Erinnerungen. Aus dem Englischen von Ebba D. Drolshagen, edition fünf 2014, 216 S., € 19,90
(Stand März 2021)
Judith Barrington ist 19, als ihre Eltern 1965 bei einem Schiffsunglück ums Leben kommen. Zu jung, um mit dem Verlust bewusst umzugehen, verfällt sie in eine Starre der Trauer und flüchtet kurze Zeit später in einen Sommerjob nach Spanien. Hier ist sie mit 1,80 m Körpergröße und ihren weißblonden Haaren so fremd, dass sie ihre innere Fremdheit äußerlich leben kann. Sie hat Affären mit zahllosen Männern, rast im Cabrio über kurvige Landstraßen und trinkt bis spät in die Nacht mit einer ansonsten ausschließlich männlichen Clique. Sie inszeniert sich als unabhängige Frau und tut alles, um nicht über sich selbst nachzudenken. Wie sie es schließlich schafft, sich ihrer eingenen Verzweiflung und Hilflosigkeit zu stellen und auch ihre Liebe zu Frauen für sich selbst zu akzeptieren, beschreibt Barrington in frischer, humorvoller und durchaus selbstironischer Weise. Dass gleichzeitig das Katalonien der sechziger Jahre ganz lebendig vor unseren Augen wiederersteht ist ein weiteres Plus dieses sehr lesenswerten Buches. (Syme Sigmund)
Leseprobe

Nach fünfzehn Jahren New York reist der namenlose Erzähler mit Doppelstaatsangehörigkeit zurück nach Lagos, seinen Kindheitsort. Schon die erste Station seiner Heimreise im nigerianischen Konsulat in New York, wo er auf abstruse Verfahren zum Erreichen einer Passverlängerung trifft, konfrontiert ihn mit dem, was ihn erwartet: Korruption, Bestechlichkeit, eine unduchschaubare Bürokratie. Als er dann endlich “zu Hause” auf dem Flughafen landet, fühlt er einen kurzen Moment der Ekstase. Schnell wird sie jedoch abgelöst von Irritation und Entsetzen angesichts des Chaos, der allgegenwärtigen Schattenwirtschaft und Gewalt. Doch der Erzähler gibt nicht auf, trifft Verwandte und Freunde, sieht extremen Verfall und Vernachlässigung in Museen, Buchhandlungen und Plattenläden. Er fühlt sich vertraut, ist fasziniert, dann wieder abgestoßen und voller Wut. Nachts bei Lärm und Stromausfällen suchen ihn die Schatten seiner Vergangenheit heim. Er hatte sich damals aus Nigeria davongestohlen und versucht jetzt, Erinnerungsfetzen mit dem Moloch Gegenwart zusammenzubringen und sie in Geschichten zu verwandeln. Ihn dabei beim Lesen zu begleiten, macht den ungeheuren Reiz dieser Reiseerzählung aus. Und Coles zwischen Schönheit und Tristesse changierende Fotografien geben da noch eins drauf. (Stefanie Hetze)
Einst war Corso Bramard der jüngste Kommissar Italiens, erfolgreich und talentiert. Doch dann wurde seine Frau von dem von ihm verfolgten Serienkiller ermordet und seine Tochter verschwand spurlos. Seither lebt er zurückgezogen in einem Bergdorf des Piemont, arbeitet als Lehrer und besteigt nachts die Berge. Doch der Mörder von damals schreibt ihm nun, dreißig Jahre später, Briefe mit Liedzeilen Leonard Cohens. Als einer der Briefe auch noch ein Haar des allerersten Opfers enthält, ist Bramard gezwungen, sich erneut auf die Spuren des Killers zu begeben – und sich den Dämonen in seinem eigenen Inneren zu stellen. Hochspannend und intelligent geschrieben zieht der Roman den Leser von der ersten bis zur letzten Seite in seinen Bann. (Syme Sigmund)
Kansas, um 1870. Der junge Will Andrews trifft in Butcher´s Crossing ein, einer kleinen Stadt, nicht mehr als eine Ansammlung von Bretterbuden und Zelten. Von der Ostküste stammend hat er das Studium in Harward abgebrochen, auf der Such nach sich selbst in der reinen Natur. Der Ort lebt von der Büffeljagd, doch die Zeiten der riesigen Herden sind definitiv vorbei. Als der erfahrene Jäger Miller Andrews von einem Tal in Colorado erzählt, dessen Zugang nur er kennt und in dem es noch eine tausende Exemplare zählende Herde geben soll, finanziert der junge Mann den Treck dorthin und vier Männer brechen auf. Die ersehnte Natur setzt ihnen in all ihrer Härte zu, Hitze, Kälte, Durst, Hunger und Anstrengung bis zur totalen physischen Erschöpfung. Williams präsentiert uns ein veritables Wild-West-Setting, doch was er daraus macht ist reinste, die tiefsten Saiten in uns zum Klingen bringende Sprachkunst. Hier wird die Prärie, werden die Leiden der Jäger, ja selbst das Abschlachten der Büffel zu wahrer Poesie. Ein großer literarischer Wurf, 1960 erschienen und jetzt – endlich! möchte man ausrufen – zum ersten Mal ins Deutsche übersetzt. (Syme Sigmund)
Luis Kindheit und Jugend sind geprägt von den Auseinandersetzungen zwischen seinen Eltern und dem Alkoholismus seines Vaters. Hinter der gutbürgerlichen Fassade der reichen Zahnarztfamilie herrschen Gefühlskälte und Aggressivität, die den Jungen schon mal zum Schlafen in den Keller treiben, da die Angst vor Ratten und Spinnen kleiner ist, als die vor dem Vater. Luis ergreift die erste Möglichkeit diesem Haus zu entfliehen und beginnt, sich ein eigenes Leben aufzubauen. Doch seine Vergangenheit lässt ihn nicht los, bestimmt seine Ängste, seine instinktiven Reaktionen und die seiner Lebensgefährtinnen. Als er selbst Vater wird, holt Ihn die Last seines früheren Lebens mit aller Wucht ein.
Lydia Tschukoswkaja, enge Vertraute von Anna Achmatowa, deren Gedichte sie memorierte und vor dem Vergessen bewahrte, schrieb 1947 den Roman “Untertauchen”, der damals in der Sowjetunion nicht erscheinen durfte und dessen Veröffentlichung in den USA in den Siebzigern zu ihrem Ausschluss aus dem sowjetischen Schriftstellerverband führte. 1975 brachte ihn der Diogenes Verlag in der wunderbaren Übersetzung Swetlana Geiers heraus, er geriet hierzulande jedoch eher in Vergessenheit. Nun hat ihn der Dörlemann Verlag in einer zurückhaltend schönen Ausgabe neu verlegt. Eine bedeutende Autorin ist so zu entdecken, die undramatisch und unpathetisch von den Schrecken des Stalinismus erzählt, die auf Worte, auf die Sprache setzt, auf das, was überdauern wird.
Die israelische Autorin Lizzie Doron schreibt dezidiert von Erfahrungen aus ihrem eigenen Leben. Eindringlich hat sie die Auswirkungen der Shoah auf die Überlebenden und ihre Nachkommen zum Herzstück ihrer Romane gemacht und sich immer wieder mit den Traumata der Vergangenheit auseinandergesetzt. In Who the Fuck Is Kafka erzählt sie von der Gegenwart und einem wunderbaren Projekt, dem Versuch einer Freundschaft im heutigen Israel zwischen einem palästinensischen Journalisten und einer israelischen Schriftstellerin. Er möchte über sie beide einen Film drehen, sie ein Buch schreiben. Unterstützt von diversen enthusiastischen Unterstützerinnen außerhalb Israels bemühen sie sich um gegenseitige Besuche im Zuhause des anderen und um Treffen in den jeweiligen öffentlichen Räumen. Doch die politischen Realitäten in Israel schlagen voll zu. Es kommt zu Missverständnissen, wahnsinnig absurden Situationen und existentieller Bedrohung für ihn. Ein Buch, das unter die Haut geht und als erstes in Deutschland erscheint, wunderbar übersetzt und lektoriert von Mirjam Pressler. (Stefanie Hetze)
Paul, genannt Polo, lebt in prekären Verhältnissen in einer Pariser Vorstadt. Die Mehrheit seiner Mitschüler stammt aus arabischen, afrikanischen und Romafamilien, er aber aus einer weißen, die in den Ferien nirgendwohin fährt, nicht einmal in ein Heimatland. Er bleibt immer zurück, schämt sich als klein, hässlich und ungeliebt. Nachts muss er seinem Vater bei dessen Putzjobs helfen und lernt beim Abstauben die unterschiedlichsten Milieus kennen. Am Liebsten arbeitet er in der Bibliothek, in der er seine Liebe zu Wörtern und Büchern entdeckt. Während sein Vater Demütigungen bei der Arbeit mit zotigen Witzen wegsteckt und die Welt in einfachen Schablonen erklärt, reagiert Polo auf Ausgrenzung und Liebeskummer mit literarischen Anspielungen und schrägen Witzen, über die kaum jemand lacht. Es macht großen Spaß, seine Entwicklung zu verfolgen, da Saphia Azzeddine ihm sprachvirtuos eine große Bandbreite zwischen Jungsphantasien und Identifikation mit Romanfiguren verleiht. Und ganz nebenbei erfährt man eine Menge über Jugendliche in den berüchtigten Banlieus. (Stefanie Hetze)
Der Pharmavertreter Taha lebt zusammen mit seinem Vater in einer bescheidenen Kairoer Wohnung. Vom Fenster aus beobachtet der gehbehinderte Vater das Viertel und sieht dabei so einige Dinge, die nicht für aller Augen bestimmt sind. Als er schließlich in der gemeinsamen Wohnung erschlagen wird, ahnt sein Sohn, dass Geschehnisse von gegenüber dabei eine Rolle gespielt haben. Doch die Polizei weigert sich, Tahas Hinweisen dazu nachzugehen. Es wird offensichtlich geblockt, um lokale Machtinteressen zu wahren. Eine Hand wäscht die andere. Als Taha schließlich das Tagebuch seines Vateres findet, verhärten sich die Vermutungen, doch auch sein Vater hatte offensichtlich keine rein weiße Weste. Ein hochspannender, politischer Krimi und ein Gesellschaftsporträt des von Korruption und Machtschiebereien zerfressenen Ägyptens vor dem arabischen Frühling! (Jana Kühn)
Jim und Tommy waren Freunde, unzertrennlich wie nur Halbwüchsige es sein können. Jim, der Gymnasiast, wuchs wohlbehütet auf. Tommy hingegen, aus zerrütteten Verhältnissen stammend, vom Jugendamt dem gewalttätigen Vater entrissen und von seinen drei kleineren Geschwistern getrennt, arbeitete in der Sägemühle. Doch das Leben entfernt sie voneinander. Nun treffen sie sich nach über dreißig Jahren wieder. Tommy ist ein erfolgreicher, wohlhabender Geschäftsmann in unglücklicher Ehe, Jim ein Bibliothekar, seit einem Jahr wegen Depressionen krankgeschrieben. Beide sind an ihrem Leben gescheitert. Voller Lakonie, mit einer äußerst packenden, sparsamen Sprache beschreibt Petterson die Geschichte und die Jugendfreudschaft dieser beiden Männer, ihre existentielle Einsamkeit, ihre Wut, ihr ausweglos erscheinendes inneres Unglück, in einer Weise, die den Figuren doch voller Respekt begegnet und den Leser nachdenklich und betroffen zurück lässt. (Syme Sigmund)