Nicolas Mathieu: Wie später ihre Kinder

Aus dem Französischen von Lena Müller und André Hansen, Verlag Hanser Berlin 2019, 445 S., € 24,-, Piper TB 2021, € 12,-
(Stand März 2021)

Mathieu_Nicholas_Wie_später_ihre_Kinder_Dante_Connection_Buchhandlung_Danteperle Anfang der Neunziger – nichts geht mehr in diesem öden Teil Frankreichs. Die Hochöfen sind abgestellt, die Fabriken geschlossen, die Arbeiter entlassen, die Häuschen und Wohnungen der Menschen eng und provisorisch. Unter diesen miesen Bedingungen wachsen Anthony, Hacine und ihre Cliquen heran. Auf keinen Fall wollen sie eine so erbärmliche Existenz wie ihre Eltern führen. Sie wollen was vom Leben, eine schnelle Maschine, Alkohol, Drogen, Sex. Dass sich das alles nicht legal verwirklichen lässt, nehmen sie in Kauf. Anthony hat es ausgerechnet auf Steph abgesehen, die bessergestellte Tochter des Mercedeshändlers, Hacine steigt tief in den Drogenhandel ein. Das kann alles nicht gutgehen. Mathieu, von Haus aus Soziologe, geht in seinem fulminanten Roman fast unaushaltbar nah an seine Protagonisten heran, seine direkte Sprache bringt es auf den Punkt. So sehr man es sich auch wünscht, unter diesen Bedingungen gibt es kein Entrinnen. Ein großer Wurf. (Stefanie Hetze) Leseprobe

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Tommy Orange: Dort Dort

Aus dem Englischen von Hannes Meyer, Carl Hanser Verlag 2019, 288 S., € 22,-, TB dtv 2021, € 11,90

(Stand September 2022)

Orange_Tommy_Dort_dort_Danteperle_Dante_Connection_Buchhandlung„There is no there, there“ schrieb Gertrude Stein in „Everybody’s Autobiography“. „Es gibt dort kein Dort“ sagt einer der Charaktere von Tommy Oranges Debütroman. In beiden Fällen geht es um Orte und ihre Bedeutung, bei Stein um das Kindheitsende und die ländliche Gesellschaft, bei Orange um das Powwow, Treffpunkt für Generationen von Native Americans, das seit mehr als hundert Jahren an unnatürlichen Orten wie einem Stadion stattfindet. In den kurzen Kapiteln werden Geschichten erzählt davon, was es bedeutet, vertrieben zu sein und ein vages Leben zu führen zwischen einem hypothetischen „Dort der Traditionen“, das es nicht mehr gibt, und dem ohne Orientierung gelebten „Dort der Gegenwart“.
Über die lange, grausame Geschichte der Ureinwohner Nordamerikas zu schreiben ist keine leichte Aufgabe. Noch schwieriger aber ist es, darüber einen spannenden, tiefgehenden Roman zu schreiben, der von innen heraus mal brutal, mal zart, mal humorvoll erzählt. Tommy Orange hat es geschafft. Sein Buch ist berührend und einfühlsam, die Sprache stark nuanciert, die Beobachtungen sehr subtil. In einem Wort: Großartig. (Giulia Silvestri) Leseprobe

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Jamel Brinkley: Unverschämtes Glück

Aus dem amerikanischen Englisch von Uda Strätling, TB Kein & Aber, März 2021, € 14,-

(Stand März 2021)

Es sind ausschließlich Geschichten von Männern, die in diesen neun Erzählungen die Handlung bestimmen, schwarze Männer, die in einer Gesellschaft leben, in der zum Mannsein gehört, Frauen als Sexualobjekte zu betrachten, in der ein echter Mann keine Schwächen zeigt, in der – so Brinkley -ein vorherrschendes „oft zerstörerisches Bild der Männlichkeit“ besteht. Doch Brinkleys Figuren entsprechen diesem Bild nicht. Auch wenn sie versuchen, ihre Schwächen zu verbergen, sind es gebrochene Gestalten, voller Scheu, Minderwertigkeitsgefühlen und Selbstzweifeln. Ob scheinbar von sich überzeugte junge Studenten, die versuchen, Frauen aufzureißen, ein linkischer Mann mittleren Alters, der die Abende einsam in einer Bar verbringt, oder der ehemalige Frauenschwarm, der ständig seine Wampe einzuziehen versucht – Brinkley stellt die Frage, was es bedeutet, heute ein schwarzer Mann in New York zu sein, und er tut dies mit so großem psychologischem Feingefühl, dass den Lesern die Protagonisten zwar nicht unbedingt immer sympathisch werden, aber doch sehr nahe kommen. Dieser junge Autor, dessen Erzählungen in Sprache und Form überzeugen, kann sich jetzt schon mit Recht einfügen in die Reihe der großen anglo-amerikanischen Kurzgeschichten-Autoren. (Syme Sigmund)

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Ocean Vuong: Auf Erden sind wir kurz grandios

Aus dem Englischen von Anne-Kristin Mittag, Hanser Verlag 2019, 240 S., € 22,-, TB btb 2021, € 11,-

(Stand Juni 2021)

VuongWas für ein Buch! In Form eines Briefes an die eigene Mutter, die ihn als Analphabetin nie wird lesen können, schreibt der junge vietnamesischstämmige Vuong vom Aufwachsen am Rand der Gesellschaft in der amerikanischen Provinz, von Armut und Drogen.  Er schreibt von den Kriegstraumata seiner schizophrenen Großmutter, die ein Kleid nur dann kauft, wenn es feuerfest ist, von seiner überforderten Mutter, die ihn im Hinterzimmer des Nagelstudios großzieht, in dem sie arbeitet, von seiner ersten Liebe zu einem weißen, drogenabhängigen Jungen inmitten der Weizenfelder Connecticuts. Er schreibt von der Suche eines Jungen, der kontinuierlich Ausgrenzung und Gewalt ausgesetzt war, nach sich selbst, und er tut dies mit Worten wie Eissplitter, mit Sätzen voller Liebe, Poesie und Klugheit, voller Schmerz und Leichtigkeit. Ein Text, der ins Herz trifft, überwältigt, erschüttert. Großartig! (Syme Sigmund) Leseprobe

Soundtrack zum Buch

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Colson Whitehead: Die Nickel Boys

Aus dem Amerikanischen von Henning Ahrens, Hanser Verlag 2019, 224 S., € 23,-, btb TB € 12,-

(Stand März 2021)

Whitehead_Coulson_Die_Nickel_Boys_Dante_Connection_DanteperleFlorida in den frühen Sechzigern. Elwood, der in ärmlichen Verhältnissen bei seiner Großmutter aufwächst, ist ein guter strebsamer Schüler. Sein größter Schatz ist eine Schallplatte mit Reden Martin Luther Kings, dessen Worte er verinnerlicht hat. In der messerscharf getrennten Welt der Südstaaten hat er als schwarzer Schüler Glück angesichts der Aussicht, bald auf ein College für Afroamerikaner gehen zu dürfen. Dann gerät er zufällig in ein gestohlenes Auto, wird festgesetzt und landet in einer Besserungsanstalt. Dort sind die Regeln unberechenbar, es herrschen willkürliche Repression, Folter und Missbrauch über die ausgelieferten jugendlichen Insassen. Viele von ihnen überleben diese „Schule“, die sich nach außen regelkonform gibt, nicht. Elwood versucht, auch dank Martin Luther King, sich nicht unterkriegen zu lassen.
Coulson Whitehead bezieht sich in „Die Nickel Boys“ auf eine real existierende Anstalt, wo schwarze Jugendliche zu Tode gefoltert worden waren. Es ist harter Tobak, zumal er die vielen Formen der Gewaltausübung an den Opfern sehr zurückhaltend und nüchtern beschreibt, dass beim Lesen viel im Kopf passiert. Kunstvoll gelingt es Whitehead, dass wir dabeibleiben. So gönnt er uns eine Rahmenhandlung in einer Gegenwart, in der angefangen wird, diese Verbrechen aufzuklären. Elwood hat einen starken Mitstreiter, der auch überleben will. Ein Twist am Ende rückt die Dinge jedoch in ein ganz anderes Licht. Hart, aber umwerfend. (Stefanie Hetze) Leseprobe

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Lara Schützsack: Sonne, Moon und Sterne

Illustriert von Regina Kehn, FISCHER Sauerländer 2019, 240 S., € 14,-, ab 10
(Stand März 2021)

Schützsack_Sonne_Moon_Sterne_Danteperle_DanteConnectionEs ist Sommer, knallheiß und fast Ferienbeginn – alles könnte so toll sein!  Gustav aber fühlt sich jämmerlich und regelrecht verlassen. Ihre (Ja, Gustav ist ein Mädchen und niemand weiß mehr so richtig, wann der Spitzname entstanden ist …) – jedenfalls, ihre Eltern brauchen Abstand, deshalb haben sie den Caravanurlaub in Dänemark abgesagt. Dafür fährt Gustavs beste Freundin Anina jetzt mit Paula auf den Campingplatz und ihre beiden älteren Schwestern haben ohnehin nur noch ihre Smartphones in der Hand und Jungen im Kopf. Apropos, da ist auch noch Moon – und mit ihm könnte dieser Sommer glatt noch die Kurve kriegen. Lara Schützsack ist ein wunderbarer Roman für Kinder gelungen, der mit leisem Humor und viel Beiläufigkeit von großen Themen erzählt: von Zusammenhalt, Liebe und Trennung in Familien, vom Kennenlernen, Vertrauen und Loslassen in Freundschaften und sogar vom Tod. In genauen Beobachtungen entspinnt sich so ein zartes Bild von einer Zeit dazwischen: Noch ganz Kind und doch schon ein bisschen Jugendliche – mit tausend Fragen und Unsicherheiten erlebt Gustav das abwechslungsreiche Treiben der sommerlichen Großstadt. (Jana Kühn)

Leseprobe

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Amitava Kumar: Am Beispiel des Affen

Aus dem Englischen von Nikolaus Stingl. Hanser Verlag 2019, 320 S. mit Illustrationen, € 23,-

(Stand März 2021)

20-Kumar_Amitava_Am_Besispiel_des_Affen_Danteperle_Dante_ConnectionKailash, ein junger Mann aus dem eher ländlichen Indien kommt 1990 zum Studium in die USA. Er ist kein schüchterner Einwanderer, sondern staunend-begierig auf Bildung, auf Frauen, auf Sex und vor allem „versessen darauf zu glänzen“. An der New Yorker Uni schließt er sich dem charismatischen Dozenten und Aktivisten Ehsaan Ali an, der seine Studenten intellektuell herausfordert, sie aber gleichzeitig in sein Privatleben einbindet. Bewusst meidet Kailash indische Mitstudenten, in seinen Briefen an die Eltern in Indien schreibt er von irgendeinem phantastischen Amerika. Doch obwohl er immer weiter in sein amerikanisches Campus- und Beziehungsleben eintaucht, vermischen sich seine Reflexionen über sein neues Leben mit den Erinnerungen an seine Herkunft, die er allegorisch als „die eines Affen“ beschreibt.  Mit viel Ironie schildert Kumar die Geschichte seines Alter Ego und vieler kultureller Missverständnisse. Er kombiniert dessen Erfahrungen mit einer Fülle historischer Ereignisse und realer Personen, virtuos bezieht er sich auf Literatur, Wissenschaft und Filme, er verwendet Fotos, Bilder, Zeitungsausschnitte, Anmerkungen. Dies alles so leichter Hand und scheinbar mühelos, dass es großes Vergnügen bereitet,  diesen besonderen Roman einer Einwanderung zu lesen. (Stefanie Hetze) Leseprobe

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Saša Stanišić: Herkunft

Luchterhand Literaturverlag 2019, 360 S., € 22,-, btb TB 12,-

(Stand März 2021)

Stanisic herkunftDanteConnection_Danteperle Was ist Herkunft, wo komme ich her? Nicht ein Geburtsort, eine Nation oder gar Nationalität. Herkunft – das sind Erinnerungen, Geschichten, Menschen. Die Großeltern, ein Dorf in den bosnischen Bergen, aus dem die Familie stammt, die Jungendfreunde an der ARAL-Tankstelle in der Hochhaussiedlung in Heidelberg, die erste Freundin, die Eltern, die in Deutschland nicht Fuß fassen, die Kindheit in Višegrad. Saša Stanišić flicht ein Netz aus Geschichten von vor und nach der Katastrophe des Krieges, der die Familie in die Fremde zwang und alle frühen Erinnerungsorte mit Gräuelnachrichten überschrieb, verwebt feinfühlig, flirrend, poetisch und doch klarsichtig und voller Witz Erinnerungen und Anekdoten, spricht von Sprache, Emigration, Scham und Ausgrenzung, von Zerrissenheit, Familie und Freundschaft. Kein „Zugehörigkeitskitsch“, sondern Zwischentöne.
Nachdenklich, erfüllt, berührt und auch heiter verfängt man sich und will immer noch mehr. Eine unbedingte Empfehlung! (Syme Sigmund) Leseprobe

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Benjamin Tienti: Unterwegs mit Kaninchen

Illustrationen von Anke Kuhl, Dressler 2019, 208 S., € 13,-, ab 10
(Stand März 2021)

Tienti_Unterwegs_Danteperle_DanteConnectionAm liebsten verkriecht sich Andrea in einem großen Karton in seinem Kinderzimmer. Und zwar mit seinem besten Freund, einem in die Jahre gekommenen Kaninchen namens Maikel. Viel geredet und gemacht wird da zwar nicht, aber Andrea braucht ohnehin viel Zeit für sich und Rückzugsmöglichkeiten. Als sein alleinerziehender Vater eines Tages Fidaa und ihre Mutter in der geräumigen Familienwohnung einquartiert, ist es allerdings erst einmal vorbei mit der Ruhe. Fidaa, die keine Lust hat, sich als hilfsbedürftiges Flüchtlingskind abstempeln zu lassen, die begeistert Taekwando trainiert und überhaupt das Herz an der richtigen Stelle hat, sorgt für frischen Wind im Zusammenleben. Doch als sie Maikel versehentlich verletzt und dieser womöglich eingeschläfert werden soll, reißt Andrea der Geduldsfaden. Er haut ab, gegen seinen Willen jedoch zusammen mit Fidaa. Was die beiden nun erleben, ist ein mächtig abgedrehtes Anhalter-Road-Movie-Abenteuer von Berlin nach Freiburg! Benjamin Tienti beweist großes erzählerisches Können und viel Gespür für die Gefühlswelten der beiden so verschiedenen Kinder. Ein bisschen stolpernd, aber im Grunde ziemlich geradeaus suchen und finden sie allein ihre Wege und werden am Ende doch noch Freunde. (Jana Kühn)

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Eymard Toledo: Juju und Jojô

Übersetzt von Michael Kegler, Baobab Books 2019, 32 S., € 17,-, ab 5
(Stand März 2021)

42_Toledo_Eymard_Jojo_und_Juju_Danteperle_Dante_Connection_BuchhandlungDie Zwillinge Juju und Jojô leben in einer großen Stadt in Brasilien. Als die beiden jünger waren, pflanzte ihr Vater vor dem Haus einen Baum, der heute schon fünf Stockwerke hochgewachsen ist und als einziges Biotop der Straße vielen Insekten als Zuhause dient. Darüber freut sich besonders Jojô, die sich für alles begeistert, was da kreucht und fleucht!  Eymard Toledo begeistert einmal mehr mit ihren detailreichen Materialcollagen, in denen sie Kindern Einblicke in den Alltag einer hierzulande nur wenig bekannten Landeskultur bietet. (Jana Kühn)

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