Aus dem Norwegischen von Katharina Erben, Klett Kinderbuch 2021, 256 S., € 18,-, ab 10
(Stand Oktober 2021)
Norwegens Kinderliteratur hat es in sich, nimmt sich mit Lockerheit und Ideenreichtum brisanter Themen an, so auch Nora Dåsnes in ihrer Graphic Novel über die 12jährige Tuva. Am letzten Ferientag freut diese sich auf ihre Freundinnen Bao und Linnéa, beginnt ihr Tagebuch mit fünf Vorsätzen für die 7. Klasse: Tagebuchvollschreiben, einen coolen Style finden, eine tolle Bude bauen, einen Übernachtungs-geburtstag feiern und sich vielleicht verlieben. Am nächsten Tag der Schock, es ist alles anders geworden. Linnéa hat einen Freund und hängt nur am Handy, Bao ist stinksauer, Tuva hin- und hergerissen – und dann kommt ein cooles Mädchen neu ins Schulorchester.
Fein lotet Dåsnes die Gefühle und Spannungen zwischen den Mädchen aus. Es kommt zur Spaltung zwischen denen, die sich verlieben und denen, die es nicht tun. Fragen wie Cool-Sein, Reif-Sein sind plötzlich enorm wichtig, entscheiden über Ausgrenzung oder Drinsein. Gleichzeitig trauert Tuva ihrer unbeschwerten Dreierfreundschaft nach. Kommen sie wieder zueinander? Spielt es eine Rolle, vielleicht lesbisch zu sein? Getragen wird das Hin und Her der Gefühle mit Happyend von den variantenreichen Illustrationen und der Gestaltung, die mit den Regenbogenfarben spielt. Auch wunderbar inspirierend zur Nachahmung für ein eigenes Tagebuch. (Stefanie Hetze) Leseprobe

Leuchtend fröhlich strahlt dieses großformatige Wimmelbuch, dessen Geschichte direkt mit dem Cover beginnt. Viele Kinder und ihre Erwachsenen werden die Szene sofort wieder erkennen: Der Tag in der Kita beginnt und ihre Türen öffnen sich. Mit dem Aufblättern gelangt man in die Garderobe, dann zum Turnen, zum Mittagessen, Schlafen und auf den Spielplatz. Gerade junge Kinder werden es lieben, die unzähligen, liebevollen und eben alltäglichen Details zu entdecken, Vertrautes wieder zu finden und die neuen Geschichten weiter zu spinnen. Kitzing erzählt unmittelbar aus dem Erleben der Kinder und holt sie direkt in die Buchseiten ab. Und wie man es von der Illustratorin kennt, sind ihre Figuren nicht nur mitten aus dem Leben, sondern auch ganz beiläufig vielfältig: Ein Kind mit Brille und abgeklebtem Auge, eines im Rollstuhl, verschiedene Körperformen und Hauttöne – und damit es nicht nur pädagogisch daherkommt, sondern auch lustig und fantasievoll wird, gehören auch ein Kroko- und ein Nilpferdkind zur Kindergruppe. (Jana Kühn)
Esther ist mit ihren Eltern und ihrer kleinen Schwester in den Ferien am Meer, die Eltern streiten viel, sie geht mit Flippa allein an den Strand. Als diese sich mit Aisha anfreundet, lernt sie deren Bruder Salomon kennen, und plötzlich sind da Schmetterlinge im Bauch, schleicht sie sich des Nachts heimlich raus, ist das Glück greifbar.
1984 kam die US-amerikanische Dichterin, Theoretikerin, und Aktivistin Audre Lorde für einen ersten Lehraufenthalt an der Freien Universität nach Berlin. Bis sie 1992 ihrer Krebserkrankung erlag, verbrachte sie viele Aufenthalte in der Stadt und prägte die feministische wie Schwarze Szene im damaligen West-Berlin maßgeblich. Sie gilt als Vorreiterin eines intersektionalen Denkens, das Geschlecht, Sexualität, Race und Klasse nie getrennt voneinander betrachtet, und das erst heute und langsam in den Köpfen der Allgemeinheit ankommt. Als Schwarze, lesbische Dichterin, Mutter eines Sohnes und Partnerin einer weißen Frau wusste Lorde aus persönlicher Erfahrung von vielfacher Diskriminierung zu berichten, war sich aber gleichzeitig ihrer Privilegien gegenüber anderen Schwarzen Schwestern nur zu genau bewusst. In ihren Reden, Essays und Briefen kämpft sie gegen Rassismus und Sexismus. Sie engagiert sich darin für ein Miteinander in allen Unterschieden, darum einander respektvoll Zuzuhören, auch wenn es schwerfällt. Darum die Wut der Marginalisierten anzunehmen, sie nicht nur auszuhalten, sondern kreativ damit umzugehen – und zwar gemeinsam. Vehement wirbt sie um Solidarität. Das hat heute, da die identitätpolitischen Diskurse in einer breiten Gesellschaft angekommen sind, nichts an Aktualität verloren und lohnt fast 40 Jahre nach der ersten Veröffentlichung endlich in deutscher Übersetzung entdeckt zu werden. (Jana Kühn)
Die rot-goldenen Flammen auf dem Cover zündeln nicht dekorativ, sie machen klar, in diesem brennend aktuellen Roman gehts wirklich zur Sache. Es hat gebrannt und Saya, eine der drei Kameradinnen, die seit ihren Kindheitstagen in der Siedlung am Rand der Kleinstadt befreundet sind, sitzt als Verdächtige einer islamistischen Tat im Gefängnis. Saya ist die Karrierefrau der drei, während Hani als ausgebeutete Sekretärin jobbt und Kasih, die Erzählerin, ohne Arbeit ist. Kasih versucht zu begreifen, was geschehen ist und holt dabei weit aus in Erinnerungen und Reflexionen. Sie berichtet von der Selbstverständlichkeit eines Alltagsrassismus, dem sie seit jeher ausgesetzt sind und von ihren unterschiedlichen Strategien, sich zu wehren. Wie andere wollen auch sie an ihrem Heimatort ganz einfach mal ihren Spaß haben, gehen in Kneipen, auf Partys, in WG’s, treffen aber selbst in diesen aufgeschlossenen Kreisen auf Vorurteile und Hass. Unnachahmlich zieht uns die Autorin in die Gedankenwelt und Auseinandersetzungen der ausgegrenzten Freundinnen hinein, sie spricht uns direkt an und fordert uns raffiniert heraus, uns mit unseren eigenen Rassismen zu beschäftigen. Wegschauen geht nicht. Selten wirkt ein Roman so nach, erzeugt Empathie und fordert zum Handeln auf. Einfach beeindruckend! (Stefanie Hetze)
Jo ist richtig gut beim Fußball, deshalb findet vor allem ihr ehrgeiziger Vater, dass die Mädchenmannschaft sie nicht mehr richtig fördert. In den besten Verein der Stadt soll sie wechseln und mit den Jungs trainieren. Jo findet die Idee schon ok, auch weil sie ja mal Profifußballerin werden will. Als aber die Jungs in der neuen Mannschaft sie nicht ernst nehmen und mobben, als die Freundinnen der alten Mannschaft sich verraten fühlen und sie meiden, ist sie gar nicht mehr sicher, dass der Wechsel eine so gute Idee war. Ihre Selbstsicherheit schwindet auch, so dass ihr im Spiel früher undenkbare Fehler unterlaufen, und vor allem der arrogante Star bei den Jungs macht ihr jedes Training zur Hölle. Wie Jo unerwartete Unterstützung auf verschiedenen Seiten findet und sich schließlich doch noch alles zum Guten wendet, ist spannend und temporeich erzählt.
Einen Umschlag hat es meines Wissens bei Klett Kinderbuch noch nie gegeben. Aber natürlich soll diese Hülle das Buch nicht einfach schützen, sondern sie ist eine explizite Einladung, abgenommen zu werden, um hinter die Oberfläche zu schauen und da lässt sich so manches entdecken, was sich hinter der Kleidung verbirgt. Alle Menschen haben einen Körper, jeder ist einzigartig, hat seine Geschichte, verändert sich, löst in einem die unterschiedlichsten Gefühle aus. Kinder finden in diesem ABC – Kompendium klare Antworten auf Fragen aller Art rund um Körper und Gefühle. Erdenklich vieles wird erfrischend unverkrampft an- und ausgesprochen: Zum Beispiel Nackt sein, Selbstzweifel, Gemeinheiten, Haar und Haut, Transgender, Berührung … Nichts wird tabuisiert, alles wird unbefangen erklärt, behutsam betont die erfahrene Sexualpädagogin Katharina von der Gathen aber dabei, dass Kinder selbst einschätzen können, was sie möchten. Genauso die lustig-übertriebenen, dann aber auch wieder zarten Cartoons und Schautafeln der sich wieder selbst übertreffenden Illustratorin Anke Kuhl nehmen Kinder und ihre Empfindungen zum Körper wirklich ernst. (Stefanie Hetze)
Mit acht Jahren kam Dmitrij Kapitelman mit seiner Familie nach Deutschland. Mittlerweile 25-jährig beschließt er, die deutsche Staatsbürgerschaft zu beantragen, doch dafür braucht er eine „Apostille seiner Geburtsurkunde“, ein Dokument, das er nur in Kiew bekommen kann.
Claudia Durastanti erzählt in ihrem Buch „Die Fremde“, das es in Italien auf die Shortlist für den wichtigen „Premio Strega“ geschafft hat, ihre eigene Familiengeschichte. Die Eltern – beide gehörlos – reagieren auf ihre Einschränkung nicht mit Anpassung, sondern mit Rebellion. Die Mutter lebt vorübergehend als Ausreißerin auf den Straßen Roms, der Vater pfeift auf gesellschaftliche Normen. Claudia wird in Brooklyn geboren, wohin die Eltern zeitweilig auswandern, und kehrt nach deren Trennung mit Mutter und Bruder nach Italien, in ein kleines Dorf der Basilikata, zurück. Immer ist sie, sind sie „anders“, fällt die Mutter als laut und unkonventionell auf. Das Mädchen muss sich die von den Eltern nicht vermittelten Sprachen – erst Englisch, dann Italienisch – selbst aneignen und ihren Weg, der sie schließlich nach Rom und London führt, selbst finden. Doch das „Sichfremdfühlen“ bleibt ihr ständiger Begleiter.
Leuchtendbunt kommt dieses großformatige Bilderbuch daher, jede Menge Menschen, die dichtgedrängt, riesige ALLE ZÄHLEN-Schilder hochhalten. Und darum gehts in diesem Prachtbuch, das zurückhaltend mit einer zart gestrichelten Waldidylle beginnt, sich rasant steigert, bis am Ende Tausend (!) sehr diverse Menschen gemeinsam das Gleiche tun.