Aus dem Italienischen von Julika Brandestini. (Wagenbach Verlag 2014), 112 S., Wagenbach TB € 9,90
(L’Incontro, Einaudi 2014, ca. € 14,-)
(Stand März 2021)
Das Einzelkind Maurizio verbringt jeden Sommer in einem sardischen Provinzstädtchen bei den Großeltern. Angefüllt sind diese schier unendlichen Monate von phantasievollen, teils gewagten Spielen mit den beiden Freunden Franco und Giulio, von Geschichten und Ritualen der Erwachsenen. Prägend für Maurizio ist ein großes Zugehörigkeitsgefühl, das nur von gelegentlichen Beeinträchtigungen wie Touristen und dem Schweigen der Alten bei Familiendramen gestört wird. Dann aber passiert es, der Bischof beschließt, eine neue Kirchengemeinde zu gründen, die den Ort spaltet und alle scheinbar intakten Beziehungen komplett in Frage stellt. Mit dem Ritual der Osterprozession L’incontro, sardisch S’incontru, wird der Konflikt auf die Spitze getrieben. Es gibt doch nur eine Piazza und eine Musikkapelle! Michela Murgia, die hier autobiographische Erfahrungen verdichtet, läßt ihre drei zerstrittenen Jungs eine großartige Lösung finden. (Stefanie Hetze)

Triest 1943: im Hafen wird ein schwerverletzter Mann gefunden und an Bord eines deutschen Schiffes gebracht. Als er aus dem Koma erwacht, hat er sein Sprachvermögen und sein Gedächtnis verloren. Einzige Anhaltspunkte für seine Identität sind ein finnischer Name auf dem Etikett seiner Jacke und Initialien auf einem Taschentuch. An Bord befindet sich ein exilierter finnischer Neurologe, der es zu seiner Berufung macht, den vermeintlichen Landsmann Schritt für Schritt wieder zurückzuführen, zur Sprachbeherrschung und ins Leben. So lernt „Sampo Karjalainen“ unter Mühen, wieder zu sprechen, und die Strukturen der Sprache, genauer gesagt des Finnischen, werden zum Versuch, die Welt und sich selbst zu begreifen. In den Kriegswirren reist er nach Helsinki, um sich dort „wiederzufinden“, doch alles kommt anders als gedacht. Diego Marani geht von zunächst bekannt erscheinenden Elementen aus, doch er macht etwas Neues daraus: einen Roman, der weniger von seiner Handlung lebt, sondern anhand der komplexen finnischen Sprache darüber nachdenkt, wie wir unseren Weg in die Welt bahnen, wie wir im Gespräch zu denen werden, die wir sind, wie Wörter uns formen, welche Schwierigkeiten und Bereicherungen mit dem Wechsel von einem Sprachkosmos – und damit einer Kultur – in den anderen einhergehen und wo wir möglicherweise an unsere Grenzen stoßen. Ein ungewöhnlicher, lesenswerter Roman. (Judith Krieg)
Die 10jährige Darling lebt mit ihrer Mutter in der Hüttensiedlung Paradise. Der Vater ist nach Südafrika ausgewandert, um Geld zu verdienen. Man hört nichts von ihm. Auch Geld kommt keines. So schlägt sich die Mutter allein durch. Darling verbringt viel Zeit bei ihrer frommen Großmutter mother of bones, vor allem aber ist sie viel auf sich allein gestellt – so wie auch ihre Freunde, mit denen sie durch die Straßen streicht. Rau ist die Sprache der Kinder genauso wie ihr Umgang miteinander, doch sie halten beharrlich aneinander fest, geben sich halt. Bis Darling als Teenagermädchen zur Tante in die USA geschickt wird. Sie soll es besser haben, es zu etwas bringen. Das Leben in der fremden großen Stadt mag anders sein, ist jedoch nicht weniger rau. Darling tut sich schwer mit dem Einleben, wohl weiß sie, dass es ein Zurück nicht geben wird. Simbabwe bleibt für lange Zeit eine Vorwahl im Display des Telefons. Ein großartiges Debüt, das den immer genauer schauenden Blick einer Heranwachsenden zwischen Zugehörigkeit und Fremdheit sprachlich beeindruckend einfängt. (Jana Kühn)
Dem Fisch, dem wir heute meist nur traurig in einem Brötchen oder einer Konserve begegnen, ist der neue Band der Naturkunden gewidmet: dem Hering. Der Autor, auf Rügen aufgewachsen und ehemals Maschinist auf Fischerkuttern, porträtiert den kleinen Fisch, der einst Geschichte machte. Heringe galten als Silber des Meeres, entschieden über Reich und Arm in der Wirtschaft Nordeuropas, machten mit ihren Lauten, den „Heringsfürzen“, Politik. Doch Teschke wendet sich vielen weiteren Aspekten des Herings zu, Fakten wie seine Schwarm-intelligenz, aber auch den vielen Mythen, die sich um ihn ranken. So schön, wie das silbergraue Buch mit seinen ausgewählten Abbildungen gestaltet und ausgestattet ist, müssen in vorindustrieller Fischereizeit die kilometerbreiten und langen Heringsschwärme gewesen sein, die, wenn die Sonne auf sie fiel, das Meer zum Leuchten brachten. (Stefanie Hetze)
“Wenn ich alles auspacke, was ich über die Explosion in der Arbor Dance Hall weiß, dann gibt es Lynchmorde von hier bis St.Louis.”, sagt Sheriff Adderly. Und nicht nur er schweigt lieber zur Tragödie des Sommers 1929, bei der 42 Menschen zu Tode kommen, viele schwer verletzt werden und ein ganzer Ort in stumme Trauer fällt. Wie zäher Nebel hängt das Schweigen über der kleinen Stadt. Nur Alma hört nicht auf unbequeme Fragen zu stellen. Sie hat ihre Schwester in den Flammen verloren und sucht jahrzehntelang nach den Schuldigen – macht sich unbeliebt, verliert ihre Arbeit, ihre Söhne, wird eingewiesen und ausgegrenzt. Ihrem Enkel wird sie schließlich berichten, was sie weiß. Stück für Stück nur, aus vielen Perspektiven und mit jeder Seite fesselnder eröffnet Woodrell den Blick auf die wahren Geschehnisse. Dabei erzählt er in vielen kleinen, fast skizzenhaften Episoden ein großes amerikanisches Kleinstadtpanorama im Wandel des letzten Jahrhunderts. (Jana Kühn).
“Zieh in die Stadt”, “Verschaff dir Bildung”, “Verlieb dich nicht” – so lauten die ersten drei Kapitelnamen dieses wunderbaren Romans aus Pakistan, der einerseits Entwicklungsroman ist,der die Geschichte eines Jungen aus ärmlichsten Verhältnissen erzählt, der im Laufe seines Lebens tatsächlich stinkreich wird. Verpackt ist diese Geschichte andererseits, und wie die Kapitelnamen andeuten, im Gewand eines Selbsthilfebuches. Alles zielt hin zum Erfolg des großen Geldes und zwar um jeden Preis und mit allen Mitteln, heißt von Manipulation über Korruption bis hin zu Gewalt. Darüberhinaus liest sich der Roman als eine anrührende Liebesgeschichte und als Gesellschaftssatire über das heutige Pakistan. Und dank des turbulent tragikomischen Erzähltons jagt man mit dem Protagonisten durch ein ganzes Leben im boomenden Asien, in dem das Geld dann eben doch auch nicht alles ist. (Jana Kühn)
Eine ungewöhnliche WG in einer großbürgerlichen Berliner Villa: vier alte Frauen, vier weibliche Biographien, jede mit ihren eigenen Marotten und ihren sehr speziellen Möglichkeiten, der Endlichkeit zu trotzen. Mit im Haus sind die polnische Haushälterin und die aufsässige 16jährige Enkelin der Besitzerin Charlotte samt liebes- und zahnwehkrankem Mitschüler. Ein Herrenbesuch, der Finanzberater Charlottes, wird erwartet und plötzlich laufen die Dinge völlig aus dem Ruder, verlieren die alten Frauen jede Contenance. Jetzt gibt es keinen Halt mehr und überhaupt kein Zurück!
Xuela Claudette Richardson erzählt in hohem Alter ihr Leben, welches für sie gleichzeitig das Leben der Mutter ist, die bei ihrer Geburt starb, wie auch das Leben ihrer Kinder, gegen deren Leben sie selbst sich immer wieder entschieden hat. Das hochintelligente Mädchen wächst ohne Zuwendung auf der karibischen Insel Dominica auf, die geprägt ist von gesellschaftlichen, vor allem rassistischen Hierarchien. Liebe kennt und verspürt sie nur für sich selbst. In großer Distanz lebt sie zu den Menschen, die ihr begegnen. Und in ebensolcher sprachlichen Distanz und schonungslosen Klarheit reflektiert sie über die Lebensbedingungen in einer Welt, die vom Erbe der Kolonialzeit gezeichnet ist. Der Ton ist kühl wie sinnlich, verstörend und voller poetischer Eindringlichkeit, die immer wieder Lese- und Sinnpausen herausfordert.

Endlich hat die Gorilla-Dame Sally Jones ein Zuhause an Bord der Hudson Queen gefunden und in dem finnischen Seemann Henry Koskela einen wahren Freund, da schlägt das Schicksal zu. Ein Fliesentransport nach Lissabon entpuppt sich als gefährliche Falle mit dem Ergebnis, dass die Hudson Queen sinkt und Henry Koskela wegen Mordes zu fünfundzwanzig Jahren Gefängnis verurteilt wird – und das obwohl es keine Leiche gibt. Doch dann taucht ein Hinweis auf, dass der angeblich Tote in Indien lebt. Sally Jones macht sich auf den weiten und gefährlichen Weg nach Osten, um Koskelas Unschuld zu beweisen. Fulminant phantasievoll, atmosphärisch und dicht fängt Jakob Wegelius die Stimmungen der verschiedenen Stationen dieses historischen Abenteuerromans ein – von Lissabon mit einem Überseedampfer zum prachtvollen Palast eines indischen Maharadschas. Und die mutige Heldin wächst einem mit jeder Seite mehr ans Herz – der liebenswürdigste Gorilla der Literaturgeschichte, die beste Freundin, die man haben kann und eigentlich der bessere Mensch, Sally Jones! (Jana Kühn)