Aus dem Bosnischen von Rebekka Zeinzinger, S. Fischer Verlag 2021, 336 S., € 22,-, TB Januar 2023, € 14,-
(Stand Januar 2023)
Ein Anruf reißt die Bosnierin Sara aus ihrem beschaulichen Dubliner Leben mit Freund und Avocadopflanze, in dem ein Nudist in der Nachbarschaft der Aufreger ist. 12 Jahre war Funkstille zwischen ihnen und nun verlangt ihre Kindheitsfreundin Lejla urplötzlich, dass sie sofort einfliegen müsse, um sie nach Wien zu fahren! Gnadenlos setzt Lejla ihr Lockmittel ein, ihren Bruder Armin, Saras heimliche Liebe, der im Krieg verschwunden war, und für den Saras Vater, serbischer Polizeikommandant damals keinen Finger rührte. Schon sind wir mittendrin in den Verwerfungen, die Nationalismus, Ethnien, Sexismus, Nepotismus … und der Krieg beförderten. Die Traumata dieser Zeit lassen sich, auch wenn Sara es woanders versucht hat, nicht abschütteln. Ohne Rücksicht auf Verluste führt Lejla ihr ihre Narben vor, nimmt Sara seltsame Dunkelheit in den Landschaften wahr. Während die ungleichen Freundinnen durch einen kaputten Balkan hin zu einem steril-sauberen Österreich fahren, tauchen als Coming-Of-Age-Geschichte vielschichtige Erinnerungen an Früher auf, an all die Risse, Schatten und Verletzungen, aber auch an ihr vitales Aufbegehren gegen die Verhältnisse.
Ein Debütroman voller unerwarteter Wendungen und Anspielungen auf die jugoslawische Geschichte, aber ebenso eine hinreißende rasante Roadnovel über zwei ungleiche Freundinnen. (Stefanie Hetze)

Thorsten Nagelschmidt, Sänger der Band Muff Potter, hat nach einigen Romanen und Erzählbänden einen Episodenroman verfasst – und was für einen! Es ist Sittengemälde der Stadt, ein dichtes Berlin-Porträt, speziell ein Kreuzberg-Roadmovie rund um den Kotti und eine Art Hommage an die Menschen der Nacht. Ihre Arbeit bzw. das was sie tun, gestaltet unsere Gesellschaft, sorgt dafür, dass sie funktioniert, stellt sie aber auch auf die Probe. Da ist der blanke Taxi-Fahrer, der trotzdem eigentlich nur schnell zu seiner Liebsten möchte – ein romantischer Antrag steht an. Da ist die Rettungssanitäterin, die Ärztin werden will und deshalb auf der Abendschule das Abitur nachholt. Da ist die junge Polizistin auf ihren ersten Streifzügen rund um Kotti, Schlesi und Görli. Und auch ein Dealer, eine Flaschensammlerin, die Inhaberin eines Spätis und viele andere mehr. Wie Nagelschmidt sein Figurenensemble miteinander verknüpft, sich unwissentlich über den Weg laufen und begegen lässt, das ist ganz große Erzählkunst. Mitten im Kiez, spannend wie ein Krimi, in schlagfertigen Dialogen und mit vielen unerwarteten Wendungen rasen die Episoden durch die Nacht, die in Kreuzberg nach dem berühmten Gassenhauser ja sehr lang werden kann – mit diesem Buch in der Hand garantiert, denn sie werden es nicht weglegen können! (Jana Kühn)
James Vincent und Agnes Miller wachsen unter völlig unterschiedlichen Bedingungen auf, er das Kind einer zerrütteten weißen Arbeiterfamilie aus Long Island, sie die behütete schwarze Tochter eines Dekans in Georgia. Die beiden werden sich nie begegnen, und doch sind ihre Geschichten miteinander verwoben, wird James Sohn die Tochter von Agnes heiraten. Virtuos wechselt Regina Porter zwischen unterschiedlichen Zeit- und Handlungsebenen und entwickelt nach und nach die Schicksale von drei Generationen der beiden weit verzweigten und sich doch vielfach kreuzenden Familien, erzählt von Liebe und Freundschaft, Verwandtschaft, Hoffnungen und Rassismus, spannt den Bogen von der Zeit der Bürgerrechtsbewegung über den Vietnamkrieg bis zur Regierungszeit Obamas, führt die Leser nach Los Angeles, New Hampshire, New York und Berlin und schafft es trotz dieses weiten Panoramas jede Figur lebendig werden zu lassen, so dass man bis zur letzten Seite nicht loslassen möchte, gefesselt von diesem Kosmos voller Menschlichkeit. (Syme Sigmund)
Literatur kann uns im Glücksfall in Welten und Wahrnehmungen katapultieren, die wir nicht kennen und zu denen wir sonst keinerlei Zugang haben. „Gilead“ ist so ein Fall. In einem kleinen Ort im tiefen amerikanischen Westen schreibt ein alter protestantischer Geistlicher, der weiß, dass er bald sterben wird, einen langen Brief an seinen kleinen Sohn, um diesem zu erzählen, woher er kommt. Der alte Prediger schildert seine Kindheit als Sohn und Enkel von ebenfalls Pastoren, der eine heftig engagiert im Kampf gegen die Rassentrennung, der andere Pazifist. Er beschreibt das Verhältnis zu seinem atheistischen Bruder und zu seinem Predigerfreund und den herben Verlust, den er durch den Tod seiner ersten Frau und seiner neugeborenen Tochter erlitten hat. Kunstvoll verbindet Marilynne Robertson seine Reflexionen über den Glauben und existentielle Fragen des Seins mit den vitalen Geschehnissen der Gegenwart, die hier nicht verraten werden. Nur noch so viel: Die Geschichte der Mutter des Jungen, seiner zweiten Frau, ist bereits erschienen – „Lila“, auch unbedingt lesen. (Stefanie Hetze)
Essen und vor allem das leidenschatliche Diskutieren darüber prägen in Italien Alltag, Kultur und Kommunikation. Von den vielfältigen Facetten und regionalen Besonderheiten der Küche Italiens schreibt die Autorin kenntnisreich, sie nimmt uns mit auf eine Reise durch das ganze Land, erzählt Geschichten vom Essen, das sich längst nicht nur auf den Kalender, die Demokratie, den Eros und das Glücksgefühl auswirkt. Eine außergewöhnliche Kulturgeschichte, dazu angereichert mit stimmungsvollen SW-Fotos. (Stefanie Hetze)
Nordfranzösische Provinz, Anfang der neunziger Jahre. Hier wächst Eddy auf, in einer Gesellschaft, die weder von bäuerlicher Tradition noch von städtischer Anonymität und Toleranz geprägt ist. Hier arbeitet man in der Fabrik oder im Supermarkt, die Abende vergehen in der Kneipe oder vor dem Fernseher und wichtig ist vor allem “ein echter Kerl” zu sein. Nur ist Eddy gerade das nicht. Von klein an bewegt er sich feminin, spricht in hoher Stimmlage – und ist damit ständiges Objekt der Scham seiner Eltern und der sadistischen Aggressivität seiner Mitschüler. Wie Eddy es schafft, aus dieser Hölle zu entkommen, beschreibt Louis (der hier in leicht verfremdeter Form seine erst 22 Jahre junge Autobiografie verfasst hat) in erstaunlich distanzierter Weise. Der sachlich-spröde Ton, mit dem er die verstörende Kindheit eines Schwulen erzählt, berührt zutiefst. (Syme Sigmund)
Eine ungewöhnliche WG in einer großbürgerlichen Berliner Villa: vier alte Frauen, vier weibliche Biographien, jede mit ihren eigenen Marotten und ihren sehr speziellen Möglichkeiten, der Endlichkeit zu trotzen. Mit im Haus sind die polnische Haushälterin und die aufsässige 16jährige Enkelin der Besitzerin Charlotte samt liebes- und zahnwehkrankem Mitschüler. Ein Herrenbesuch, der Finanzberater Charlottes, wird erwartet und plötzlich laufen die Dinge völlig aus dem Ruder, verlieren die alten Frauen jede Contenance. Jetzt gibt es keinen Halt mehr und überhaupt kein Zurück!
Nigerianerinnen und Nigerianer, mehr oder weniger freiwillig in die USA eingewandert, Daheimgebliebene, Rückkehrer, Lebende, Tote, Frauen, Männer, Kinder… sind die Protagonisten dieser zwölf mitreißenden Geschichten. Ein besseres Leben wollen sie, treffen aber auf die vielfältigen „Heimsuchungen“ unserer postkolonialen Welt mit ihren tief eingegrabenen kulturellen und sozialen Gegensätzen. Wie sie auf des Messers Scheide balancieren, welche Verletzungen sie dabei erleiden, aber auch welche vitale Energie sie entfalten, breitet Chimamanda Ngozi Adichie in einem großen Erzählkosmos aus. Eine unbedingte Empfehlung. (Stefanie Hetze)