Aus dem Französischen von Birgit Leib. Verlag Klaus Wagenbach 2015, 128 S., Wagenbach TB, € 9,90
(Stand März 2021)
Paul, genannt Polo, lebt in prekären Verhältnissen in einer Pariser Vorstadt. Die Mehrheit seiner Mitschüler stammt aus arabischen, afrikanischen und Romafamilien, er aber aus einer weißen, die in den Ferien nirgendwohin fährt, nicht einmal in ein Heimatland. Er bleibt immer zurück, schämt sich als klein, hässlich und ungeliebt. Nachts muss er seinem Vater bei dessen Putzjobs helfen und lernt beim Abstauben die unterschiedlichsten Milieus kennen. Am Liebsten arbeitet er in der Bibliothek, in der er seine Liebe zu Wörtern und Büchern entdeckt. Während sein Vater Demütigungen bei der Arbeit mit zotigen Witzen wegsteckt und die Welt in einfachen Schablonen erklärt, reagiert Polo auf Ausgrenzung und Liebeskummer mit literarischen Anspielungen und schrägen Witzen, über die kaum jemand lacht. Es macht großen Spaß, seine Entwicklung zu verfolgen, da Saphia Azzeddine ihm sprachvirtuos eine große Bandbreite zwischen Jungsphantasien und Identifikation mit Romanfiguren verleiht. Und ganz nebenbei erfährt man eine Menge über Jugendliche in den berüchtigten Banlieus. (Stefanie Hetze)

Leyla, Tänzerin, liebt Frauen, Altay, Arzt, liebt Männer. Sie haben geheiratet, um den Erwartungen ihrer Familien in Aserbaidschan genüge zu tun und leben nun in Berlin. Die chaotische Künstlerin Jonoun verliebt sich hier in Leyla, wird aber von Altay nicht gern gesehen. Als Leyla in ihrer alten Heimat verhaftet wird, machen sich ihre beiden ungleichen Partner gemeinsam auf in den Kaukasus. Eine ungewöhnliche Menage à troi, fesselnd erzählt, Roadmovie, Liebesroman und ein interessanter kritischer Blicke auf die heutige aserbaidschanische Gesellschaft in einem.
Beata Zatorska, schon lange ausgewandert, reist in der Weihnachts- und Winterzeit durch Polen und erinnert sich an ihre Kindheit im Riesengebirge. Ihre Großmutter Józefa war eine begnadete Köchin, die der Mangelwirtschaft trotzte und köstliche Kreationen schuf. Ihre Rezepte bilden die Grundlage für diese verlockende Hommage an die polnische Küche und ihre Traditionen.
Axolotl, Krake, Mensch, Muräne, Wasserbär … viele reale Lebewesen sind sonderbarer, als jede Fantasie sie sich ausmalen könnte. Nach dem Vorbild mittelalterlicher Kompendien erkundet dieses faszinierende Bestiarium die verblüffende Vielfalt der Schöpfung zwischen Erde, Himmel und Tiefsee und berührt dabei die großen Fragen der Menschheit nach dem Ursprung des Lebens und den Auswirkungen des technischen Fortschritts. Geistreich und inspirierend zu lesen und wunderschön gestaltet.
Die 10jährige Darling lebt mit ihrer Mutter in der Hüttensiedlung Paradise. Der Vater ist nach Südafrika ausgewandert, um Geld zu verdienen. Man hört nichts von ihm. Auch Geld kommt keines. So schlägt sich die Mutter allein durch. Darling verbringt viel Zeit bei ihrer frommen Großmutter mother of bones, vor allem aber ist sie viel auf sich allein gestellt – so wie auch ihre Freunde, mit denen sie durch die Straßen streicht. Rau ist die Sprache der Kinder genauso wie ihr Umgang miteinander, doch sie halten beharrlich aneinander fest, geben sich halt. Bis Darling als Teenagermädchen zur Tante in die USA geschickt wird. Sie soll es besser haben, es zu etwas bringen. Das Leben in der fremden großen Stadt mag anders sein, ist jedoch nicht weniger rau. Darling tut sich schwer mit dem Einleben, wohl weiß sie, dass es ein Zurück nicht geben wird. Simbabwe bleibt für lange Zeit eine Vorwahl im Display des Telefons. Ein großartiges Debüt, das den immer genauer schauenden Blick einer Heranwachsenden zwischen Zugehörigkeit und Fremdheit sprachlich beeindruckend einfängt. (Jana Kühn)
Was bleibt von einer Freundschaft, wenn der eine Freund verstirbt? Was verharrt an den Orten, in den Büchern, im flüchtigen Element der Erinnerung von der Einzigartigkeit des anderen und von der einzigartigen Verbindung? In „Erkennst du mich“ (dtv; “Mi riconosci“, Feltrinelli 2013) spürt Andrea Bajani seiner Freundschaft zu Antonio Tabucchi nach, der 2012 verstorben ist. Er umkreist die Eigenheiten, die liebenswerten und auch die schwierigen Seiten des Freundes, er erinnert sich an den Anfang ihrer Freundschaft und an die letzten gemeinsamen Momente. Schreibend kehrt Bajani an Orte zurück, an denen sie Zeit miteinander verbracht haben – im Geburtshaus Tabucchis in der Toskana, in Paris, in Portugal. Der Schriftstellerfreund nimmt auch in den Motiven und im Stil des Buches Gestalt an: Fast scheint es, Tabucchi, selbst ein Autor der Erinnerung, verschmelze hier mit seinen eigenen Romanen, wie etwa dem tagträumerischen „Lissaboner Requiem“, indem er die wichtigen Toten in seinem Leben wiedergetroffen und im Schreiben eine letzte Unterhaltung geführt hatte. Andrea Bajani hat ein sehr persönliches, zartes, traurig-heiteres und auf seine Weise mutiges Buch geschrieben, das auch der Frage nachgeht, inwiefern man dem anderen gerecht wurde oder gerecht werden kann. (Judith Krieg)
Dem Fisch, dem wir heute meist nur traurig in einem Brötchen oder einer Konserve begegnen, ist der neue Band der Naturkunden gewidmet: dem Hering. Der Autor, auf Rügen aufgewachsen und ehemals Maschinist auf Fischerkuttern, porträtiert den kleinen Fisch, der einst Geschichte machte. Heringe galten als Silber des Meeres, entschieden über Reich und Arm in der Wirtschaft Nordeuropas, machten mit ihren Lauten, den „Heringsfürzen“, Politik. Doch Teschke wendet sich vielen weiteren Aspekten des Herings zu, Fakten wie seine Schwarm-intelligenz, aber auch den vielen Mythen, die sich um ihn ranken. So schön, wie das silbergraue Buch mit seinen ausgewählten Abbildungen gestaltet und ausgestattet ist, müssen in vorindustrieller Fischereizeit die kilometerbreiten und langen Heringsschwärme gewesen sein, die, wenn die Sonne auf sie fiel, das Meer zum Leuchten brachten. (Stefanie Hetze)
„Ein Liebesroman“, so lautet der Untertitel von Per Olov Enquists neuem Buch. Und wenn der Begriff „Roman“ hier auch nicht recht zu passen scheint, so ist es doch in der Tat ein Buch über die Liebe, wenngleich nicht im Sinne des gewöhnlichen Sprachgebrauchs, mit Szenen und Gedanken fern von Klischees. Ebenso ist es ein Buch über die anderen großen Fragen des Lebens, über Menschen und Dinge, die prägen, über Bindung und Freiheit, über den Tod, über Religion und über die Frage, was das alles zu bedeuten hat. Über die Literatur selbst, über die Frage, ob das Erzählen, die Sprache einen Halt geben können, ein Muster spannen, eine Bedeutung erschaffen können, die stützt angesichts der gnadenlosen menschlichen Endlichkeit. Während er dies fragt, erschafft Enquist ein ebensolches Netz, das trägt und auch tröstet: weniger einen Roman als eine Meditation, geformt aus einprägsamen Figuren, Motiven, Bildern, Sprachrhythmus, die den autobiographisch grundierten Kosmos des Vorgängerbuches „Ein anderes Leben“ auf neue, verdichtete und konzentrierte Weise aufgreift. Keine einfache Lektüre, aber eine, die beschenkt. (Judith Krieg)
Man mag es kaum glauben, doch es sind tatsächlich schon 150 Jahre vergangen seit der erstmaligen Veröffentlichung von “Alice im Wunderland”. Lewis Carrolls Phantasie und Sprachwitz haben bis heute nichts an Charme verloren und es ist nach wie vor ein großer Spaß, die Geschichte (vor) zu lesen. Im Jubiläumsjahr ist nun eine opulente Neuausgabe erschienen. Der Halbleinenband enthält auch den zweiten Teil der Geschichte “Alice hinter den Spiegeln”. Die Prachtausgabe wird Bibliophile wie Illustrationsfans gleichermaßen begeistern. Große Illustrationskunst, die dem berühmten Klassiker mehr als gerecht wird!