Veranstaltungen
Benjamin Tienti: Unterwegs mit Kaninchen
Illustrationen von Anke Kuhl, Dressler 2019, 208 S., € 13,-, ab 10
(Stand März 2021)
Am liebsten verkriecht sich Andrea in einem großen Karton in seinem Kinderzimmer. Und zwar mit seinem besten Freund, einem in die Jahre gekommenen Kaninchen namens Maikel. Viel geredet und gemacht wird da zwar nicht, aber Andrea braucht ohnehin viel Zeit für sich und Rückzugsmöglichkeiten. Als sein alleinerziehender Vater eines Tages Fidaa und ihre Mutter in der geräumigen Familienwohnung einquartiert, ist es allerdings erst einmal vorbei mit der Ruhe. Fidaa, die keine Lust hat, sich als hilfsbedürftiges Flüchtlingskind abstempeln zu lassen, die begeistert Taekwando trainiert und überhaupt das Herz an der richtigen Stelle hat, sorgt für frischen Wind im Zusammenleben. Doch als sie Maikel versehentlich verletzt und dieser womöglich eingeschläfert werden soll, reißt Andrea der Geduldsfaden. Er haut ab, gegen seinen Willen jedoch zusammen mit Fidaa. Was die beiden nun erleben, ist ein mächtig abgedrehtes Anhalter-Road-Movie-Abenteuer von Berlin nach Freiburg! Benjamin Tienti beweist großes erzählerisches Können und viel Gespür für die Gefühlswelten der beiden so verschiedenen Kinder. Ein bisschen stolpernd, aber im Grunde ziemlich geradeaus suchen und finden sie allein ihre Wege und werden am Ende doch noch Freunde. (Jana Kühn)
Hendrik Otremba: Über uns der Schaum
Verbrecher Verlag 2017, 277 S., € 22,-
(Stand April 2021)
Es steht nicht gut um Privatdetektiv Joseph Weynberg, schwermütig und einsam ist er Alkohol und Drogen verfallen – seit kurzem dazu nicht nur diesen. Denn da gibt es die umwerfend schöne und geheimnisvolle Maude Anandin, die ein offensichtlich stinkreicher Senior von Weynberg beschatten lässt. Perfekte Zutaten für einen klassischen Noir? Weit gefehlt, denn Hendrik Otremba entwirft in seinem Debüt eine dystopische, irgendwie aus der Zeit gefallene Welt, die es in sich hat: die Menschen verroht, der Alltag kriminalisiert, Orte und Landschaften sind von Kriegen und Umweltkatastrophen verwüstet, es regnet sogar gefährlich giftig. Otremba schickt sein düsteres Paar vor gleich mehreren Verfolgern auf die Flucht quer durch verlassene Territorien. Dank überraschender Wendungen in einer literarischen Sprache, die wirklich das Genre knackt, folgt man den beiden atemlos auf ihrem gefährlichen Roadtrip … So mancher Musiker hat schon das Schreiben für sich entdeckt – aber bei Hendrik Otremba, dem Sänger der Post-Punkband Messer, kann man von einem echten Glücksfall sprechen. (Jana Kühn)
J.M. Coetzee: Die Kindheit Jesu
Aus dem Englischen von Reinhild Böhnke. S. Fischer Verlag 2013, 252 S., € 21,99, Fischer TB 2019, € 12,-
(Stand März 2021)
Nein, es ist natürlich keine Heilandsbiographie oder Weihnachtsgeschichte, auch wenn der Roman voller biblischer Erzählbilder steckt. Wirklich auf den Punkt zu bringen, was genau Coetzee erzählt, ist schwierig – aber es begeistert! Ein Mann und ein Kind kommen als Bootsflüchtlinge in einem fremden Land an, das sie mit einer labyrinthischen Bürokratie, Spanisch-Sprachkursen und neuen Namen empfängt: Von nun an heißen sie Simon und David. Die Flüchtlinge, eine aktuelle Parallele? Ja bestimmt, doch ist die Geschichte in einer nicht näher benannten Zeit erzählt, in der die Menschen für Simon spürbar anders ticken. Sie lieben leidenschaftslos, sie philosophieren über das Sein des Stuhls und schildbürgern grandios, ohne ihr neues Leben im neuen Land zu hinterfragen. Wie zum Trotz liest Simon David aus dem Klassiker Don Quijote vor und findet schließlich eine neue Mutter für David – die kommt zum Sohn fast wie Maria zum Kinde, worauf die drei gemeinsam nach Novella aufbrechen. Dann doch eine Art heilige Familie? Ein Roadmovie ist es also auch? Ja und noch viel mehr! (Jana Kühn)
Terézia Mora: Das Ungeheuer
Luchterhand Literaturverlag 2013, 688 S., € 22,99, TB Ausgabe, € 11,99
(Stand März 2021)
Darius Kopp, der Mora-Lesern schon bekannte, einfach gestrickte Gemüts- und Genussmensch, versinkt nach dem Selbstmord seiner Frau Flora in tiefer Trauer. Um nach einer geeigneten Grabstelle für die Asche seiner Frau zu suchen, macht er sich – zunächst von Floras ungarischer Herkunft und sodann vom Zufall geleitet – auf in Richtung Osteuropa, wo es ihn bis nach Georgien verschlägt. Diesem teils feinsinnig-melancholischen, teils komisch-absurden Roadmovie stellt Mora – parallel gedruckt – Aufzeichnungen Floras gegenüber, aus denen ihre schwere, von ihrem Mann nicht bemerkte Depression spricht. Damit erhält Kopps Reise eine weitere, tiefere Ebene, die uns in menschliche Abgründe schauen lässt. Moras sprachliche Kraft, ihr gekonntes Changieren zwischen verschiedenen Erzählperspektiven und ihr unverwechselbarer Ton machen das Buch zu einem großen, lange nachwirkenden Leseerlebnis. (Syme Sigmund)
Andrzej Stasiuk: Hinter der Blechwand
Aus dem Polnischen von Renate Schmidgall, Suhrkamp 2014, 349 S., Suhrkamp TB 2012 € 10,-
(Stand März 2021)
Wenn ein Roman uns in die östlichen Randzonen Europas führt, dann ist dies mit großer Wahrscheinlichkeit Andrzej Stasiuks Werk, des großen Kenners dieser uns so nahen und doch so fremden Gegend. Der Ich-Erzähler Pawel lebt in einer der vielen “sterbenden Städte”, aus denen fortzieht, wer es sich leisten kann. Er lebt – selbst am Abgrund des Daseins balancierend – von den Resten der Zivilisation, die sich im Zuge der auch hier um sich greifenden Globalisierung immer mehr auflöst. Zusammen mit Wladek und einem klapperigen LKW verkauft er westliche Second-Hand-Kleidung in den Dörfern und Städten, die noch ärmer, noch heruntergekommener und noch grauer sind als seine Heimatstadt. Stasiuk führt uns ein in die Welt der Lebenskünstler und Verlierer, der Schwarzhändler und Zigeuner. Als die beiden mit Menschenschmugglern in Konflikt geraten, entwickelt sich die Geschichte zu einem spannenden Roadmovie, von dem Pawel, ein Protagonist mit Herz und letzten Idealen, mitgerissen wird. Eine harte Geschichte voller Menschlichkeit, die einen bis zur letzten Seite nicht los lässt, die noch lange nachwirkt. (Syme Sigmund)