Sarah Crossan: Toffee

Wie Glücklichsein von außen aussieht. Aus dem Englischen von Beate Schäfer, Hanser 2023, 352 S., € 19,-, ab 14

Allison ist von zu Hause abgehauen, sie hat es mit ihrem gewalttätigen Vater nicht mehr ausgehalten. Als sie sich im Schuppen der alten Marla versteckt, und diese sie für ihre Jugendfreundin Toffee hält, nimmt Allison diese Rolle an – zunächst nur, um ein Dach über dem Kopf zu haben. Doch langsam spinnt sich ein zartes Band zwischen der dementen Frau und dem 15-jährigen Mädchen. Denn Allison/Toffee nimmt Marla ernst, gibt ihr wieder Glück und Zuneigung, die sie von ihrem kalten Sohn und der regelmäßig vorbeischauenden Sozialarbeiterin nicht bekommt. Und auch Marla hilft Allison auf ihre ganz eigene Art, wieder Halt und Zuversicht im Leben zu finden.
Sahrah Crossan hat diesen Roman in freien Versen geschrieben, die von Beate Schäfer mit großem Sprachgefühl ins Deutsche übertragen wurden. Dabei fließt der Text doch gut lesbar, lässt uns aber immer wieder innehalten, wie schwebend, gebannt von leiser Poesie. Ein ganz besonderes Buch, das berührt, ohne jemals auch nur in die Nähe von Kitsch zu geraten, und dem viele junge Leser zu wünschen sind. (Syme Sigmund) Leseprobe

Hörprobe, gelesen von Nina Hrdina

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A. L. Kennedy: Als lebten wir in einem barmherzigen Land

Aus dem Englischen von Ingo Herzke und Susanne Höbel, Hanser 2023, 464 S., € 28,-

England, zur Zeit des Corona-Lockdowns. Die Grundschullehrerin Anna versucht ihre Schüler online zu unterrichten, und schreibt nebenher Tagebuch. Als sie anlässlich eines Gerichtsprozesses, bei dem Freunde aus der Zeit, da sie mit einer Gruppe von Straßenkünstlern in den 80er Jahren gegen die der englischen Regierung protestierte, angeklagt sind, Buster in der Menge entdeckt und ihm folgt. Buster war damals ihr Freund – und ein V-Mann der Polizei, der sie alle verraten hat.
Ausgehend von dieser Begegnung erzählt sie von ihrer bewegten Vergangenheit, die bei ihr auch Traumata und Ängste hervorgebracht hat, sowie von den Problemen der Gegenwart, und fügt dabei Briefe ein, die Buster ihr schreibt und in denen er seinen Werdegang vom verdeckten Ermittler zum Auftragsmörder offenbart – doch bleibt er dabei ambivalent, lässt sich die Grenze zwischen Gut und Böse nicht so einfach ziehen.
Dafür ist A.L. Kennedy zu klug. Sie erzählt spannend und unterhaltsam von ihrem Land, das von einer skrupellosen, verkommenen Machtelite, den „Stilzchen“ regiert wird. Dabei bewahrt sie gekonnt die Balance zwischen Ironie, Sarkasmus und Ernsthaftigkeit.
Sie scheint damit ins Schwarze getroffen zu haben, das englische Original hat jedenfalls noch keinen Verlag gefunden, zu brisant ist die Kritik, zu offensichtlich die Abrechnung mit den gegenwärtigen Verhältnissen. (Syme Sigmund) Leseprobe

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Pija Lindenbaum: Der erste Schritt

Klett Kinderbuch 2023, 48 S., € 18,-, ab 4

Ein Kinderheim in den Bergen, eine „Schäfin“, die es „mag, wenn es ungerecht ist“ und viele Kinder. Die sind in zwei Gruppen aufgeteilt, die Ringelblumengruppe, die leckeres Essen bekommt und spielen darf, und die Primeln, die kochen, putzen und die anderen bedienen müssen. Doch ein Kind aus den Ringelblumen spürt, dass hier etwas nicht stimmt, und überzeugt alle, nachts mit den Primeln die Kleidung zu tauschen. Das bringt das ganz schön viel Unruhe mit sich, und eines Tages wagen die Kinder es schließlich, auch die von der Schäfin gezogenen weiße Linie um das Heim herum zu übertreten, den ersten Schritt zu tun in eine Welt, in der sie frei über sich selbst bestimmen können.
Pija Lindenbaum ist hier eine Parabel über Unterdrückung gelungen, ein philosophisches Kinderbuch, das zeigt, wie wichtig es ist, Dinge zu hinterfragen und gegen Ungerechtigkeit aufzubegehren. Blick ins Buch

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Giulia Caminito: Das Wasser des Sees ist niemals süß

Aus dem Italienischen von Barbara Kleiner, Verlag Klaus Wagenbach 2022, 320 S., € 26,-

(L’acqua del lago non è mai dolce, Bompiani 2021, ca. 22,50 €)

Ein Roman, der uns mit Wucht in die Realität der italienischen Provinz katapultiert. Gaia, die Ich-Erzählerin, wächst unter prekärsten Bedingungen auf. Der Vater sitzt seit einem Schwarzarbeitsunfall querschnittsgelähmt passiv herum, während die kämpferische Mutter, eine Mamma Roma, alles mit Ach und Krach über Wasser hält. Mit Tricks schafft diese es, die Familie raus aus Rom in eine Kleinstadt mit vielen Wohlsituierten am Lago di Bracciano zu bugsieren. Für die Tochter beginnt ein enormer Spagat. Sie soll den Aufstieg schaffen, der ihrer Mutter verwehrt ist. Dazu muss sie lernen, noch mehr pauken und jeden Tag den langen Weg nach Rom in eine Reichenschule pendeln. Dabei will sie wie die anderen Dinge anhäufen und sich vergnügen.  Doch so sehr sie sich anstrengt, sie bleibt die bemitleidete Außenseiterin, der sich auch als Erwachsene die Türen versperren. Da hilft nur unbändige Wut, die sich vielfach gewaltsam entlädt. Wie Giulia Caminito die Bandbreite an aufgestauten und ausbrechenden Gefühlszuständen ihrer Protagonistin austariert, ist grandios, verstörend und enorm berührend. Glasklar und unmittelbar ist dazu die deutsche Übertragung von Barbara Kleiner – eine Lektüre, die nachhallt. (Stefanie Hetze)

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Behzad Karim Khani: Hund, Wolf, Schakal

Hanser Verlag 2022, 288 S., € 24,-

Nach der Ermordung ihrer Mutter fliehen die jungen Brüder Saam und Nima zusammen mit ihrem Vater aus dem Iran nach Deutschland. Sie landen in Berlin-Neukölln: Dort finden die drei eine Wohnung und ihr „neues“ Leben fängt an. Der Vater ist viel unterwegs, er muss halt mehrere Jobs gleichzeitig ausführen, um die Familie versorgen zu können. Die Jungs müssen sich in der neuen Stadt durchkämpfen: Berlin ist kein Zuhause, willkommen fühlen sie sich dort nicht, gerade sicher nicht in dem trüben, arabisch-dominierten Stadtteil, den sie als eine fremde Welt wahrnehmen. Und so gerät Saam bald auf Abwege.
Behzad Karim Khani, Kreuzberger Superstar (er wohnt im Bezirk und betreibt eine Bar in der Reichenberger Straße) und jetzt auch Romanautor, schreibt mit Wut und Mitgefühl. Ehrlich, melancholisch, zum Teil brutal und immer ausdrucksstark. Dieses Debüt ist eines meiner Highlights des Jahres. Der Autor schreibt, als ob es keine Distanz zwischen ihm und den Leser:innen gäbe. Seine Sätze schlagen vielfach mitten ins Herz. Ein Gangsterroman der besonderen Art, in dem Toleranz ganz im Mittelpunkt steht. (Giulia Silvestri) Leseprobe und der Autor im Gespräch

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Ann Petry: The Narrows

Aus dem amerikanischen Englisch von Pieke Biermann, Nagel & Kimche 2022, 544 S., € 28,-

Link ist ein junger Mann mit hervorragendem Universitätsabschluss, schön wie ein Adonis, einst Star der Footballmannschaft seines Colleges, brillant und sensibel. Doch in der Kleinstadt in der Nähe von New York Anfang der 1950er Jahre hilft ihm das wenig. Aufgewachsen als schwarzes Adoptivkind in der berüchtigten Gegend am Fluss, den Narrows, bei der ehemaligen Lehrerin Abbie Crunch, die stets Angst hat, etwas „racetypisches“ zu tun, und geprägt von Bill Hod, dem Boss der Unterwelt, der ihn unter seine Fittiche nimmt und ihm Stolz auf seine Herkunft vermittelt, arbeitet er als Barmann in Hod’s Kneipe The Last Chance.
Als Link eines Abends einer jungen weißen Frau begegnet, entwickelt sich eine leidenschaftliche Liebesaffäre zwischen den beiden, bis Link durch Zufall herausfindet, dass sie verheiratet ist, und zwar mit dem reichsten Mann des Städtchens. Von da an nimmt das unausweichliche Verhängnis in einer Melange aus verletztem Stolz, Klassendünkel und rassistischen Vorurteilen seinen Lauf.
Dieser Roman gilt als Petrys Hauptwerk, eine sensibel beobachtete Milieuschilderung, mit einem Panorama an charakterstarken Figuren und kunstvoller Verflechtung der verschiedenen Lebensgeschichten. Der Sound ihrer Sprache ist purer Jazz und die hervorragende Übersetzung von Pieke Biermann überträgt ihn auf beeindruckende Weise ins Deutsche. Fesselnde, ganz große Literatur. (Syme Sigmund)

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Gayl Jones: Corregidora

Aus dem Amerikanischen von Pieke Biermann, Kanon 2022, 224 S., € 23,-

Die Vorfahrinnen der Protagonistin Ursa haben eine verheerende endlose Abfolge an rassistischer und sexualisierter Gewalt erlitten als Abhängige eines brutalen Sklavenhalters, der sie missbrauchte, vergewaltigte und ausbeutete. Das Einzige, was den Frauen blieb, war, dass ihre jeweilige Nachfahrin Zeugnis ablegen konnte von dem, was ihnen angetan worden war. Erst Ursa hat die Chance, ein selbstbestimmteres Leben zu führen als Bluessängerin. In ihren Songs singt sie vom Schmerz und der Schwarzen angetanen Gewalt und erfüllt so den Auftrag, das Vermächtnis weiterzugeben. Doch die sozialen und zwischenmenschlichen Verhältnisse lassen sie der Spirale aus Willkür, Rassismus und Sexismus nicht entkommen. Tief eingegraben ist sie in Psyche und Körper. Was für ein Buch! Es berührt, verstört und gräbt sich tief in eine/n ein. Pieke Biermann hat in ihrer grandiosen Neuübersetzung einen eigenen Sound für den Blues des 1975 erstmals erschienenen Originals gefunden. Im Nachwort gibt sie einen Einblick in die Herausforderung, diesen herausragenden Roman über das Erbe der Sklaverei zu übersetzen. Ein gefeierter Meilenstein Schwarzer Literatur ist endlich hierzulande zugänglich. (Stefanie Hetze) Leseprobe und Hintergrundinformationen

Joy Delanane liest aus Corregidora

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Xavier-Laurent Petit: Der Sohn des Ursars

Aus dem Französischen von Désirée Schneider, Knesebeck 2022, 240 S., € 15,-, ab 12

Ciprian ist der jüngste Sohn einer Roma-Familie, die seit Generationen als Ursari, als Bärenführer, durch Rumänien zieht. Als Dorfbewohnern sie wieder einmal bedrohen und vertreiben, lassen Sie sich auf das Angebot von zwei Männern ein, nach Paris gebracht zu werden. Doch die Schleuser zwingen sie dort, für sie als Diebe und Bettler zu arbeiten, um ihre „Schulden“ zurückzubezahlen. Das Leben in der Slumbaracke am äußersten Rand der Stadt scheint hoffnungslos, als Ciprian im Jardin du Luxembourg Schachspieler beobachtet. Das Spiel lässt ihn nicht mehr los und als zwei der Spieler seine ungewöhnliche Intelligenz und Begabung entdecken, wendet sich das Blatt.
Xavier-Laurent Petit hat es geschafft, eine hochspannende Geschichte zu erzählen, und gleichzeitig wichtige Themen wie Ausgrenzung, Vorurteile, Menschenhandel und Ausbeutung in sklavereiähnlichen Abhängigkeitsverhältnissen zu thematisieren. Jugendliche Leser:innen werden nach diesem Buch sicher mit anderen Augen auf die Roma auch in unseren Straßen blicken. (Syme Sigmund) Leseprobe

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Elin Wägner: Die Sekretärinnen

Aus dem Schwedischen von Wibke Kuhn. Ecco Verlag 2022, 176 S., € 20,-

Stockholm, Anfang des 20. Jahrhunderts. Im Zentrum des Romans steht die Icherzählerin Pegg. Ohne jede familiäre Unterstützung und stattdessen mit Verantwortung für ihren jüngeren Bruder muss sie zusehen, wie sie überhaupt im Leben klarkommt, finanziell und in der Liebe. Mehr als einen leider schlecht bezahlten Bürojob findet sie nicht. Ihre Rettung ist ein Sofaplatz in einer Frauen-WG, in der sie zusammen mit ihren drei Mitbewohnerinnen das Unerhörte wagt, trotz Armut als Frau selbstbestimmt und genussvoll zu leben. Es macht riesigen Spaß, diesen Debütroman zu lesen. Er ist flott und spritzig geschrieben. Mit Nonchalance, aber mit umso mehr Nachdruck flicht die Autorin wichtige Themen wie sexuelle Belästigung oder ungleiche Arbeitsbedingungen in Peggs, Babys, Evas und Emmys Erlebnisse und Gespräche ein. Ein Roman, heute immer noch aktuell, obwohl er 1908 erstmals in Schweden erschien. Wunderbar, dass dieser moderne Klassiker feministischer Literatur nach weit über 100 Jahren hier wieder zugänglich ist. Und das Cover von Hilma af Klint passt besonders schön! (Stefanie Hetze)

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Kirsten Boie: Heul doch nicht, du lebst ja noch

Oetinger 2022, 176 s., € 14,-, ab 13

Ende Juni 1945 im zerbombten Hamburg. Der Zweite Weltkrieg ist gerade vorbei, die Menschen kämpfen vordergründig mit dem Alltag zwischen Trümmern, mit Hunger, mit durch die vielen Einquartierungen engsten Wohnverhältnissen, aber eigentlich mit den neuen Verhältnissen als Besiegte und mit einem kompletten Wertewandel. Boie porträtiert wie in einem Brennglas drei Jugendliche, die sich auf der Straße fern der Erwachsenen begegnen:  im Mittelpunkt Jakob, dessen jüdische Mutter deportiert wurde, der das Ende des Kriegs nicht wahrgenommen hat, aber aus massivem Hunger sein Versteck in einer Ruine verlässt. Sein Gegenpol Hermann, Ex-HJ-Führer, der immer noch der NS-Ideologie anhängt und der zu seinem Ärger seinen beinamputierten Vater überallhin, auch auf die Toilette, tragen muss. Und dann noch Traute, eine Bäckerstochter, die sich nach Schule und Normalität sehnt und ihren Eltern Brot klaut. In ihrem spannenden zeitgeschichtlichen Roman, der für Jakob ein gutes Ende nimmt, erzählt Kirsten Boie in knappen Szenen abwechselnd aus den drei verschiedenen Perspektiven und von ihren so unterschiedlichen Problemen. Sie bewertet sie nicht. Zusätzlich ausgestattet mit einer Fülle von Erklärungen historischer Fakten können jugendliche Leser:innen selbst zu Einschätzungen dieser Zeit kommen und viele Verbindungen zum Heute ziehen. (Stefanie Hetze)

Blick ins Buch

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