Georgi Gospodinov: Zeitzuflucht

Aus dem Bulgarischen von Alexander Sitzmann, Aufbau Verlag 2022, 342 S., € 24,-, TB Nov. 2023, € 15,-

Gaustine, ein rätselhafter Herr, der als Geriater arbeitet, macht in Zürich eine „Klinik für Vergangenheit“ auf. In der eigenartigen Struktur werden demente Patienten aufgenommen. Die Methode besteht in dem Versuch, das Gedächtnis der Patienten zu fördern, indem sie Zeit in Räumlichkeiten der Klinik verbringen, die genau wie ihnen vertraute Räume entsprechend der verschiedenen Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts eingerichtet sind. Die Idee wird sofort begrüßt, die Patienten vermehren sich, das Projekt wird immer ambitionierter…
Ein namenloser, hochsensibler Ich-Erzähler begleitet uns auf eine faszinierende Wanderung durch Städte, Länder und Zeiten und konfrontiert uns mit der Ungewissheit der Zukunft, indem er Satire, Nostalgie, Geschichte verbindet. Eine tiefgehende, tiefbewegende und vielseitige Lektüre, die der Leserin Tränen in die Augen treibt und die sie zwei Seiten später zum Lachen bringt. (Giulia Silvestri) Leseprobe

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A. Kendra Greene: Das Walmuseum, das Sie nie besuchen werden. Eine Reise nach Island

Aus dem Amerikanischen von Stefanie Schäfer, Liebeskind 2022, 272 S., € 24,-

Wer weiß schon, dass das faszinierende dünnbesiedelte Island über 265 Museen verfügt, die meist aus einer privaten Sammelleidenschaft einer Person fernab der Hauptstadt entstanden und nun von rührigen Familienangehörigen als touristische Magnete weiter betrieben werden. Die Autorin des haptisch und visuell angenehmst gestalteten Reisebuchs besucht in Island ganz unterschiedliche und mehr oder weniger obskure Sammlungen wie Petras Steinmuseum, das Phallologische Museum, das historische Museum der Heringsära, das Museum für isländische Zauberei und Hexerei und viele andere. Dabei widmet sie sich nicht nur mit viel Emphase den teils skurrilen Exponaten, mehr noch interessieren sie die reizvollen Geschichten dahinter, die der Menschen, die meist sehr prekär lebten und dennoch aus ihren mit Begeisterung betriebenen privaten Sammlungen in die Öffentlichkeit gerieten. Die isländische Leidenschaft für Geschichten und abseitig scheinende Phänomene überträgt sich mühelos bei der Lektüre dieses außergewöhnlichen Reisebuchs. (Stefanie Hetze)

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Somerville & Ross: Durch Connemara

Mit dem Eselskarren in Irland. Aus dem Englischen und Herausgegeben von Elvira Willems. AvivA 2022, 160 S., € 20,-

Im Jahr 1890 beschließen zwei toughe Ladies aus dem irischen Landadel mit Pferd und Karren durch ihre Heimat zu fahren. Die beiden Frauen müssen einige Hindernisse überwinden, bis es endlich losgeht mit Picknickkorb, Revolver, großem Regenschirm und statt des Pferds einer eigenwilligen Eselin. Und dann nehmen sie uns mit zu einer abwechslungsreichen entschleunigten Reise quer durchs irische Connemara. Sie trotzen Wind, Regen und Hunden, verfahren sich und finden nicht immer ein Gasthaus. Sehr direkt, voller Selbstironie schildern sie ihre Erlebnisse, verknüpfen Begegnungen mit der Bevölkerung scharfzüngig mit historischen Ereignissen. Unter dem Namen Somerville & Ross bildeten die Cousinen 2. Grades Violet Martin und Edith Somerville ein eingespieltes Arbeitsteam als Reiseschriftstellerinnen. Zusammen formulierten sie Artikel und Bücher, die Edith mit ihren Illustrationen anreicherte. Ihre Biografien und vieles Mehr lassen sich in dem ausführlichen Nachwort von Elvira Willems nachlesen, sie geht auch der offenen Frage der Art der Beziehung der beiden nach. Very charming! (Stefanie Hetze) Leseprobe

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Rebecca Maria Salentin: Klub Drushba

Voland & Quist 2021, 320 S., € 20,-

(Stand Januar 2022)

Fast 2700 lange Kilometer läuft Rebecca Maria Salentin auf dem „Weg der Freundschaft“, dem Fernwanderweg EB, Eisenach bis Budapest, 1983 als einziger grenzüberschreitender Fernwanderweg im Sozialismus angelegt. Nach einer Trennung und diversen Umbrüchen beschließt sie, die es eher bequem mag, schöne Kleider und Schmuck liebt und kein Gluten essen darf, dafür aber stur ihre Vorhaben durchzieht, sich eine Auszeit zu nehmen und mit einer Minimalst-Ausrüstung diese kaum bekannte Route zu begehen. Statt einsamer Selbstfindung ist ihr schönes lebenskluges Motto dabei Drushba, (= Freundschaft), organisiert sie sich Mitwandernde, ist kommunikativ und offen für alles, was ihr unterwegs begegnet, also auch mal eine längere Abkürzung oder eine ungeplante Übernachtung in einem guten Hotel. Diese alles andere als sture Haltung macht die Lektüre ihrer Wanderbeschreibung zu einem großen Vergnügen und zu einer richtigen Ermutigung, es der Autorin nachzutun. (Stefanie Hetze) Leseprobe

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Stig Dagerman: Deutscher Herbst

Aus dem Schwedischen, mit einer Briefauswahl und einem Nachwort von Paul Berf, Guggolz Verlag 2021, 190 S., € 22,-

(Stand Januar 2022)

Ein junger Journalist wandert durch die Ruinen zerbombter Städte. Sein Name ist Stig Dagerman, er ist 23 Jahre alt, Schwede und wurde im Herbst 1946 nach Deutschland geschickt, um über die Zustände in den deutschen Städten nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs zu berichten. Wochenlang beobachtet Dagerman, stellt Fragen, steigt in Keller und Unterkünfte hinab, um die dort lebenden Menschen zu treffen und mit ihnen zu reden. Es entstehen tiefgehende Texte und Reflexionen über Leid und Angst, Hass und Schuld, die ein eindrückliches Zeugnis über die Folgen der deutschen Niederlage und das Schicksal Europas abgeben. Ein wirklich einzigartiges Buch, das viel mehr als eine wunderbar geschriebene Reportage ist, ein wertvolles Zeitdokument, das selten zu finden ist. (Giulia Silvestri) Leseprobe

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Jaroslav Rudiš: Gebrauchsanweisung fürs Zugreisen

Piper 2021, 256 S., € 15,-

(Stand Januar 2022)

Eigentlich habe ich es schon immer gewusst – Zugfahren tut man um des Zugfahrens willen. Zumindest die Eisenbahnmenschen, zu denen Jaroslav Rudiš sich zählt (ganz allgemein, es gibt ja auch die Tunnel – Brücken- oder Stellwerkmenschen im Besonderen, dies nur nebenbei). Rudiš weiß alles über die Bahn und berichtet auf höchst vergnügliche Weise davon. Wir fahren mit ihm in 40 Stunden einmal durch ganz Deutschland oder von Palermo bis nach Finnland. Wir lesen von einer Lok, die singt, von Kosenamen für Lokomotiven (Nähmaschine, Wackeldackel, Tatzelwurm …), von Eisenbahnsongs und -filmen, dem Flair von Bahnhofsgaststätten, der besonderen Atmosphäre nächtlicher Bahnhofshallen und den besten Bordrestaurants. Wir erfahren, warum Loks Sexappeal haben und Kursbücher eine großartige Lektüre sind. Und dass man nie die direktesten, neuen Strecken nehmen sollte, weil die alten zwar (oder zum Glück?!) länger, aber (und!) viel schöner sind, ist eigentlich eh klar. (Syme Sigmund) Blick ins Buch

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Rumer Godden: Unser Sommer im Mirabellengarten

Aus dem Englischen von Elisabeth Pohr, Kampa Verlag 2021, 320 S., € 22,-, TB 2022, € 13,-

(Stand Mai 2022)

Im Zug tragen sie ihre besten Kleider, graue englische Schuluniformen, aber die Mutter will ihnen trotz geringer finanzieller Ressourcen unbedingt die Schlachtfelder an der Marne in Frankreich zeigen. Doch unterwegs erkrankt sie, so dass die Kinder allein in einem Hotel in der Champagne landen. Eine verwirrend neue Welt tut sich in diesem heißen Sommer für die fünf auf, ist alles fremd: Sprache, Essen, Tagesabläufe. Während sich die Jüngeren in Routinen einrichten und die 16jährige Joss sich leidend verkriecht, entwickelt sich die 13jährige Cecil vom Mirabellen in sich hineinstopfenden Kind zur leidenschaftlichen Beobachterin und Chronistin des mannigfaltigen Geschehens im Hotel. Da sind die frivole Besitzerin, die sie umschwärmende Geschäftsführerin, diverse Gäste und Angestellte, doch vor allem Eliot, der mit seinem Charme einfach alle in den Bann zieht, dessen abstoßend andere Seite Cecil bald entdeckt. Als Joss, urplötzlich Frau, die Hotelhalle betritt, setzt sie eine Lawine in Gang. Mit leichter Hand, in einem stimmungsvoll-melancholischen Ton erzählt Rumer Godden diese hinreißende Coming of Age-Geschichte. Wie schön, dass der Kampa Verlag diesen flirrenden ein bißchen nostalgischen Sommerroman wieder entdeckt hat! (Stefanie Hetze)

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Lana Bastašić: Fang den Hasen

Aus dem Bosnischen von Rebekka Zeinzinger, S. Fischer Verlag 2021, 336 S., € 22,-, TB Januar 2023, € 14,-

(Stand Januar 2023)

Ein Anruf reißt die Bosnierin Sara aus ihrem beschaulichen Dubliner Leben mit Freund und Avocadopflanze, in dem ein Nudist in der Nachbarschaft der Aufreger ist. 12 Jahre war Funkstille zwischen ihnen und nun verlangt ihre Kindheitsfreundin Lejla urplötzlich, dass sie sofort einfliegen müsse, um sie nach Wien zu fahren! Gnadenlos setzt Lejla ihr Lockmittel ein, ihren Bruder Armin, Saras heimliche Liebe, der im Krieg verschwunden war, und für den Saras Vater, serbischer Polizeikommandant damals keinen Finger rührte. Schon sind wir mittendrin in den Verwerfungen, die Nationalismus, Ethnien, Sexismus, Nepotismus … und der Krieg beförderten. Die Traumata dieser Zeit lassen sich, auch wenn Sara es woanders versucht hat, nicht abschütteln. Ohne Rücksicht auf Verluste führt Lejla ihr ihre Narben vor, nimmt Sara seltsame Dunkelheit in den Landschaften wahr. Während die ungleichen Freundinnen durch einen kaputten Balkan hin zu einem steril-sauberen Österreich fahren, tauchen als Coming-Of-Age-Geschichte vielschichtige Erinnerungen an Früher auf, an all die Risse, Schatten und Verletzungen, aber auch an ihr vitales Aufbegehren gegen die Verhältnisse.
Ein Debütroman voller unerwarteter Wendungen und Anspielungen auf die jugoslawische Geschichte, aber ebenso eine hinreißende rasante Roadnovel über zwei ungleiche Freundinnen. (Stefanie Hetze)

Leseprobe

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Marco Maurer: Meine italienische Reise

Fotografien von Daniel Etter. Prestel Verlag 2021, 240 S., € 26,-

(Stand November 2022)

„… oder wie ich mir in Sizilien einen uralten Cinquecento kaufte und einfach nach Hause fuhr“ verrät der Untertitel das Projekt. Der Journalist Marco Maurer erfüllte sich seinen Traum, mit einer Giardiniera, einem verlängerten Cinquecento aus den Sechzigern, gemächlich durch Italien gen Norden zu fahren. Auf der Suche nach „L’Italia di una volta“ lernt er frühere Besitzer seines Bauernautos kennen, das sich mit kulinarischen Köstlichkeiten wie Öl, Pasta und Safran füllt, je mehr er Menschen trifft, die diese mit Leidenschaft erzeugen, verarbeiten und verspeisen. In ihren Küchen darf er, gelernter Molkereifachmann, zuschauen, mitmachen, mitessen und sich ihre Geschichten anhören. Der Wert, der hier gutem Essen und herzlicher Gastfreundschaft zugemessen wird, erinnert ihn an seine eigene Großmutter, die in Bayern auf dem Dorf ein Café führte und nach ähnlichen Maximen wie seine italienischen Gesprächspartner lebte. So entwickelt sich die vermeintlich nostalgische Reise zu einem Ankommen im Hier und Jetzt. Die eindrucksvollen Fotografien seines Kompagnons Daniel Etter und die göttlichen meist von den Nonnas überlieferten Familienrezepte erhöhen das Vergnügen und lassen uns genussvoll mitreisen! (Stefanie Hetze) Leseprobe

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Bill François: Die Eloquenz der Sardine

Aus dem Französischen von Frank Sievers, C.H.Beck Verlag 2021, 234 S., € 22,- TB Februar 2023, € 16,-

(Stand Februar 2023)

„Unglaubliche Geschichten aus der Welt der Flüsse und Meere“ verspricht der Untertitel dieses so kurzweiligen wie interessanten Buches. Bill François ist seit seiner Kindheit vom Meer und seinen Bewohnern fasziniert. In plaudernd-anekdotenhaftem Ton erzählt er von Fischen, Mollusken und Krustentieren und vor allem von ihren vielfältigen Weisen zu kommunizieren. Denn unter der Wasseroberfläche wird musiziert, geblitzt, geblendet und gestänkert, was das Zeug hält. So erfahren wir von Muschelmusik und der Kinderstube der Kraken, vom einsamsten Wal der Welt, den vereinten Jagdstrategien von Muräne und Barsch sowie die Herkunft der Legende des goldenen Vlies‘. Wir lernen, warum die Sardine sich unsichtbar machen kann und weshalb die Nonnengänse im Mittelalter als Meeresfrucht galten. François nimmt uns mit auf Zanderjagd im Pariser Untergrund, und berichtet von der erstaunlichen Kooperation und Kommunikation australischer Fischer mit einer Gruppe Killerwalen. Dabei spart er die verheerenden Auswirkungen des industriellen Fischfangs nicht aus.
Eine erhellende und unterhaltsame Lektüre, die einen mit ganz neuer Empathie auf die so fremde Welt der Wasserbewohner blicken lässt. (Syme Sigmund) Leseprobe

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