Delphine Perret: Björn und die weite Welt

Aus dem Französischen von Tobias Scheffel, Sauerländer 2020, 64 S., € 12,-, ab 4
(Stand März 2021)

Perret_dominique_Björn-und_die_weite_Welt_Danteperle_Dante_ConnectionManchmal ist weniger viel, viel Mehr!
Björn ist ein sympathischer Bär, der gerade aus seinem mehrmonatigen Winterschlaf erwacht ist, sich reckt, kurz wäscht und die Welt um sich herum inspiziert. Hat sich in der Zeit etwas verändert? Er trifft auf die Schildkröte und den Dachs, die auch Winterschlaf gehalten haben, spaziert mit ihnen durch den Wald. Björn stößt sich an einem Ast, es regnet Kirschblüten. Andere Tiere, die im Winter so manches erlebt haben, kommen dazu, Björn tritt willentlich gegen den Baum, damit es Blüten auf alle regnet. Dass es im Sommer weniger Kirschen geben wird, spielt im Moment keine Rolle.
Mit wenigen Worten und scheinbar ganz leicht hingezauberten Schwarz-Weiß-Skizzen auf dem schönen gelben Papier erzählt Dominique Perret von großen Entdeckungen und mehr oder weniger realen Ausflügen in die weitere Umgebung. Was passiert wohl, wenn die Tiere ein Handy finden oder der Bär mit seiner menschlichen Freundin in ein Schwimmbad geht? Viel Spaß beim Vorlesen ist garantiert mit dieser minimalistischen humorvollen Verehrung vorm großen Pu. (Stefanie Hetze)

Leseprobe

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Graham Swift: Da sind wir

Aus dem Englischen von Susanne Höbel, dtv 2020, 160 S., € 20,-, TB 2021, € 11,-

(Stand September 2021)

Swift_Graham_Da_sind_wir_danteperle_Dante_Connection_BuchhandlungDas Cover, ein stark vergrößerter Papagei, zieht einen vielleicht nicht gleich an, doch dieser schmale Roman hat es in sich. Wir befinden uns auf unsicherem Boden, dem meerumtosten Pier von Brighton, Ende der Fünfzigerjahre, als nach dem harten Krieg, noch vor dem Fernsehzeitalter die Menschen im Varietétheater rasche Zerstreuung suchten. Jack, der Conférencier, liebt Evie, die hinreißende Assistentin und Verlobte seines Freundes, des Zauberers Ronnie. Während Ronnie als Pablo auf der Bühne versessen an der perfekten, nie dagewesenen Illusion arbeitet, hat Jack, der sich in den Zuschauerraum stiehlt, nur Augen für die schöne Evie. Der Autor Swift lässt dieses hochexplosive Dreieck nicht einfach befreiend auseinanderknallen, stattdessen lässt er Ronnie spurlos wie den Papagei (!) aus seiner Show verschwinden. Auch in den fünfzig Ehejahren von Jack und Evie taucht er nicht mehr auf, hat quasi mit seinem eigenen Verschwinden die höchste Stufe der Illusionskunst erreicht. Dabei würden wir doch wie bei einem Zauberer so gerne ganz viel von ihm wissen. Magisch hält Graham Swift diese Spannung in der Schwebe. Eine absolute Empfehlung. (Stefanie Hetze) Leseprobe

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Linda Wolfsgruber: Die kleine Waldfibel

Kunstanstifter Verlag 2020, Buchgestaltung Christiane Dunkel-Koberg, 144 S., € 24,-, ab 9 und für alle
(Stand März 2021)

Wolfsgruber_Linda_Die_kleine_Waldfibel_Danteperle_Dante_connection_Buchhandlung Dieses Buch muss man einfach anfassen! Auf dem braunen Holzpapier des Einbands bringt ein Hirschkäfer die Ordnung der Titelzeilen durcheinander und unten lassen sich verschiedene Waldbäume erfühlen. Schlägt man es auf, begrüßen einen zur Einstimmung ein Aquarell mit einem Wildkirschenzweig, eine zarte Widmungsillustration und ein Baumgedicht, bevor es so richtig losgeht. Aber was ist das für eine „Fibel“? Sie erzählt von den Jahreszeiten im Wald, wie er sich verändert, sein Gesicht, seine Farben, seine Stimmungen, sein Ökosystem. Biologisches folgt auf Poetisches, heimische Bäume werden in Steckbriefen genau beschrieben, es finden sich auch leckere Rezepte und Süßholzgeraspele. Dazu eine Fülle zarter Illustrationen von ganzen Wäldern, tags, nachts, bei Regen, aber auch von Details wie Fichtenwipfeln und Samen. Transparente Blätter zeigen die Bäume mit und ohne Blätterkleid. Dieses handliche Buch ist eine wundervolle Liebeserklärung an den Wald und macht einfach Lust, mit ihm loszuziehen und die Lebensräume von Pflanzen und Tieren näher zu erkunden! (Stefanie Hetze) Blick ins Buch

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Ulla Lenze: Der Empfänger

Klett-Cotta 2020, 302 S., € 22,-, TB dtv 2022, € 12,-

(Stand Januar 2022)

Lenze_Ulla_Der_Empfänger_Dante_connection_DanteperleJosef Klein ist 22, als er 1925 mit einer Winterfahrkarte der dritten Klasse nach Amerika auswandert. Sein Bruder musste wegen eines Unfalls in Deutschland bleiben. Klein hat weder einen festen Plan, noch einen übertriebenen Ehrgeiz, er ist vielmehr froh, dem gewalttätigen Vater entronnen zu sein und ein paar Jahre später ist er mit einem unaufgeregten Job in einer Druckerei zufrieden, genießt das Leben und Treiben seines Harlemer Viertels, richtet sich eine eigene Funkstation ein und lässt die Welt der Amateurfunker zu sich in die kleine Wohnung kommen. Aber er kann dem Weltgeschehen nicht gänzlich ausweichen, das New York der 1930 ist ein politisch zutiefst zerrissenes Land. Josef Klein bekommt einen unscheinbaren Auftrag “unter Deutschen” und verfängt sich, zunächst ohne es zu ahnen, in die Spionagetätigkeit des Naziregimes.
Ulla Lenzes historischer Roman beleuchtet ein bislang wenig erschlossenes Kapitel der deutsch-amerikanischen Geschichte. Inspiriert wurde die Autorin durch die wahre Geschichte ihres Großonkels. Spannend zu lesen ist der Roman nicht zuletzt durch die antiheldische Komponente der Figur Kleins. Seine Beweggründe und Handlungen bleiben zuweilen rätselhaft und machen sie damit doch umso glaubwürdiger. Es kostet ihn unglaublich viel Kraft und Mut, seinen für ihn anfänglich harmlosen Fehler zu korrigieren und es wird nur zu deutlich, wie leicht man den Kurs unter manipulativem Druck verlieren kann. (Franziska Kramer)

Leseprobe

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Anete Melece: Der Kiosk

Atlantis Verlag 2020, 40 S., € 16,-, ab 5
(Stand März 2021)

Melece_Anete_Der_Kiosk_Danteperle_Dante_ConnectionOlga, eine ziemlich rundliche Frau, hat sich in ihrem kleinen bunten Kiosk, der mitten in einer grauen Stadt steht, eingerichtet. Sie kennt ihre Kundinnen und Kunden genau, verkauft ihnen Zeitschriften, Getränke, Süßigkeiten und schwatzt mit ihnen. Abends schließt sie die Läden und macht es sich, so gut es geht, in der Enge auf ihrem Sessel gemütlich. Sie träumt vom Reisen, von Sonnenuntergängen am Meer, von all dem, was nicht geht, da sie ihren Kiosk nicht mehr verlassen kann. Da geschieht etwas, das sie mitsamt ihrer Behausung gehörig in Bewegung bringt und sie ihre Träume verwirklichen läßt!
Diese schöne befreiende Phantasie, die uns allen derzeit besonders wohltut, hat sich die lettische Künstlerin  Anete Melece in einem farbensprühenden leuchtenden kraftvollen Bilderbuch ausgemalt. Es gibt so viel zu schauen für die Kinder, der Kiosk von draußen und drinnen, die unterschiedlichsten Menschen, das städtische Leben, Freizeit am Meer und immer wieder Olga und ihre Gefühle. Großformatige Bilder wechseln dynamisch mit kleinen Comicszenen ab, es gibt winzige Details und Landschaften aus der Vogelperspektive. Die handgeschriebenen kurzen Texte sind auf den Punkt gesetzt. Das alles zusammen ist nicht von ungefähr großes Kino. Der Ursprung für „Der Kiosk“ ist ein Animationsfilm der Künstlerin, die in  ihrem Bilderbuch Olgas Geschichte zum Teil anders erzählt und es  darüberhinaus als greifbares Objekt einsetzt. Das Kioskfenster ist ausgeschnitten, Kinder können mit dem Buch Kiosk – und was ihnen sonst noch einfällt – spielen. (Stefanie Hetze) Blick ins Buch
Der Film

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Alexandre Galand und Delphine Jacquot: Die Welt in der Wunderkammer

Aus dem Französischen von Anke Wagner-Wolff, Gerstenberg Verlag 2020, 48 S., mit zahlreichen bunten, z. T. ausklappbaren Bildern, € 22,-, ab 10
(Stand März 2021)

Garland_Alexandre_Die_Welt_in_der_wunderkammer_Danteperle_Dante_ConnectionSchon das hochformatige Cover, das wunderliche Objekte zeigt wie ausgestopfte Tiere, Masken und einen Native American, der vor einem steinzeitmäßigen Aufnahmegerät sitzt, das von einer angespannten Frau bedient wird, nimmt uns gleich mit hinein in die spezielle Welt der Wunderkammern und Kuriositätenkabinette! Vier aufklappbare Panoramaseiten, die wirklich beeindruckend groß und opulent sind, bieten faszinierende Raritäten und Sammlungen aus den vier Epochen Renaissance, Aufklärung, Industrielle Revolution und Gegenwart. Stundenlang lassen sich die Details dieser überbordenden Studiosi, Schränke und Installationen studieren, auf den darauffolgenden Seiten werden alle gezeichneten Objekte vorgestellt und kritisch eingeordnet. Die rassistischen Perspektiven der Sammler und Forscher werden benannt, aber auch die aufklärerischen Versuche, die naturhistorischen und medizinischen Sammlungen zu öffnen, sie in Museen zu verwandeln und das Wissen zu verbreiten. Und heute wird versucht, gefährdete Arten zu bewahren und mit neuen Ansätzen den Zauber der Natur in Kunst zu verwandeln. Außergewöhnlicher Lese- und Gesprächsstoff also für Kinder und Erwachsene, einfach das geniale Buch zum heutigen Welttag des Buches! (Stefanie Hetze) Blick ins Buch

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Sasha Filipenko: Rote Kreuze

Aus dem Russischen von Ruth Altenhofer, Diogenes 2020, 288 S., € 22,-, TB 2021, € 12,-

(Stand November 2021)

rote-kreuze-9783257610109Der junge, in der Trauer um seine früh verstorbene Frau gefangene Alexander zieht nach Minsk und trifft auf seine 91-jährige neue Nachbarin, die ihm zunächst gehörig auf die Nerven geht, ihn dann aber mit der Erzählung ihres Lebens in den Bann schlägt. Tatjana Alexejewna arbeitete ab den 30er Jahren als Fremdsprachensekretärin für das NKID, das Volkskommissariat für Auswärtige Angelegenheiten, in Moskau. Als ihr Mann im zweiten Weltkrieg in Kriegsgefangenschaft gerät und sie seinen Namen auf einer geheimen Liste entdeckt, die sie übersetzen soll, ist ihr klar, dass dies ihr und sein Verhängnis sein kann, denn Kriegsgefangene galten als Volksverräter, ebenso ihre Angehörigen. In ihrer Not trifft sie eine folgenschwere Entscheidung…
Sasha Filipenko hat die in Genf archivierte Korrespondenz zwischen dem Internationalen Roten Kreuz und der Sowjetregierung während des Zweiten Weltkriegs eingesehen und teils als Originaltexte, teils als Handlungsgrundlage in den Roman eingearbeitet. Dabei ist ihm ein gut lesbares und historisch fundiertes Stück Literatur gelungen, über die Zeit des stalinistischen Terrors und die Schicksale derer, die in seine Mühlen gerieten, über Unterdrückung und Erinnerungskultur. (Syme Sigmund)

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Olivia Wenzel: 1000 Serpentinen Angst

S. Fischer Verlag 2020, 352 S., € 21,-, TB 2022, € 13,-

(Stand September 2022)

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Die Icherzählerin ist Mitte dreißig und hat oft viel Angst. Als Schwarze in Deutschland hat sie Schlimmes erlebt. Ihre Mutter war zu DDR-Zeiten Punk und tut sich schwer mit dem Leben. Ihr Vater verließ die Familie sehr früh und ging zurück nach Angola. Ihr Zwillingsbruder hat sein Leben beendet. Die Großmutter, zu der sie als einzige Angehörige den Kontakt hält, steht weit rechts. Glück erlebt die namenlose Protagonistin in Städten wie Berlin und New York oder in Ländern wie Marokko und Vietnam, vor allem aber durch die Menschen, für die sie sich selbst entscheidet.
In einem der originellsten Debuts der letzten Zeit schreibt Olivia Wenzel über Herkunft, Diskriminierung, Privilegien, die Suche nach Stabilität, Identität und Beziehungen. Dafür hat sie ein außergewöhnliches Format gewählt. Der erste und der dritte Teil des Romans besteht aus Dialogen zwischen einer fragenden Stimme und der Protagonistin, während im mittleren Teil Assoziationen, Bilder und Erinnerungen fein miteinander verwebt werden. So entsteht ein vielstimmiger Raum, in dem die Autorin uns auf eine rasante und überraschende Serpentinenfahrt einlädt. (Giulia Silvestri)

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James Baldwin: Giovannis Zimmer

Aus dem Englischen von Miriam Mandelkow, mit einem Nachwort von Sasha  Salzmann. dtv 2020, 208 S., € 20,-, TB neu März 2024, € 12,-

(Stand März 2024)

„Giovannis Zimmer“ ist das vierte Buch von James Baldwins das in einer Neuübersetzung erscheint. Und wieder ein Buch wie ein Schlag in die Seele, der tief in die Unzulänglichkeiten und Begrenzungen menschlichen Daseins blicken lässt. David, ein junger homosexueller weißer Amerikaner auf Europareise in Paris, beginnt eine heftige Liebesaffäre mit dem jungen, lebensgierigen Giovanni. In kurzen Wochen genießen sie ihre Liebe, ihre Körper und nähern sich auch intellektuell an. Vor den Anfeindungen ihrer Umwelt schützen sie sich, soweit dies in einer offen homophoben Gesellschaft möglich ist. Als Davids Verlobte Hella aus Spanien zurückkehrt, wendet sich dieser von Giovanni ab und stürzt ihn in tiefe Verzweiflung.
Baldwin beschreibt die berührende Liebesgeschichte zwischen den beiden jungen Männern schnörkellos und ohne rührseligen Kitsch. Fast zwangsläufig führt Davids Trennung von Giovanni direkt in eine Katastrophe. Wie in seinen anderen Büchern greift Baldwin wieder ein Thema auf, das den Blick auf Unterdrückung und Gewalt lenkt. Die Geschichte weist aber weit über die Ursachen der gesellschaftlichen Gewalt hinaus. Sie legt offen, welche Verheerungen die Homophobie in den Opfern selbst anrichtet und diese zu Tätern werden lässt. David kann zu seiner wahren Natur nicht stehen, zu groß ist die Angst vor der gesellschaftlichen Ächtung. Damit stürzt er alle Menschen, die ihm etwas bedeuten, in Verzweiflung. Stehst du nicht zu dir, deiner Natur, deiner Liebe, stehen am Ende Unglück und Vernichtung. Ein überzeugendes Plädoyer dafür, sich zu erkennen und zu akzeptieren, egal wie feindlich deine Umwelt ist. Ein Meisterwerk – freuen wir uns auf weitere Neuauflagen! (Torsten Sigmund) Leseprobe

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Paul Scraton: Am Rand. Um ganz Berlin

Aus dem Englischen von  Ulrike Kretschmer. Matthes & Seitz 2020, 220 S., 10 Farbfotos, € 22,-

(Stand März 2021)

Scraton_Paul_Am_Rand_um_ganz_Berlin_Danteperle_Dante_ConnectionFlaneure wie Franz Hessel oder Walter Benjamin haben der Stadt Berlin immer wieder literarische Denkmäler gesetzt, sich jedoch auf das pulsierende Zentrum fokussiert. Der britische Wahlberliner Paul Scraton widmet sich dem ganz Anderen, dem Entlegenen, für das sich eigentlich niemand interessiert. 10 Wanderungen rund um Berlins Stadtgrenze in den unwirtlichen grauen Monaten Januar bis März hat der Landschaftshistoriker unternommen, ist immer am Rand der ehemaligen Grenze durch Gewerbegebiete, Wohnsiedlungen, Wälder und Brachen gelaufen, vorbei an Baustellen, Gleisen, Zäunen, Gedenktafeln. Er trifft auf Menschen und Geschäftigkeit, aber auch auf völlig verlassene Gelände, Leere und Stillstand. Faszinierend ist es zu lesen, wie sich große entscheidende Ereignisse der Geschichte und Rolle Berlins auch an den sich zerfasernden Rändern der Stadt niederschlagen und widerspiegeln. Der äußerst belesene Autor (was für ein Literaturverzeichnis!) verschmilzt sein erstaunliches Wissen, seine Offenheit und seinen geschärften Blick fürs Wesentliche in scheinbar nebensächlichen Details zu einer spannenden Erkundung dessen, was uns umgibt. Sein Buch ist eine wunderbare Einladung, es ihm nachzutun. (Stefanie Hetze) Leseprobe

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