Aus dem Amerikanischen von Kathrin Razum. Mit einem Nachwort von Peter Cameron. dtv 2015, TB 2017, 280 S., € 10,90
(Stand April 2021)
Eine Wiederentdeckung und Neuübersetzung des Romans aus dem Jahr 1962, der klassisch beginnt: Cassandra fährt zur Hochzeit ihrer eineiigen Zwillingsschwester Judith nach Hause. Doch schon ihre Stopps zum Trinken machen klar, dass sie sich alles andere als freut. Um jeden Preis will sie diese Eheschließung verhindern, schließlich ist Judith auf dem Weg, eine berühmte Musikerin zu werden und gehört vor allem ihr allein. Auf der isolierten Ranch erwarten sie nur Judith, der Vater und die Großmutter, ihre Mutter, eine Schriftstellerin, lebt nicht mehr. Kompromisslosigkeit und sich selbst ganz und gar treu zu bleiben, zeichnet diese elitäre Familie aus. Widersprüche umgehen sie mit Rückzug. Mit der Ankunft Cassandras und später des Bräutigams platzt das heikle familiäre Gleichgewicht, nimmt Fahrt auf und steigert sich dank der Kunst Dorothy Bakers zu einem großen existentiellen Drama. Carson McCullers schrieb: “. . .einfach brillant.” Dem ist nichts hinzuzufügen. (Stefanie Hetze)

Schauplatz dieses Romans ist die Budapester Großwäscherei Phönix. Hier schuften jede Menge Menschen tagaus tagein inmitten von Dämpfen, Chemikalien und kochendem heißem Wasser. Sie heizen, färben, waschen, bügeln was das Zeug hält und entfernen mit hohem physischem Einsatz all die dreckigen Hinterlassenschaften der wohlhabenderen Gesellschaft. „Gedankt“ wird ihnen mit Hungerlöhnen und prekären Arbeitsverhältnissen. Kein Wunder tun sie es ihrem Arbeitgeber, dem Wäschereibesitzer Taube, selbst ein Aufsteiger, nach und tricksen einander nach Leibeskräften aus. Was jetzt wie ein Sozialdrama aus der Arbeitswelt klingt, erhält durch die bildmächtige kraftvolle Sprache Gelléris, der tief in die Gefühlswelten und Ängste seiner Protagonisten eindringt, einen ungeheuren Sog, sozusagen einen literarischen Schleudergang, rasant übersetzt von Timea Tankó. Andor Endre Gelléri veröffentlichte „Die Großwäscherei“ 1931 im Alter von nur 24 Jahren. Ein Trüffelfund des Guggolz-Verlags. (Stefanie Hetze)
Es ist ein Moment außer Kontrolle, als eine junge Frau einem Mann in der U-Bahn eine Flasche über den Kopf zieht. Darüberhinaus brisant ist das Szenario, da der Mann ein dunkelhäutiger Asylbewerber ist und sie, ebenso dunkelhäutig, als Übersetzerin in einer Asylbehörde arbeitet. Im Kommissariat muss sie sich erklären und anhand dieser Verhöre erzählt Sinha vom zermürbenden Alltag in der Asylbehörde, wo immer wieder Elend als offiziell unzureichend bewertet wird und Lebensgeschichten deshalb mittels Lügen zu glaubwürdigen, politisch begründeten Fluchten werden müssen … sollen. Tun sie aber nicht. Und so gerät die junge Übersetzerin zwischen die Fronten und reibt sich auf: an den Ansprüchen an sie auf moralische Unterstützung und Forderungen nach falschen Übersetzungen auf der einen Seite, an den grundsätzlichen Unterstellungen falscher Übersetzungen auf der anderen. Sinha hat selbst in Frankreich als Übersetzerin in einer Asylbehörde gearbeitet. Nach Erscheinen von Erschlagt die Armen! wurde sie dort entlassen. Sie weiß, wovon sie schreibt und sie findet wunderbare, ja poetische Sprachbilder dafür. Ein Roman, der die Unzulänglichkeiten eines unmenschlichen Systems vor Augen führt und sehr wütend macht! (Jana Kühn)
Neun Geschichten von neun Männern erzählt uns Serij Zhadan, Männern mit verlebtem Aussehen und alten Narben, mit Trainingsanzügen und Lackschuhen, die sich nach Liebe sehnen, große Träume hegen und meist nur bei Sex und Alkohol landen. Doch eigentlich erzählt Zhadan in all diesen Geschichten vor allem von seiner Heimatstadt Charkiv, die auf Hügeln zwischen zwei Flüssen liegt. Es ist eine verfallende, melancholische Welt, die uns hier begegnet, voll maroder Technik, billiger Gaststätten und Staub aufwirbelnder Winde. Die Protagonisten bewegen sich zwischen verlassenen Lagerhallen, und roten Ziegelmauern über denen ein tiefhängender Mond sein bleiches Licht verströmt. Und all dies wird mit einer so poetischen Sprache erzählt, dass man oft inne hält, ein bestimmtes Bild auf sich wirken zu lassen, bis der Schlussteil ganz zu Lyrik wird, die das Vorhergegangene ergänzt und den Leser vollends in den Bann der spröden, schönen Sprache schlägt. (Syme Sigmund)
Ein Mann, allein in einem Haus, auf sich selbst zurückgeworfen. Seine Mutter ist gestorben und kurz darauf die Mutter seiner Tochter, jetzt lebt er mit der 15-jährigen allein, kann sie nicht trösten und sich nicht. Furchtbar weiß und bösartig schwarz sind die Farben in ihm und in der eiserstarrten Welt vor seinem Fenster. Er schreibt, arbeitet am Schreiben, verzagt, verzweifelt. Er schreibt – von seinen Großeltern, seinem Vater, seiner Mutter, seiner Herkunft, vom Muttersein und Vaterwerden – und über sich, sein Schreiben. Und langsam schreibt und lebt er sich ins Leben zurück. Ein Buch voller Poesie und voller Brüche, schroff und sanft zugleich. Ein berührendes Buch über das Leben und die Erinnerung, über Veränderungen und wie alles doch weiter geht – wie in einem anderen, neuen Leben – und wie der Trauer doch wieder das Gefühl von Glück folgen kann, wenn man heim kommt und spürt, dass man froh ist, zu Hause zu sein. (Syme Sigmund)
Jamaica zu Beginn des 19. Jahrhunderts. Antoinette, Tochter eines Plantagenbesitzers und ehemaligen Sklavenhalters, lebt nach dem Tod des Vaters mit ihrer Mutter allein und abgeschieden auf dem Gut. Ein paar Angestellte sind geblieben, doch der vormalige Reichtum und das Ansehen sind Vergangenheit. Die beiden werden gemieden, angefeindet. Die weißen Inselbewohner belächeln die Armut, die Schwarzen nennen sie “weiße Kakerlaken”. Hässliche Gerüchte und Halbwahrheiten sind im steten Umlauf. Als junge Frau wird Antoinette schließlich in einer Art Hochzeitskauf mit dem jungen Engländer Mr. Rochester verheiratet. Das frischvermählte Paar zieht auf ein paradiesisches Anwesen am Meer, wo jedoch binnen kürzester Zeit eine Ehehölle entsteht. Missverständnisse, Ängste, Voodoo und Alkohol treiben das Paar nicht nur auseinander, sondern in rasend blinden Hass. Rhys erzählt aus beiden Perspektiven von zwei Menschen, die kaum verschiedener sein könnten und einander schlicht nicht verstehen. Wer Charlotte Brontës “Jane Eyre” gelesen hat, wird die Protagonisten wieder erkennen, denn Jane Rhys gibt der bei Brontë überaus unsymphatisch, lediglich als wahnsinnig beschriebenen jamaikanischen Ehefrau Rochesters eine Stimme, endlich auch ihre Version der Geschichte zu erzählen. Herzzerreißend – ein wunderbarer moderner Klassiker in neuer Übersetzung! (Jana Kühn)
Bukarest im flimmrig-heißen Sommer. Über allem liegt der intensive Geruch der Lindenblüten, die an den Schuhsohlen kleben. Victoria, nach Jahren in der Schweiz wieder zurück in Rumänien, erlebt als Angestellte einen Banküberfall. Freigestellt zur “Traumaverarbeitung” nutzt sie die freie Zeit, tief in ihre Kindheitserinnerungen einzutauchen und mit dem Heute zu vergleichen. Sie streift durch ihr altes Viertel in der Innenstadt, das das Zentrum der Nomenklatura, aber auch der Überbleibsel alter mondäner Familien ist. Wie in einem Palimpsest überlagern sich die Schichten von Vergangenheit und Gegenwart. Sie trifft Menschen von damals, Jugendfreunde, frühere Liebhaber, Nachbarn und hört ihre Geschichten, Lieder, Witze und was aus ihnen geworden ist. Treffpunkte sind Gartenlauben, Bars und zum Teil riesige dekadente Wohnungen. “Wie aus der Zeit gefallen” fühlt sich die Protagonistin, doch hinter der Folie dieser vielen scheinbar malerisch-skurrilen Begegnungen schlummert viel Brisanz, kriegt die Frage nach der Schuldlosigkeit aus dem Titel Bedeutung. Dana Grigorcea erhielt 2015 beim Bachmannwettbewerb den 3sat-Preis. (Stefanie Hetze)
Achtziger Jahre in der gutbürgerlichen westdeutschen Provinz, die scheußliche Fußgängerzone bildet da fast den Nabel der Welt. Freder, der Freund des 17jährigen Erzählers, landet nach einem Selbstmordversuch in der Psychiatrie. Da Freder nicht mehr bei seinen Eltern leben soll, ist die Alternative ein leerstehendes Haus auf dem Dorf, Als er, der Erzähler und einige weitere Jugendliche einziehen, drehen sie laut “Our House” auf, was der Bauer von nebenan als “Auerhaus” versteht. Die Jugendlichen-WG hat ihren Namen weg und ist magischer Anziehungsort für alle, die nicht stromlinienförmig in die Fußstapfen ihrer Eltern und deren vorgefertigte Lebensläufe treten wollen. Es wird sehr viel geredet, gefeiert, geklaut, ausprobiert. Aber endlich ist es dann doch. Das ist traurig,aber unausweichlich. Diese kostbaren Monate “kurz vor” all den Weichenstellungen erzählt Bov Bjerg in einer warmen rhythmischen Sprache. Das erzeugt schon eine leise Wehmut, ist aber völlig unsentimental. Respekt. (Stefanie Hetze)
Judith Barrington ist 19, als ihre Eltern 1965 bei einem Schiffsunglück ums Leben kommen. Zu jung, um mit dem Verlust bewusst umzugehen, verfällt sie in eine Starre der Trauer und flüchtet kurze Zeit später in einen Sommerjob nach Spanien. Hier ist sie mit 1,80 m Körpergröße und ihren weißblonden Haaren so fremd, dass sie ihre innere Fremdheit äußerlich leben kann. Sie hat Affären mit zahllosen Männern, rast im Cabrio über kurvige Landstraßen und trinkt bis spät in die Nacht mit einer ansonsten ausschließlich männlichen Clique. Sie inszeniert sich als unabhängige Frau und tut alles, um nicht über sich selbst nachzudenken. Wie sie es schließlich schafft, sich ihrer eingenen Verzweiflung und Hilflosigkeit zu stellen und auch ihre Liebe zu Frauen für sich selbst zu akzeptieren, beschreibt Barrington in frischer, humorvoller und durchaus selbstironischer Weise. Dass gleichzeitig das Katalonien der sechziger Jahre ganz lebendig vor unseren Augen wiederersteht ist ein weiteres Plus dieses sehr lesenswerten Buches. (Syme Sigmund)
Ein Jahr lang hat die Illustratorin und Autorin Alexandra Klobouk in Lissabon gelebt, im „Land am Rand“. Ergebnis ihres Aufenthaltes ist eine wahre kleine Perle, ein illustriertes Buch voller persönlicher Entdeckungen, die sich zu einem Mosaik aus Bild und – zweisprachigem – Text fügen, ein Mosaik aus Eigenheiten und Details, aus denen sich ein Alltag formt. Wir erfahren etwas über neue Freundschaften und gemeinsame Abendessen, über Geschichte, Sprache und Musik, über die verschiedenen Viertel und die vielen Heiligen der Stadt, über die engen Gassen, in denen man anderen Fußgängern näher kommt, über Plätze, die zu Wohnzimmern werden, über Aussichtspunkte, auf denen man „Gold schaut“, aber auch über die Krise und die Veränderung der Stadt und vieles mehr. Ein Buch, in dem man bei jeder Lektüre etwas Neues entdecken kann und das Lust darauf macht, Lissabon selbst zu durchwandern.(Judith Krieg)