James Kestrel: Fünf Winter

Aus dem Amerikanischen von Stefan Lux, Suhrkamp 2023, 499 S., € 20,-

Es ist Ende November 1941 als auf der hawaianischen Insel Honolulu ein brutaler Doppelmord geschieht. Ein weißer US-Amerikaner und seine japanische Freundin werden regelrecht geschlachtet. McGrady, ein eigensinniger, nicht gerade beliebter Einzelgänger und quasi Prototyp des literarischen Detektivs wird mit den Ermittlungen betraut. Der Fall erhält höchste Priorität, weshalb McGrady zu Ermittlungszwecken bis nach Hongkong reisen muss. Doch noch während er dort hoffnungsvoll von seiner baldigen Rückkehr und einem romantischen Weihnachten träumt, sitzt er plötzlich selbst hinter Gittern. Und als am 7. Dezember die Japanische Armee erst Pearl Harbour und wenige Stunden später Hongkong angegreift, ist McGrady vollends den historischen Verwerfungen ausgeliefert. Fünf Winter wird es dauern, bis er nach Honolulu und Pearl Harbour zurückkehrt – im Gepäck neue Informationen zu den Morden, mit denen alles begann. Vor dem Hintergrund des Pazifikkrieges erzählt Kestrel einen packenden Hard-Boiler, einen fulminanten Spionage-Thriller und einen berührenden Anti-Kriegsroman. (Jana Kühn)

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Joanna Bator: Bitternis

Aus dem Polnischen von Lisa Palmes. Suhrkamp 2023, 829 S., € 34,-

Was für eine außergewöhnliche Familie sturer, auch durch die schlimmsten Schicksalsschläge nicht klein zu kriegender Frauen! Kalina, die Jüngste, erzählt und recherchiert die Geschichten ihrer Vorfahrinnen Winifreda, Berta, Barbara und Violetta, die sich trotz unzähliger physischer und seelischer Verletzungen mit hochgradiger Energie und Kreativität zur Wehr setzen. Im Falle von Berta, einer Metzgerstochter, und Barbara, die aus Not alles irgendwie Essbare zur Konserve macht, geht ihr Widerstand gegen Bevormundung und Gewalterfahrung so weit, dass sie dafür ins Gefängnis gehen müssen. Joanna Bator siedelt ihr großes emanzipatorisches Frauenepos in der polnischen Provinz an. Zentraler Ort ist wieder ihr niederschlesisches Heimatdorf Wałbrzych, ehemals Waldenburg, mit seinen unvergleichlichen Bewohner:innen, den Gerüchen, Hunden und Wölfen. Auch in 100 Jahren Geschichte haben sich die traumatischen Erfahrungen von Frauen in Polen nicht wesentlich verändert, allenfalls ist es für sie leichter zu konsumieren, wie die Figur der Violetta eindrücklich demonstriert. Sehr dunkel, sehr bitter ist dieser Roman, doch gleichzeitig phänomenal kraftvoll und widerständig – so auch die Sprache. Da gibt es Sätze wie Messerstiche und immer wieder Momente der Zartheit, der Suche nach Glück. (Stefanie Hetze) Leseprobe

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Emmanuel Carrère: V13

Aus dem Französischen von Claudia Hamm, Matthes & Seitz 2023, 275 S., € 25,-

„V 13” steht für „vendredi 13 novembre 2015“. An diesem Tag überzogen islamistische Terroristen Paris mit einem Blutbad – vor dem Stade de France während des Fußball-Länderspiels Frankreich gegen Deutschland, in mehreren Cafés der Innenstadt sowie im Konzerthaus Bataclan, in dem gerade vor vollem Haus ein Rockkonzert stattfand. 130 Menschen starben, fast 700 wurden verletzt, davon 97 schwer.
Emmanuel Carrère hat den Prozess von September 2021 bis Juni 2022 verfolgt und wöchentlich Kolumnen dazu veröffentlicht. Daraus ist dieses beeindruckende Buch entstanden.
Wer waren die Opfer (ihre Zeugenberichte sind kaum auszuhalten) und wer die Täter (erschütternd normal)? Carrère nimmt uns mit in die finstersten Abgründe des Menschlichen, zeigt aber auch beeindruckend selbstlose Menschlichkeit unter den Opfern und die Bedeutung eines derartigen, den Prinzipien des Rechtsstaats skrupulös verpflichteten Prozesses.
Gerade in diesen dunklen Zeiten ein wichtiges Buch, das man sich zumuten sollte. (Syme Sigmund) Leseprobe

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Maruša Krese: Trotz alledem

Aus dem Slowenischen von Liza Linde, mit einem Nachwort von Ilma Rakusa, Fischer Verlag 2023, 256 S., € 22,-

Maruša Krese war Lyrikerin, Autorin von Kurzgeschichten und Radiofeuilletons, alleinerziehende Mutter, Über-Lebenskünstlerin, weltoffene Kosmopolitin und Tochter hochdekorierter slowenischer Partisanen. In ihrem ersten Roman, den sie kurz vor ihrem Tod mit 62 Jahren veröffentlichte, verarbeitet sie, wie so oft in Debüts, ihre eigene Familiengeschichte. Dabei wählt sie jedoch einen Kunstgriff, der den Roman zu einem literarischen Juwel macht. Für ihre drei Hauptpersonen Mutter, Vater und sich selbst wählt sie drei Stimmen. Sie, Er, Ich. Mitten im extrem harten Partisanenkrieg erzählen abwechselnd Sie und Er ihre Erlebnisse, Gedanken und Gefühle. Nach dem Krieg im kommunistischen Jugoslawien, in dem Sie und Er erst einmal Karriere machen und hohe Preise dafür zahlen, kommt Ich mit der Wahrnehmung einer anderen freiheitsliebenden Generation hinzu, wechseln die drei Innenperspektiven auf die massiven politischen Umwälzungen einander ab. Das ist Geschichte von innen erzählt. Beeindruckend. (Stefanie Hetze) Leseprobe

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Charlotte Gneuß: Gittersee

S. Fischer 2023, 240 S., € 22,-

Paul ist „rübergemacht“. So nannte man in der DDR umgangssprachlich, was offiziell als Republikflucht bezeichnet wurde. Karin, seine 16jährige Freundin, wusste nichts von seinen Plänen, was ihr aber niemand recht glaubt, schon gar nicht die mehr oder weniger offen agierenden staatlichen Sicherheitsorgane. Ihre Familie, ihre Freundschaften – alles steht plötzlich auf dem Prüfstand. Charlotte Gneuß beschreibt einerseits sehr einfühlsam, wie Karin versucht, mit dem völlig unerwarteten Verlust ihrer ersten Liebe umzugehen. Andererseits lässt sie ihre junge Protagonistin schonungslos die Perfidie des Bespitzelungssystems in der DDR erleben. Die Chronologie der Geschehnisse wird immer wieder von Träumen und Erinnerungen durchdrungen. Dazu kommt, dass der Erzählstrom enorm verdichtet ist und voller Andeutungen, die Sätze, Seiten oder auch Kapitel später erklärt werden. Oftmals bleiben sie aber auch offen und in ihrer Auflösung unserer Vorstellungskraft als Lesende vorbehalten. So manchem losen Ende der Erzählstränge wäre ich gerne weiter gefolgt, doch dann hätte ich ein komplett anderes, vermutlich eben nicht so gutes Buch gelesen. (Jana Kühn) Leseprobe

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Louise Kennedy: Übertretung

Aus dem Englischen von Claudia Glenewinkel und Hans-Christian Oeser, Steidl 2023, 304 S., € 25,-

Cushla, 24, hat in dem kleinen, überwiegend protestantischen Ort bei Belfast im Jahr 1975 kein leichtes Leben. Neben ihrer Arbeit als Grundschullehrerin, kümmert sie sich um ihre alkoholkranke Mutter und hilft abends im Pub ihres Bruders an der Bar. Katholiken wie sie kann hier jedes falsche Wort in Schwierigkeiten bringen oder sogar das Leben kosten. Für die Kinder ihrer Klasse zählen Bomben, Tote und Schikanen zu ihrem Alltag. Als der Vater eines ihrer Schüler fast zu Tode geprügelt wird, setzt sie sich für die Familie ein. Zeitgleich beginnt sie heimlich eine Affäre mit einem sehr viel älteren Prozessanwalt, der auch noch verheiratet und protestantisch ist. Als die Ereignisse sich zuspitzen, verliert sie immer mehr die Kontrolle über ihr Leben und gerät nicht nur selbst in große Gefahr.
Mit viel Gespür für Spannung, Tempo und Atmosphäre lässt Louise Kennedy das Nordirland der siebziger Jahre lebendig werden und vermittelt eindringlich, was es heißt, in einem Bürgerkriegsland zu leben. (Syme Sigmund)

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Nicole Flattery: Nichts Besonderes

Aus dem Englischen von Tanja Handels, Hanser Berlin 2023, 272 S., € 24,-

Mae, die 17-jährige Tochter einer alkoholkranken Kellnerin, versucht ihrer nichtssagenden Existenz zu entkommen. Sie schmeißt die Schule und gerät durch Zufall an einen Job als Schreibkraft – in Andy Warhols Factory. Hier transkribiert sie Kassetten mit Interview-Aufnahmen, die später zu dem Buch a: A Novel werden sollten. Auf diese Weise dringt sie – verborgen unter Kopfhörern und mit den Fingern auf den Tasten ihrer Schreibmaschine – in den innersten Warhol-Circle ein. Wie in einer Beichte hört sie den obszönen, verletzlichen, exzentrischen oder selbstverliebten Dialogen tagtäglich zu. Trotz ihrer ununterbrochenen Präsenz im Raum, als Zeugin von Fotosessions, Filmaufnahmen und Szene-Partys bleibt sie für diese Menschen doch unsichtbar, ein unbeachtetes Mädchen am Rand ihrer Wahrnehmung. Nach und nach wandelt sich ihr anfänglicher Stolz, zu etwas Großem, Einzigartigem beizutragen immer mehr in Verstörung über die zu intimen, erniedrigenden und entblößenden Szenen, deren stumme Zeugin sie wird. Nicole Flattery hat ausführlich zu diesem Roman recherchiert, und es gelingt ihr über den Blick Maes diese berühmte, einzigartige Zeit und Location lebendig werden zu lassen und dabei die Menschlichkeit, Verletzlichkeit und auch die Arroganz der damaligen Berühmtheiten zu vermitteln, ohne über sie zu urteilen. Eine faszinierende Reise zurück in die späten 60er Jahre New Yorks, in denen kurzzeitig alles möglich schien. (Syme Sigmund) Leseprobe

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Anne Berest: Die Postkarte

Aus dem Französischen von Amelie Thoma und Michaela Meßner, Berlin Verlag 2023, 539 S., € 28,-

Ephraim, Emma, Noemi, Jacques – aus dem Nichts erhält Anne Berests Mutter Neujahr 2003 eine anonyme Postkarte, nur mit den Vornamen ihrer 1942 in Auschwitz ermordeten Angehörigen. Sie verstört die Familie, doch mangels Erklärung wird sie beiseitegelegt und nie wieder erwähnt. Verdrängen war die Regel, hatte doch Myriam, die Großmutter, die nur durch ein „dünnes Zufallfädchen“ die Naziherrschaft überlebt hatte, über die Vergangenheit geschwiegen. Erst Jahre später, als die Autorin hochschwanger bei ihren Eltern auf die Geburt wartet, erinnert sie die Karte und möchte von ihren Vorfahren hören. Doch erst als ihre eigene Tochter in der Schule antisemitisch diffamiert wird, beginnt sie ernsthaft, die Geschichte ihrer Angehörigen zu recherchieren. Dabei kann sie sich auf das Archiv ihrer Mutter stützen, die, ohne darüber zu reden, alles Erdenkliche zur Familiengeschichte gesammelt hat. Mit Hilfe von Kriminologen und Nachforschungen aller Art wird peu à peu die vielgestaltige Geschichte, die bis in die Gegenwart reicht und unverhoffte Wendungen nimmt, aufgerollt. Das ist spannend und mitreißend wie in einem Krimi erzählt, wird aber durch die Passagen, in denen sie von ihren Rechercheschritten berichtet und uns am persönlichen Austausch mit ihren Angehörigen teilhaben lässt, zu einer direkten Einladung, sich selbst zu seinem eigenen Verhalten zu befragen. (Stefanie Hetze) Leseprobe

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Xi Xi: Meine Stadt

Aus dem kantonesischen Chinesisch und mit einem Nachwort von Karin Betz, Suhrkamp 2023, 253 S., € 24,-

Welch ein Fund, den Suhrkamp da gehoben hat und der von der Übersetzerin Karin Betz in ein nur so vor Lebendigkeit und Einfallsreichtum funkelndes Deutsch übertragen wurde! Meine Stadt erschien 1975 als Fortsetzungsroman in einer Hongkonger Zeitung. Er porträtiert diesen einmaligen Ort, der im Zentrum kolonialer und geopolitischer Macht- und Finanzinteressen stand, während die Bevölkerung, die durch die Ankunft vieler Geflüchteter enorm anstieg, versuchte, mit den verschiedenen Gegebenheiten umzugehen. In dieser vielfältigen Stadtgesellschaft, die den unterschiedlichsten Einflüssen ausgesetzt ist, in der Chinesische Kaiser auf die Beatles und Reissuppen auf Schinkensandwiches treffen, lässt Xi Xi ihren jugendlichen Protagonisten, der mit Mutter und Schwester frisch angekommen ist, die verschiedensten Menschen und Lebensumstände kennenlernen. All diese Begegnungen, Szenen und Episoden sind ein Feuerwerk an Anspielungen, Wort- und Gedankenspielen. Gegenstände und Phänomene erzählen ganz poetisch ihre Sicht der Dinge, wie die Fähre, die sich vom Pier verabschiedet. Filme, Songs und Buchtitel werfen auf das Beschriebene noch einmal ein anderes Licht. Der Kultautorin von 1975 und der Übersetzerin aus der Gegenwart ist es gelungen, das Hongkong von damals plastisch nachvollziehbar zu machen und gleichzeitig die großen Probleme der Menschheit anklingen zu lassen. (Stefanie Hetze) Leseprobe

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Joachim Sartorius: Die Versuchung von Syrakus

mareverlag 2023, 192 S., € 20,-

Die uralte Stadt Syrakus, vor 2500 Jahren Schmelztiegel im Mittelmeerraum, liegt am südöstlichen Rand Siziliens am Ionischen Meer. Der Ätna, Griechenland und Nordafrika sind nah. Im historischen Zentrum auf der vorgelagerten schmalen Insel Ortigia, auf der sich die Antike in unzähligen Schichten niedergelagert hat, hat der Autor seit geraumer Zeit seinen zweiten Wohnsitz. Hier spürt der belesene Flaneur in ausgedehnten Streifzügen durch die Straßen, Märkte und Lokale den vielschichtigen Facetten der immer noch lebendigen Geschichte Syrakus nach. Sie ist tief im Bewusstsein der Bevölkerung verwurzelt, wie seine Gespräche mit Einheimischen anschaulich verdeutlichen. Künstler verarbeiten sie in ihren Gemälden, Adlige pflegen leidenschaftlich ihre Sammlungen antiker Gegenstände. Bei seinem Barbier, den Wirt*innen, einem Polizisten, einer Übersetzerin … gehört das Erinnern zu ihrem Alltag. Gleichzeitig gibt es die Gegenwart, die Bedeutungslosigkeit der Randexistenz, die vielen Probleme durch Verkehr, Armut, Immigration, Lethargie, aber auch die reichen Genüsse an guten Speisen und köstlichen Dolci, die Schönheit und Kraft des die Stadt umgebenden Meeres. Auch wenn wir nicht vor Ort sind, können wir mit diesem Buch diese besondere mediterrane Stadt erkunden, zwei Stadtpläne verschönern den literarischen Spaziergang. (Stefanie Hetze)

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