Tarjei Vesaas: Die Vögel

Aus dem Norwegischen von Hinrich Schmidt-Henkel, mit einem Nachwort von Judith Hermann, Guggolz Verlag 2020, 279 S., € 23,-; TB dtv 2022, € 14,-

(Stand Juni 2022)

1595078416390-1588022224464-Cover_2020_Vesaas_CMYK_300dpiWelch ein Glück und welch eine kaum auszuhaltende Traurigkeit ergreift einen beim Lesen dieses außergewöhnlichen Buches! Mattis, ein Mann Ende dreißig, lebt mit seiner Schwester Hege am Rand eines kleinen Ortes in einer Hütte am Ufer eines großen Sees. Im Dorf gilt er als „Dussel“, untauglich zur einfachsten Arbeit. Seine Schwester ernährt ihn mit, ist für ihn die einzige Bezugsperson. Doch Mattis lebt in seiner besonderen Welt, er denkt, schaut und spürt den Wörtern und der Natur nach, wird vom nächtlichen Flug einer Schnepfe bis ins tiefste Innere berührt. Er ist hochsensibler, unverstandener Außenseiter, möglicherweise Ausdruck des innersten Empfindens Vesaas eigener Künstlernatur. Als Hege einen Mann kennenlernt, verändert sich auch ihr Verhalten Mattis gegenüber. Wie von einem Erdrutsch erfasst verliert dieser immer mehr seinen emotionalen Halt. Die grandios-eindringliche, von Hinrich Schmidt-Henkel meisterhaft übersetzte Sprache des Romans versetzt uns direkt in Mattis hinein, lässt uns mit ihm fühlen, staunen, um Worte ringen – und verzweifeln. (Syme Sigmund) Leseprobe

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Ulrike Draesner: Schwitters

Penguin Verlag 2020, 480 S., € 25,-, TB Oktober 2021, € 12,-

(Stand Oktober 2021)

59136772nKurt Schwitters, hannoverischer Künstler, Sprachspieler, Dadaist, Erschaffer des MERZ-Baus und der Ursonate, floh 1937 vor den Nationalsozialisten erst nach Norwegen und dann, 1940, nach England. Nach den auf das Überleben ausgerichteten Jahren von Flucht, Krieg und der steten Angst vor einer Abschiebung nach Deutschland, tritt in der Nachkriegszeit, da der Entschluss zum Bleiben gefallen ist, die Mühsal des Verstehens und Aneignens der doch so fremden, anderen Kultur in den Vordergrund. Neben der für den Dichter so schmerzlichen Sprachbarriere, verlangen ungekannte „Immerschon“-Regeln, gewöhnungsbedürftige Ess- und Trinkgewohnheiten (Tee mit Milch zu jeder Tages- und Nachtzeit) sowie ein schmerzliches Vermissen des Eigenen, eine anhaltende innere Zerrissenheit, einen kontinuierlichen Kraftakt.
Schwitters Leben steht hier emblematisch für die Schwierigkeiten eines jeden Exils, hilft beim Verstehen der Situation eines jeden Flüchtlings, ob 1940 oder heute. Dass Ulrike Draesner einen Ton findet, der literarisch und sprachkünstlerisch das schwittersche Innen- und Erleben miterfühlbar macht, sich mit diesem ent- und verwickelt und dabei einen fast hypnotischen Klangsog entfaltet, macht dieses Buch zu einem lang nachwirkenden Leseerlebnis. (Syme Sigmund) Leseprobe

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Kjell Askildsen: Das Gesamtwerk

2 Bände mit Begleitbuch. Aus dem Norwegischen von Hinrich Schmidt-Henkel, Luchterhand Literaturverlag 2019, 1056 S., € 48,-
(Stand März 2021)

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Existentielle menschliche Erfahrungen wie Einsamkeit, Abgründe in Beziehungen und Familien oder die Suche nach Sinn, darum geht es in Askildsens Erzählungen und wenigen Kurzromanen. Geschrieben in einer knappen Sprache, bei der jedes einzelne Wort sitzt, kongenial von Hinrich Schmidt-Henkel übersetzt, entfalten die Geschichten beim Lesen einen ungeheuren Sog. Die große Bandbreite der Dramen des Lebens finden sich in nur Tausend Seiten Gesamtwerk, die es aber in sich haben. In Norwegen längst Vorbild und Referenz und in 20 Sprachen übersetzt, ist Kjell Askildsen hierzulande noch ein absoluter Geheimtipp. (Stefanie Hetze) Leseprobe

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Tarjei Vesaas: Das Eis-Schloss

Aus dem Norwegischen von Hinrich Schmidt-Henkel, Nachwort von Doris Lessing, Guggolz Verlag 2019, 199 S., € 22,-, TB dtv 2021, € 12,-

(Stand Oktober 2021)

VesaasUnn ist neu in dem kleinen norwegischen Dorf, sie ist nach dem Tod ihrer Eltern zu ihrer Tante gezogen. Still ist sie, schließt sich den anderen Kindern nicht an, aber Siss fühlt sich stark zu ihr hingezogen. Als sich die Mädchen endlich allein treffen, ist sofort eine Seelenverwandtschaft da, die Sicherheit, dass diese Freundschaft für immer sein wird. Doch am nächsten Tag verschwindet Unn spurlos, verirrt sich in den Spalten eines gefrorenen Wasserfalls – des Eis-Schlosses – die Suche des ganzen Dorfes bleibt erfolglos. Siss erstarrt in Trauer, fühlt sich der gerade erst gewonnenen Freundin verpflichtet, zieht sich in sich zurück. Die anderen Kinder, die Dorfgemeinschaft und Siss Eltern akzeptieren sie, geben ihr Zeit, warten, wenden sich nicht ab. Veesas Prosa ist lyrisch, atmosphärisch und doch schlicht und glasklar. Selten wurden Einsamkeit und Trauer, der behutsame Umgang mit der Trauernden und die schrittweise Rückkehr ins Leben so intensiv, so innig und so feinfühlig beschrieben wie in diesem schmalen Roman von 1963, der nun von Hinrich Schmidt-Henkel hervorragend neu übersetzt wurde. (Syme Sigmund) Leseprobe

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Maria Parr: Manchmal kommt das Glück in Gummistiefeln

Aus dem Norwegischen von Christel Hildebrandt, Illustrationen von Barbara Korthus, Dressler Verlag 2019, 208 S., € 15,-, ab 9
(Stand März 2021)

parrTrille wohnt mit seinen Eltern und drei Geschwistern in einem kleinen Ort an einem norwegischen Fjord. Außerdem leben hier nur noch sein Opa und Lena mit ihrer Mutter und deren Freund, doch das macht nichts, denn Trille und Lena sind erstens beste Freunde und zweitens steckt die wilde, temperamentvolle Lena so voller verrückter Einfälle, dass es nie langweilig wird. Als die zurückhaltende, hübsche Birgitte aus Amsterdam mit ihren Eltern in einen leerstehenden Hof am Hang zieht, stellt dies ihre Freundschaft auf die Probe, denn Trille ist ein bisschen verliebt in Birgitte und merkt gar nicht, dass Lena ihn ganz schön vermisst. Maria Parr hat wieder einmal ein rundum gelungenes Kinderbuch geschrieben, voller Witz, Chaos und Warmherzigkeit, immer auf Augenhöhe der Kinder, ganz ohne Betulichkeit und Kitsch. Ein Riesenvergnügen, das die großen Themen des Lebens nicht ausspart. (Syme Sigmund)

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Tomas Espedal: Wider die Kunst

Aus dem Norwegischen von Hinrich Schmidt-Henkel, (Matthes & Seitz Berlin 2015), 191 S., Suhrkamp TB, € 10,-

(Stand März 2021)

Ein Mann, allein in einem Haus, auf sich selbst zurückgeworfen. Seine Mutter ist gestorben und kurz darauf die Mutter seiner Tochter, jetzt lebt er mit der 15-jährigen allein, kann sie nicht trösten und sich nicht. Furchtbar weiß und bösartig schwarz sind die Farben in ihm und in der eiserstarrten Welt vor seinem Fenster. Er schreibt, arbeitet am Schreiben, verzagt, verzweifelt. Er schreibt – von seinen Großeltern, seinem Vater, seiner Mutter, seiner Herkunft, vom Muttersein und Vaterwerden – und über sich, sein Schreiben. Und langsam schreibt und lebt er sich ins Leben zurück. Ein Buch voller Poesie und voller Brüche, schroff und sanft zugleich. Ein berührendes Buch über das Leben und die Erinnerung, über Veränderungen und wie alles doch weiter geht – wie in einem anderen, neuen Leben – und wie der Trauer doch wieder das Gefühl von Glück folgen kann, wenn man heim kommt und spürt, dass man froh ist, zu Hause zu sein. (Syme Sigmund) Leseprobe

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Per Petterson: Nicht mit mir

Aus dem Norwegischen von Ina Kronenberger, Hanser 2014, 285 S, € 19,90, Fischer TB 10,99

(Stand März 2021)

Petterson_978-3-446-24604-1_MR.inddJim und Tommy waren Freunde, unzertrennlich wie nur Halbwüchsige es sein können. Jim, der Gymnasiast, wuchs wohlbehütet auf. Tommy hingegen, aus zerrütteten Verhältnissen stammend, vom Jugendamt dem gewalttätigen Vater entrissen und von seinen drei kleineren Geschwistern getrennt, arbeitete in der Sägemühle. Doch das Leben entfernt sie voneinander. Nun treffen sie sich nach über dreißig Jahren wieder. Tommy ist ein erfolgreicher, wohlhabender Geschäftsmann in unglücklicher Ehe, Jim ein Bibliothekar, seit einem Jahr wegen Depressionen krankgeschrieben. Beide sind an ihrem Leben gescheitert. Voller Lakonie, mit einer äußerst packenden, sparsamen Sprache beschreibt Petterson die Geschichte und die Jugendfreudschaft dieser beiden Männer, ihre existentielle Einsamkeit, ihre Wut, ihr ausweglos erscheinendes inneres Unglück, in einer Weise, die den Figuren doch voller Respekt begegnet und den Leser nachdenklich und betroffen zurück lässt. (Syme Sigmund)

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