Éduard Louis: Das Ende von Eddy

Aus dem Französischen von Hinrich Schmidt-Henkel, (Fischer 2015), 208 S., Fischer TB € 11,-

(Stand März 2021)

44_louis_eddyNordfranzösische Provinz, Anfang der neunziger Jahre. Hier wächst Eddy auf, in einer Gesellschaft, die weder von bäuerlicher Tradition noch von städtischer Anonymität und Toleranz geprägt ist. Hier arbeitet man in der Fabrik oder im Supermarkt, die Abende vergehen in der Kneipe oder vor dem Fernseher und wichtig ist vor allem “ein echter Kerl” zu sein. Nur ist Eddy gerade das nicht. Von klein an bewegt er sich feminin, spricht in hoher Stimmlage – und ist damit ständiges Objekt der Scham seiner Eltern und der sadistischen Aggressivität seiner Mitschüler. Wie Eddy es schafft, aus dieser Hölle zu entkommen, beschreibt Louis (der hier in leicht verfremdeter Form seine erst 22 Jahre junge Autobiografie verfasst hat) in erstaunlich distanzierter Weise. Der sachlich-spröde Ton, mit dem er die verstörende Kindheit eines Schwulen erzählt, berührt zutiefst. (Syme Sigmund)

Leseprobe

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Molly Antopol: Die Unamerikanischen

Erzählungen. Aus dem Amerikanischen von Patricia Klobusiczky. Hanser 2015, 320 S., € 19,90

(Stand März 2021)

Antopol_24771_MR1.inddSie leben in New York oder in Los Angeles, in Tel Aviv, Jerusalem oder Osteuropa. Man sieht es ihnen nicht an, doch die “unamerikanischen”  Figuren dieser während des zweiten Weltkriegs, in den fünfziger Jahren oder auch in heutiger Zeit spielenden Erzählungen sind beherrscht von ihrer Vergangenheit. Sie können ihre jüdischen Wurzeln nicht abschütteln, die in Weißrussland oder der Ukraine liegen.  Es sind Menschen, die nirgends wirklich heimisch sind und deren Leben mehr vom Schicksal als selbstbestimmt wirken. Dabei herrscht eine melancholische Grundstimmung vor, die Antopol versteht nicht ins Kitschige abgleiten zu lassen. Das – im ursprünglichen Wortsinn – anrührende Debut einer jungen Autorin, welche die Kunst beherrscht, mit wenigen Worten viel zu erzählen. Hoffentlich bald mehr davon. (Syme Sigmund) Leseprobe

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John Williams: Butcher’s Crossing

Aus dem Amerikanischen von Bernhard Robben, dtv 2015, 368 S., dtv TB € 10,90

(Stand März 2021)

williams-buchers-crossing-dante-connection-buchhandlung-berlin-kreuzbergKansas, um 1870. Der junge Will Andrews trifft in Butcher´s Crossing ein, einer kleinen Stadt, nicht mehr als eine Ansammlung von Bretterbuden und Zelten. Von der Ostküste stammend hat er das Studium in Harward abgebrochen, auf der Such nach sich selbst in der reinen Natur. Der Ort lebt von der Büffeljagd, doch die Zeiten der riesigen Herden sind definitiv vorbei. Als der erfahrene Jäger Miller Andrews von einem Tal in Colorado erzählt, dessen Zugang nur er kennt und in dem es noch eine tausende Exemplare zählende Herde geben soll, finanziert der junge Mann den Treck dorthin und vier Männer brechen auf. Die ersehnte Natur setzt ihnen in all ihrer Härte zu, Hitze, Kälte, Durst, Hunger und Anstrengung bis zur totalen physischen Erschöpfung. Williams präsentiert uns ein veritables Wild-West-Setting, doch was er daraus macht ist reinste, die tiefsten Saiten in uns zum Klingen bringende Sprachkunst. Hier wird die Prärie, werden die Leiden der Jäger, ja selbst das Abschlachten der Büffel zu wahrer Poesie.  Ein großer literarischer Wurf, 1960 erschienen und jetzt – endlich! möchte man ausrufen – zum ersten Mal ins Deutsche übersetzt. (Syme Sigmund) Leseprobe

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Lydia Tschukowskaja: Untertauchen

Roman. Aus dem Russischen von Swetlana Geier. Mit einem Nachwort von Hans Jürgen Balmes. Dörlemann Verlag 2015, 256 S., € 19,-, TB Fischer 2017, € 15,-

(Stand März 2022)

Lydia Tschukoswkaja, enge Vertraute von Anna Achmatowa, deren Gedichte sie memorierte und vor dem Vergessen bewahrte, schrieb 1947 den Roman “Untertauchen”, der damals in der Sowjetunion nicht erscheinen durfte und dessen Veröffentlichung in den USA in den Siebzigern zu ihrem Ausschluss aus dem sowjetischen Schriftstellerverband führte. 1975 brachte ihn der Diogenes Verlag in der wunderbaren Übersetzung Swetlana Geiers heraus, er geriet hierzulande jedoch eher in Vergessenheit. Nun hat ihn der Dörlemann Verlag in einer zurückhaltend schönen Ausgabe neu verlegt. Eine bedeutende Autorin ist so zu entdecken, die undramatisch und unpathetisch von den Schrecken des Stalinismus erzählt, die auf Worte, auf die Sprache setzt, auf das, was überdauern wird.
Die Geschichte ist offensichtlich auobiografisch: Die Protagonistin, eine Übersetzerin, deren Mann 12 Jahre zuvor ins “Lager mit Briefverbot” verschleppt wurde, kann nicht länger verdrängen, dass er ermordet wurde und nie zu ihr zurückkehren wird. Es ist Winterende, sie macht eine Kur in einem Schriftstellerheim, wo sie sich vom Alltag aus Denunziation und Kontrolle zurückziehen und in ihre Innenwelt abtauchen will. Sie lernt dort Bilibin kennen, der ein Lager überlebt hat und dessen zögerliche Erzählungen davon sie als kostbare Details mit dem Schicksal ihres Mannes in Verbindung bringen kann. Während sich Bilibin letztlich mit dem System arrangiert, weigert sie sich zu vergessen, wegzusehen. Trotz des Themas ein großes Leseglück. (Stefanie Hetze)

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Per Petterson: Nicht mit mir

Aus dem Norwegischen von Ina Kronenberger, Hanser 2014, 285 S, € 19,90, Fischer TB 10,99

(Stand März 2021)

Petterson_978-3-446-24604-1_MR.inddJim und Tommy waren Freunde, unzertrennlich wie nur Halbwüchsige es sein können. Jim, der Gymnasiast, wuchs wohlbehütet auf. Tommy hingegen, aus zerrütteten Verhältnissen stammend, vom Jugendamt dem gewalttätigen Vater entrissen und von seinen drei kleineren Geschwistern getrennt, arbeitete in der Sägemühle. Doch das Leben entfernt sie voneinander. Nun treffen sie sich nach über dreißig Jahren wieder. Tommy ist ein erfolgreicher, wohlhabender Geschäftsmann in unglücklicher Ehe, Jim ein Bibliothekar, seit einem Jahr wegen Depressionen krankgeschrieben. Beide sind an ihrem Leben gescheitert. Voller Lakonie, mit einer äußerst packenden, sparsamen Sprache beschreibt Petterson die Geschichte und die Jugendfreudschaft dieser beiden Männer, ihre existentielle Einsamkeit, ihre Wut, ihr ausweglos erscheinendes inneres Unglück, in einer Weise, die den Figuren doch voller Respekt begegnet und den Leser nachdenklich und betroffen zurück lässt. (Syme Sigmund)

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Diego Marani: Neue finnische Grammatik

Aus dem Italienischen von Helmut Moysich, Graf Verlag 2014, 256 S.
Nur noch als E-Book erhältlich, € 9,99
(Nuova grammatica finlandese, Bompiani 2002, ca. € 15,-)
(Stand März 2021)

marani-neue-finnische-grammatik_danteperle_dante_connection-buchhandlung-berlin-kreuzbergTriest 1943: im Hafen wird ein schwerverletzter Mann gefunden und an Bord eines deutschen Schiffes gebracht. Als er aus dem Koma erwacht, hat er sein Sprachvermögen und sein Gedächtnis verloren. Einzige Anhaltspunkte für seine Identität sind ein finnischer Name auf dem Etikett seiner Jacke und Initialien auf einem Taschentuch. An Bord befindet sich ein exilierter finnischer Neurologe, der es zu seiner Berufung macht, den vermeintlichen Landsmann Schritt für Schritt wieder zurückzuführen, zur Sprachbeherrschung und ins Leben. So lernt „Sampo Karjalainen“ unter Mühen, wieder zu sprechen, und die Strukturen der Sprache, genauer gesagt des Finnischen, werden zum Versuch, die Welt und sich selbst zu begreifen. In den Kriegswirren reist er nach Helsinki, um sich dort „wiederzufinden“, doch alles kommt anders als gedacht. Diego Marani geht von zunächst bekannt erscheinenden Elementen aus, doch er macht etwas Neues daraus: einen Roman, der weniger von seiner Handlung lebt, sondern anhand der komplexen finnischen Sprache darüber nachdenkt, wie wir unseren Weg in die Welt bahnen, wie wir im Gespräch zu denen werden, die wir sind, wie Wörter uns formen, welche Schwierigkeiten und Bereicherungen mit dem Wechsel von einem Sprachkosmos – und damit einer Kultur –  in den anderen einhergehen und wo wir möglicherweise an unsere Grenzen stoßen. Ein ungewöhnlicher, lesenswerter Roman. (Judith Krieg) Leseprobe

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NoViolet Bulawayo: Wir brauchen neue Namen

Aus dem amerikanischen Englisch von Miriam Mandelkow, (Suhrkamp 2014), 261 S.,   Suhrkamp TB, € 10,-

(Stand März 2021)

noviolet-bulawayo-wir-brauchen-neue-namen_danteperle_dante_connection-buchhandlung-berlin-kreuzberg Die 10jährige Darling lebt mit ihrer Mutter in der Hüttensiedlung Paradise. Der Vater ist nach Südafrika ausgewandert, um Geld zu verdienen. Man hört nichts von ihm. Auch Geld kommt keines. So schlägt sich die Mutter allein durch. Darling verbringt viel Zeit bei ihrer frommen Großmutter mother of bones, vor allem aber ist sie viel auf sich allein gestellt – so wie auch ihre Freunde, mit denen sie durch die Straßen streicht. Rau ist die Sprache der Kinder genauso wie ihr Umgang miteinander, doch sie halten beharrlich aneinander fest, geben sich halt. Bis Darling als Teenagermädchen zur Tante in die USA geschickt wird. Sie soll es besser haben, es zu etwas bringen. Das Leben in der fremden großen Stadt mag anders sein, ist jedoch nicht weniger rau. Darling tut sich schwer mit dem Einleben, wohl weiß sie, dass es ein Zurück nicht geben wird. Simbabwe bleibt für lange Zeit eine Vorwahl im Display des Telefons. Ein großartiges Debüt, das den immer genauer schauenden Blick einer Heranwachsenden zwischen Zugehörigkeit und Fremdheit sprachlich beeindruckend einfängt. (Jana Kühn) Leseprobe

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Patrick Modiano: Gräser der Nacht

Aus dem Französischen von Elisabeth Edl, Hanser 2014, 184 S., dtv TB € 9,90
(Stand März 2021)

Der Schriftsteller Jean erinnert sich viele Jahre später an seine Liebe zu Dannie im Paris der 60er Jahre, eine geheimnisvolle junge Frau mit zwielichtigen Bekanntschaften, die eines Tages plötzlich aus seinem Leben verschwindet. Erst in Gesprächen mit einem Kommissar, der ihn wegen eines unaufgeklärten Todesfalls verhört, erfährt er die Hintergründe und politischen Verwicklungen seiner damaligen Bekannten. Wie oft bei Modiano gerät der Leser in den Sog der Erinnerung, verschwinden die Grenzen zwischen Gegenwart und Vergangenheit, bis die Zeit stillzustehen scheint, wird das Eintauchen in die teils romantische, teils fast schmerzhaft melancholische Stimmung zum Rausch, der einen auch der eigenen Realität zu entrücken vermag. Der frischgekrönte Nobelpreisträger für Literatur zeigt sich hier auf der Höhe seines Könnens. (Syme Sigmund) Leseprobe

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Mercé Rodoreda: Der Garten über dem Meer

Aus dem Katalanischen von Kirsten Brandt. Nachwort von Roger Willemsen. Mareverlag 2014, 240 S., € 28,-, Berlin Verlag TB € 11,-

(Stand März 2021)

52-rodoreda_gartenEs sind die noch friedlichen Endzwanziger oder Anfang 1930er Jahre vor dem Spanischen Bürgerkrieg. Eine Villa mit großem mediterranen Garten unweit des Meeres, die nur im Sommer von einem jungen Ehepaar aus der Jeunesse dorée, ihren Freunden und Dienstboten bewohnt wird. Der einzige, der bleibt, alles beobachtet und erinnert, ist der alte Gärtner, ein neugieriger Menschen- und Blumenfreund. Wenn die Herrschaften da sind, erspart er sich den Kinobesuch. Zuviel geschieht, tuen sich über die sechs Sommer lang Risse und Abgründe bei jeder einzelnen Gestalt auf. Jeder trägt eine komplizierte Liebesgeschichte mit sich herum. Schatten legen sich auch über den immer üppigeren Garten. Selbst das verführerische Meer, in dem anfangs ausgelassen gebadet wird, birgt eine Tragödie.
Diese Veränderungen werden von Mercé Rodoreda aus der Perspektive des lebenserfahrenen Gärtners nur angedeutet, was bei der Lektüre einen vielschichtigen melancholischen Zauber entfacht. Eine richtige Entdeckung ist dieser 1967 veröffentlichte und bislang nie ins Deutsche übersetzte Roman! Kompliment dafür an den Mareverlag, auch für die wunderbare Gestaltung. „Der Garten über dem Meer“ ist eine kostbare Danteperle im wahrsten Sinne des Wortes. (Stefanie Hetze) Leseprobe

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Hanns Zischler: Das Mädchen mit den Orangenpapieren

Galiani Verlag 2014, 112 S., € 16,99

(Stand März 2021)

59-zischler-orangenpapierEine bayrische Kleinstadt Mitte der 50er Jahre. Das Mädchen Elsa ist mit ihrem Vater aus Dresden hierhergezogen, doch Berge und Dialekt sind ihr fremd, die verstorbene Mutter und der weite Blick über die Elbe fehlen ihr. Die zarten Papierhüllen der noch besonderen Orangen mit ihrer bunten Welt aus exotischen Motiven und Fabelwesen verheißen eine fremde, weniger enge Welt. Leise bahnt sich Freundschaft an, die erste zarte Liebe  – und der Flug in einem Heißluftballon führt wenigstens für ein paar Stunden über die Berge hinaus. Es ist ein feinfühliges Buch der leisen Töne, es passiert nicht viel und doch ist jedes Kapitel ein Kleinod an sprachlicher Eleganz, das uns eine Facette des vor uns sich entfaltenden Bildes schenkt und im Herzen des Lesers seine Spuren hinterlässt, fragil und federleicht wie Orangenpapiere. (Syme Sigmund) H. Zischler liest aus seinem Buch

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