Timothy Snyder, Nora Krug: Über Tyrannei

Illustrierte Ausgabe. Aus dem amerikanischen Englisch von Andreas Withensohn. Verlag C.H.Beck 2021, 128 S., € 20,-

(Stand Januar 2022)

„Leiste keinen vorauseilenden Gehorsam“, mit diesem überaus wichtigen Appell gegen Obrigkeitshörigkeit, beginnt Timothy Snyders bereits 2017 erschienenes Plädoyer gegen Populismus und Autoritarismus. Die preisgekrönte Illustratorin Nora Krug hat aus Timothy Snyders 20 Lektionen für den Widerstand nun ein aufrüttelndes aufregendes Kunstwerk geschaffen. Collagen aus Snyders Texten, ihren großformatigen Zeichnungen, kleinen Vignetten und teils kolorierten Fotofundstücken aus diversen historischen Situationen und Ländern machen die Dringlichkeit, sich sofort und überall gegen Tyrannei und ihre Vorzeichen zur Wehr zu setzen, noch plastischer. Viel Stoff und Anregung zum politischen Handeln, gerade für Jugendliche und junge Erwachsene. (Stefanie Hetze) (Leseprobe)

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Scott McClanahan: Crap

Aus dem amerikanischen Englisch von Clemens J. Setz, ars vivendi 2021, 195 S., € 20,-

(Stand November 2021)

Scott – trotz stark autobiographischer Züge nicht mit dem Autor zu verwechseln – wächst in West Virginia auf, in einer Familie von Berg- und Fabrikarbeitern, Kriminellen und skurrilen Freaks, bei seiner starrköpfigen Großmutter Ruby und seinem Onkel Nathan. Ruby, die 13 Kinder zur Welt gebracht hat, und Onkel Nathan, der spastisch gelähmt ist, sich so sehr eine Frau wünscht und voll Güte, Humor und Sehnsucht steckt. Krankheit und Tod gehören hier zum Leben wie Freude und Liebe. Es ist eine Welt der strukturellen Armut, die Welt von Pizza Hut und Ein-Euro-Shops, Brathuhn am Sonntag, Grubenunglücken und Förderklassen, von der McClanahan in chronologisch ungeordneten Fragmenten erzählt, und er tut dies mit so viel Zuneigung, ja Zärtlichkeit für seine Figuren, dass die Beschreibung des Grotesken, der Selbstmörder, Zwangsneurotiker und Gescheiterten, nie herablassend wirkt, nie zur Klamotte wird. Ein grandios absurdes Theater im Ticken der Zeit, voller Komik – bis einem immer wieder das Lachen im Hals stecken bleibt.
Übersetzt wurde der Roman von dem 2021 mit dem Büchner-Preis ausgezeichneten großen Sprachkünstler Clemens J. Setz. (Syme Sigmund) Leseprobe

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Max Annas: Der Hochsitz

Rowohlt 2021, 272 S., € 22,-, TB November 2022, € 13,-

(Stand November 2022)

Osterferien 1978, ein Dorf in der Eifel, nahe der Grenze zu Luxemburg. Die beiden zehnjährigen Mädchen Sanne und ihre beste Freundin Ulrike zieht es immer wieder zu ihrem Versteck, dem Hochsitz im Wald. Hier werden sie nicht gesehen, bekommen aber so allerhand mit. Nicht nur die Autos mit den heimlichen Liebespaaren, sondern auch die beiden fremden Frauen, die hier immer wieder auftauchen. Als die Freundinnen in einer Nacht direkt vor Sannes Haus einen Mord beobachten, sind sie die einzigen, die die dunkle Gestalt sehen, die sich sofort danach entfernt. Da ihnen keiner glaubt, müssen sie eben auf eigene Faust ermitteln.
Max Annas hat hier einen echten Krimi mit überraschender Auflösung geschrieben. Doch Der Hochsitz ist mehr als das. Tief taucht man ein in die Atmosphäre der westdeutschen Provinz der siebziger Jahre einschließlich der RAF-Suchplakate im Postamt, Fußball-WM-Sammelalben mit Hanuta-Klebebildern und Bonanza-Rad.
Ein spannendes und – dank der Gewitztheit der Hobbydetektivinnen und dem Erzähltalent von Annas – äußerst kurzweiliges Lesevergnügen. (Syme Sigmund)

Leseprobe

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Douglas Stuart: Shuggie Bain

Aus dem Englischen von Sophie Zeitz, Hanser Verlag 2021, 494 S., € 26,- TB Piper Verlag Februar 2023, € 15,-

(StandFebruar 2023)

Shuggie ist ein zarter, höflicher und rücksichtsvoller Junge, der lieber mit seiner Puppe als mit anderen Jungs Fußball spielt. Vor allem aber liebt er seine schöne gepflegte Mutter Agnes, die ihr rasantes Äußeres wie eine Waffe gegen alle Widrigkeiten des Lebens und ihrer Mitmenschen einsetzt. In der britischen Upperclass wäre Shuggie wahrscheinlich gut aufgehoben, im Glasgow der Achtziger, in den elenden Wohnungen der Arbeiterfamilien, die in der Thatcher Ära nach dem Aus von Stahl und Bergbau kein Land mehr gewinnen können und allein auf Stütze, Kindergeld und das illegale Anzapfen von Stromzählern angewiesen sind, ist er trotz älterer Halbgeschwister auf sich gestellt. Alkohol, Gewalt und Perspektivlosigkeit bestimmen das Leben der Familien. Shuggies Vater macht sich feige aus dem Staub, seine Mutter will nicht klein beigeben und kämpft trotz ihrer alles dominierenden Alkoholsucht mit unglaublicher Energie für ein besseres Leben. Diese faszinierende Vitalität, dem Leben trotz aller depressiven Umstände etwas Schillerndes, Schönes abzutrotzen, das Agnes mit Leib und Seele verkörpert, feiert der Autor trotz ihres letztlichen Scheiterns in seinem aufsehenerregenden, mit dem BOOKER-Preis 2020 prämierten Debüt mit einer opulenten berührenden Sprache, die einen nicht mehr loslässt. (Stefanie Hetze) Leseprobe

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Fatima Daas: Die jüngste Tochter

Aus dem Französischen von Sina de Malafosse, Claassen Verlag 2021, 192 S., € 20,-

(Stand Juli 2021)

»Ich heiße Fatima«: So beginnt jedes kurze Kapitel dieses autobiografischen Romans, der wie ein hypnotischer Singsang klingt. Wir lernen ein junges Mädchen kennen und begleiten sie auf ihrem Weg zur Selbstbestimmung. Fatima Daas, die jüngste Tochter algerischer Migranten in Frankreich, wächst in einem Elternhaus auf, in dem Liebe und Sexualität als Tabu gelten und Zärtlichkeiten vermieden werden. Sie lebt in dem größtenteils muslimischen Außenbezirk Clichy-sous-Bois und verbringt mehrere Stunden pro Tag in den öffentlichen Verkehrsmitteln, wo sie sich wie eine Touristin fühlt, die die Pariser Gebräuche beobachtet. Schon instabil in der Schulzeit, wird sie zur verhaltensgestörten Erwachsenen und macht vier Jahre lang eine Psychotherapie – ihre längste Beziehung. Aber als sie Abstand von ihrer Familie gewinnt und ihr eigenes Selbstbewusstsein entwickelt, setzt sie sich direkter mit ihrer Anziehungskraft auf Frauen auseinander und damit, wie diese mit ihrer Religion, die sie weiterhin praktiziert, zusammenpassen kann. Als Nina in ihr Leben tritt, weiß sie nicht genau, was sie braucht, hat aber das Gefühl, dass ihr etwas Wesentliches gefehlt hat. Brutal, ernst, berührend, klug: Dieses Buch ist eine Granate! Es wurde mit dem Internationalen Literaturpreis 2021 ausgezeichnet! (Giulia Silvestri) Leseprobe

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Rumer Godden: Unser Sommer im Mirabellengarten

Aus dem Englischen von Elisabeth Pohr, Kampa Verlag 2021, 320 S., € 22,-, TB 2022, € 13,-

(Stand Mai 2022)

Im Zug tragen sie ihre besten Kleider, graue englische Schuluniformen, aber die Mutter will ihnen trotz geringer finanzieller Ressourcen unbedingt die Schlachtfelder an der Marne in Frankreich zeigen. Doch unterwegs erkrankt sie, so dass die Kinder allein in einem Hotel in der Champagne landen. Eine verwirrend neue Welt tut sich in diesem heißen Sommer für die fünf auf, ist alles fremd: Sprache, Essen, Tagesabläufe. Während sich die Jüngeren in Routinen einrichten und die 16jährige Joss sich leidend verkriecht, entwickelt sich die 13jährige Cecil vom Mirabellen in sich hineinstopfenden Kind zur leidenschaftlichen Beobachterin und Chronistin des mannigfaltigen Geschehens im Hotel. Da sind die frivole Besitzerin, die sie umschwärmende Geschäftsführerin, diverse Gäste und Angestellte, doch vor allem Eliot, der mit seinem Charme einfach alle in den Bann zieht, dessen abstoßend andere Seite Cecil bald entdeckt. Als Joss, urplötzlich Frau, die Hotelhalle betritt, setzt sie eine Lawine in Gang. Mit leichter Hand, in einem stimmungsvoll-melancholischen Ton erzählt Rumer Godden diese hinreißende Coming of Age-Geschichte. Wie schön, dass der Kampa Verlag diesen flirrenden ein bißchen nostalgischen Sommerroman wieder entdeckt hat! (Stefanie Hetze)

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Audre Lorde: Sister Outsider

Aus dem Englischen von Eva Bonné und Marion Kraft. Hanser Verlag 2021, 256 S., € 20,-

(Stand Mai 2021)

1984 kam die US-amerikanische Dichterin, Theoretikerin, und Aktivistin Audre Lorde für einen ersten Lehraufenthalt an der Freien Universität nach Berlin.  Bis sie 1992 ihrer Krebserkrankung erlag, verbrachte sie viele Aufenthalte in der Stadt und prägte die feministische wie Schwarze Szene im damaligen West-Berlin maßgeblich. Sie gilt als Vorreiterin eines intersektionalen Denkens, das Geschlecht, Sexualität, Race und Klasse nie getrennt voneinander betrachtet, und das erst heute und langsam in den Köpfen der Allgemeinheit ankommt. Als Schwarze, lesbische Dichterin, Mutter eines Sohnes und Partnerin einer weißen Frau wusste Lorde aus persönlicher Erfahrung von vielfacher Diskriminierung zu berichten, war sich aber gleichzeitig ihrer Privilegien gegenüber anderen Schwarzen Schwestern nur zu genau bewusst. In ihren Reden, Essays und Briefen kämpft sie gegen Rassismus und Sexismus. Sie engagiert sich darin für ein Miteinander in allen Unterschieden, darum einander respektvoll Zuzuhören, auch wenn es schwerfällt. Darum die Wut der Marginalisierten anzunehmen, sie nicht nur auszuhalten, sondern kreativ damit umzugehen – und zwar gemeinsam. Vehement wirbt sie um Solidarität. Das hat heute, da die identitätpolitischen Diskurse in einer breiten Gesellschaft angekommen sind, nichts an Aktualität verloren und lohnt fast 40 Jahre nach der ersten Veröffentlichung endlich in deutscher Übersetzung entdeckt zu werden.  (Jana Kühn) Leseprobe

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Jacqueline Woodson: Alles glänzt

Aus dem Amerikanischen von Yvonne Eglinger, Piper Verlag 2021, 208 S., € 22,-

(Stand Mai 2021)

Scheinbar unverfänglich kommt dieses bunte, im Flattersatz gedruckte Buch daher: Die sechzehnjährige Melody wird mit einem Hausball in die Gesellschaft eingeführt. Sie trägt, wie in ihrer Upper Middle Class-Familie seit Generationen üblich, Korsett, Strumpfhalter und Seidenstrümpfe, darüber ein unbenutztes Kleid, das ihre Mutter Iris eigentlich vor gut 16 Jahren bei ihrem Fest hätte tragen sollen, aber sie war schwanger mit Melody …
Und schon ist nichts mehr harmlos in dieser schwarzen Familie, in der jede:r eine eigene – berechtigte – Wahrnehmung auf die Geschehnisse hat. Iris, die unbedingt Karriere machen will, behält ihr Baby, um es alsbald zu verlassen. Im College verliebt sie sich in eine Frau. Melodys junger Vater zieht, selbst ohne familiären Halt, mit zu ihren Großeltern in deren Haus in Brooklyn. Trotz der Zuwendung der drei vermisst Melody ihre abwesende Mutter. Raffiniert wechselt Woodson zwischen Melodys Perspektive und den Sichtweisen der anderen, kombiniert sie Ereignisse, Gespräche und Gedanken aus der Vergangenheit mit dem Heute, erzählt von Liebe und Hoffnungen, aber auch von Rassismus, Schicksalsschlägen und von komplizierten Verhältnissen zwischen den Generationen. Schwebend leicht verwebt Woodson diese vielen Facetten und feiert mit Alles glänzt die Widerstandsfähigkeit schwarzer Familien in den USA. (Stefanie Hetze) Leseprobe

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Shida Bazyar: Drei Kameradinnen

Verlag Kiepenheuer & Witsch 2021, 352 S., € 22,-,
TB 2022, € 13,-

(Stand September 2022)

Die rot-goldenen Flammen auf dem Cover zündeln nicht dekorativ, sie machen klar, in diesem brennend aktuellen Roman gehts wirklich zur Sache.  Es hat gebrannt und Saya, eine der drei Kameradinnen, die seit ihren Kindheitstagen in der Siedlung am Rand der Kleinstadt befreundet sind, sitzt als Verdächtige einer islamistischen Tat im Gefängnis. Saya ist die Karrierefrau der drei, während Hani als ausgebeutete Sekretärin jobbt und Kasih, die Erzählerin, ohne Arbeit ist. Kasih versucht zu begreifen, was geschehen ist und holt dabei weit aus in Erinnerungen und Reflexionen. Sie berichtet von der Selbstverständlichkeit eines Alltagsrassismus, dem sie seit jeher ausgesetzt sind und von ihren unterschiedlichen Strategien, sich zu wehren.  Wie andere wollen auch sie an ihrem Heimatort ganz einfach mal ihren Spaß haben, gehen in Kneipen, auf Partys, in WG’s, treffen aber selbst in diesen aufgeschlossenen Kreisen auf Vorurteile und Hass. Unnachahmlich zieht uns die Autorin in die Gedankenwelt und Auseinandersetzungen der ausgegrenzten Freundinnen hinein, sie spricht uns direkt an und fordert uns raffiniert heraus, uns mit unseren eigenen Rassismen zu beschäftigen. Wegschauen geht nicht. Selten wirkt ein Roman so nach, erzeugt Empathie und fordert zum Handeln auf.  Einfach beeindruckend! (Stefanie Hetze)

Leseprobe

Im sehr hörenswerten Podcast von RBB und LCB spricht die Autorin mit Anne-Dore Krohn und Thorsten Dönges über ihr Buch.

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Jenny Offill: Wetter

Aus dem amerikanischen Englisch von Melanie Walz, Piper 2021, 224 S., € 20,-, TB Mai 2022, € 12,-
(Stand Mai 2021)

Lizzie lebt in New York, arbeitet nach gescheiterten akademischen Ambitionen als Bibliothekarin, hat einen Sohn, einen Mann, der sie liebt, und eine enge Beziehung zu ihrem Bruder, einem Ex-Junkie. Bei der Arbeit für einen Blog ihrer Freundin und ehemaligen Dozentin zur Klimakrise arbeitet sie sich zunehmend in die teils bizarren, teils nachvollziehbaren Gedanken der Prepper-Szene ein und stellt ihre eigene, für Katastrophen nicht gerüstete Lebensweise immer mehr in Frage. Zwischen Familienleben und Alltagssorgen legt sich die Zukunftsangst wie ein Tuch auf ihre Gedanken, und während ihre Freundin irgendwann Zuflucht in der menschenleeren Wüste sucht, bleibt sie doch wo sie ist, in der Gewissheit, dass es zum Handeln schon längst zu spät ist.
Offill entwirft in kaleidoskopartigen, kurzen, scheinbar zusammenhangslosen Textfetzen voller Lakonie und trockenem Humor ein Bild der Absurdität und Befremdlichkeit dessen, was gemeinhin als normal gilt, und liefert uns ein meisterhaft komponiertes, teils verstörendes, teils höchst amüsantes Panorama der Ängste, und des alltäglichen Wahnsinns der linksliberalen New Yorker Mittelschicht während der Trump-Ära, gefangen zwischen Klimakrise, Zukunftsangst, Psychotherapie und Yogakurs.
(Syme Sigmund) Leseprobe

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