ist die vereinende Sehnsucht nach Odessa, nicht zuletzt durch den dort zurückgelassenen geliebten Großvater. Mit viel Melancholie und Wärme erzählt Biller, der erneut offenherzig mit Fiktion und Wirklichkeit spielt, von dem Schicksal der Juden in der Sowjetunion und einer eigensinnigen Mutter-Sohn Beziehung. (Franziska Kramer) Leseprobe

Das bestelle ich!

Rao Pingru: Unsere Geschichte

Eine Liebe im China des 20. Jahrhunderts. Aus dem Chinesischen von Eva Schestag, mit einem Vorwort von Kristof Magnusson, Matthes & Seitz 2023, 442 S., € 38,-

Auch wenn der Einband rot leuchtet und goldene Schrift schimmert, lässt er so zurückhaltend nicht ahnen, was für ein Schatz sich dahinter verbirgt. Rao Pingru hatte nach dem Tod seiner Frau Meitang die Geschichte ihrer Liebe und ihres Lebens für seine Nachkommen aufgeschrieben. Erst durch eine Enkelin, die Teile davon im Netz postete, kam es zur Buchveröffentlichung. In einer genialen Kombination aus lapidarem Berichten des Geschehens und tiefer Zuneigung für seine Liebste schildert er seine Kindheit und die 60 gemeinsamen Jahre mit Meitang. Auf ihre intime familiäre Welt wirken sich die übermächtigen politischen Ereignisse und Umwälzungen um sie herum im China des 20. Jahrhunderts unmittelbar aus.  Doch bei aller Drangsal behält Rao Pingru seine zuversichtliche Lebenseinstellung, genährt durch die Liebe zu seiner Frau. Ein faszinierendes, ja beglückendes Memoir, angereichert durch zahlreiche farbige Illustrationen des Autors und eine historische Zeittafel. (Stefanie Hetze) Leseprobe

Das bestelle ich!

Kathrin Wolf, Isabel Kreitz (Illustr.): In einem alten Haus in Berlin

Gerstenberg / Stiftung Stadtmuseum Berlin 2023, 64 S., Großformat, € 28,-

Die wichtigsten Momente der letzten 150 Jahre deutscher Geschichte, aus Kinderperspektive erzählt anhand der Bewohner eines großen Mietshauses mitten in Berlin und ergänzt duch kindgerechte historische Erläuterungen. Beginnend 1871 geht es durch Kaiserreich, Kriege und Wirtschaftswunder bis in die heutige Zeit, wandeln sich Einrichtungen und Bewohner. Die großen wimmelbildartigen Illustrationen laden zum Eintauchen ein und lassen Historisches begreifbar und lebendig werden. Ein Buch für die ganze Familie zum Schauen und Sich-Vertiefen. (Syme Sigmund) Blick ins Buch

Das bestelle ich!

Arne Rautenberg, Wolf Erlbruch (Illustr.): Mut ist was Gutes

Peter Hammer Verlag 2023, 48 S., € 14,-

Wolf Erlbruchs Bilder zum Thema Mut sind echte Klassiker und vielen bekannt. Neu sind die dazu verfassten Gedichte von Arne Rautenberg, und die sind – großartig! Sprachgewandt mit Witz und Rhythmusgefühl geht es durch die verschiedenen Weisen, Mut zu haben, ob beim Seiltanzen, beim Küssen oder dabei, ein Geheimnis zu Bewahren. Das macht sowohl Erwachsenen als auch Kindern großen Spaß, ob selbst- oder vorgelesen, das rast, schmettert und fetzt ganz wunderbar. (Syme Sigmund) Leseprobe

Video: Arne Rautenberg liest das Gedicht „was mut ist“

Das bestelle ich!

Niklaas Maak & Leanne Shapton: Eine Frau und ein Mann

Hanser 2023, 224 S., 36 s/w Illustr., 62 farbige Illustr., € 26,-

Auf einer gemeinsamen Autofahrt, bei der Niklaas Maak chauffierte und Leanne Shapton aquarellierte, entstand die Idee, es berühmten Filmpaaren nachzutun und ihren legendären Routen fahrend, malend, sprechend im realen Heute und Jetzt zu folgen. Bei ihren Fahrten in den USA, Kanada, Frankreich und Italien dienen die Filmsettings und -szenen als Inspiration für überaus anregende kluge Gespräche über Frauen, Männer, Liebe und Alltag, Landschaften, das Reisen, Geld, Macht, Nostalgie, Digitalisierung, Klima . . . Leanne Shapton verwandelt dabei das vom Auto aus Gesehene in abstrakte zerlaufende Aquarelle und bezieht holprige Straßen bewusst mit ein, während Niklaas Maak unnachahmlich die heutigen Eindrücke mit Geschichten und Fakten verknüpft. Kleine Fotos gibt es obendrein. Ein großes Lese- und Anschauvergnügen. (Stefanie Hetze) Leseprobe

Das bestelle ich!

Britta Teckentrup: Ein Fest von Obst und Früchten

Jacoby & Stuart 2023, 160 S., durchgehend farbig illustriert, € 29,-

Ihre Erinnerungen an den üppigen Garten ihrer Großmutter voller Himbeeren, Kirschen und Quitten inspirierte die Künstlerin, sich intensiv mit Früchten zu befassen. Dabei entdeckte sie erstaunliche botanische Zusammenhänge, die im Alltag ganz anders wahrgenommen werden. Botanisch gesehen sind z.B. Gurken Früchte, während Bananen als Beeren klassifiziert werden. Doch überfrachtet Teckentrup ihr Buch nicht mit solchen botanischen Spezifika. Im Vordergrund stehen die Früchte, ihr Nutzen, ihre Geschichte und das, was wir geschmacklich, kulturell und mythologisch mit ihnen verbinden. Neben Gedichten, Redensarten und Kuriosa sind es vor allem die Bilder im Stile der alten niederländischen Meister, die ihr Buch zu einem einzigartigen ästhetischen Genuss machen und immer wieder betrachtet werden wollen. (Stefanie Hetze) Leseprobe

Das bestelle ich!