Suhrkamp Verlag 2020, 284 S., € 22,-, TB Oktober 2021, € 12,-
(Stand Oktober 2021)

Eine junge Frau geht kehrt zurück an den Ort, an dem sie aufgewachsen ist, als ihre Kindheitsfreunde heiraten. Es ist kein cooler, lebendiger Ort, dort glänzt nur das Metall der Fabriken und der Eisenbahn. Viele Erinnerungen, wie sie ihre Kindheit dort verbrachte und was mit ihren Eltern (der Vater Fabrikarbeiter, die Mutter Migrantin) alles war, kommen hoch. Es tut weh und macht wütend, sich damit zu konfrontieren. Und doch geht die Autorin weiter und erzählt von ihrem Weg durchs Bildungsversprechen. Der mühsame Aufstieg in der Gesellschaft sowie der alltägliche Rassismus bilden den Kern dieses atemberaubenden Debüts.
Erzählt wird die Geschichte der namenlosen Protagonistin direkt, ernst und schmucklos, was es noch kraftvoller macht. Es gibt in diesem Roman keinen Platz für Ironie oder stilistische Spiele. Er ist für alle, die seit den Büchern von Didier Eribon und Annie Ernaux auf ähnliche Titel warten. Genug wird es davon vielleicht nie geben, hier ist nun eine wunderbar erzählte Lebensgeschichte, die vielen von uns eine Stimme gibt. (Giulia Silvestri) Leseprobe

Hawk, ein Wachmann in einem leerstehenden Krankenhaus, ohne Bindung und ohne Gefühle. Nur sein roter Alfa Romeo bedeutet ihm alles, und nun muss er es ertragen, dass ihn jemand abfackelt. Schlimmer geht aber immer, denn dieser Jemand hat auch seiner Wohnung den Garaus gemacht. Dabei hatte Hawk sich nach einer gescheiterten Liebe zur Kneipenwirtin Lu und Jahren im Knast in der Provinz sicher gefühlt, glaubte er seiner Vergangenheit entkommen zu sein. Allein um seine Haut zu retten, muss er den Verfolger finden. Mit einem geklauten Krankenwagen fährt er zurück in die Stadt, in den Kiez und startet an den alten Orten. Diese haben sich in der langen Zeit natürlich radikal verändert. Hawk hat Schwierigkeiten sich zu orientieren und überhaupt bei etwas Vertrautem anzusetzen. Diese Schieflage bei der Suche weitet sich vom Ausfinden und Ergreifen seines Verfolgers unmerklich auf die Vorgeschichte und damit seine eigene Vergangenheit aus. Schicht um Schicht enthüllt die Autorin Details seiner Kindheit und Herkunft, die der erst einmal abgedroschenen Gangster-Loser-Geschichte einen rasanten Drive geben, seinen Furor erklären und dem Titel des Romans Bedeutung verleihen. (Stefanie Hetze)
„Mothers“, der Titel, ist ein wenig irreführend. Nicht jede Geschichte dieses außerordentlichen Debüts beschäftigt sich mit einer Mutterfigur oder -beziehung. Doch in den drei Erzählungen, die von einer einzigen Protagonistin handeln und den Band einrahmen, ist die Mutter, besser deren Abwesenheit, zentral. In ihrer Kindheit erlebt Eva ihre Mutter als rein physisch anwesend, als Erwachsene verbleibt ihr nur ein zerfledderter Europareiseführer der Verstorbenen und dann, selbst Mutter, kann sie nicht anders, als sich ihrer eigenen Tochter zu entziehen. Vieles bleibt dabei ungesagt. Entfremdung, Überforderung und die Unfähigkeit, mit den eigenen Gefühlen umzugehen, und andererseits die Suche nach Freiheit, Liebe oder nach Anerkennung treiben Chris Powers Charaktere an, lassen sie kreuz und quer durch die Welt ziehen und sich ins Leben stürzen, wann immer es sich bietet. Im Nu erschafft der Autor, der seit Jahren im „Guardian“ eine Kolumne über Short Stories schreibt, eine umwerfende Intensität, die nachhallt. (Stefanie Hetze)
Thandi, Tochter einer südafrikanischen Mutter und eines US-amerikanischen Vaters, erzählt in knappen, prägnanten Darstellungen den Verlauf ihres Lebens. Im Mittelpunkt steht dabei die Frage: Wohin geht man, wenn einem der Boden unter den eigenen Füßen weggezogen wird? Als Thandi noch ins College geht, erkrankt ihre Mutter an Krebs: Die Möglichkeit, dass sie sterben kann, wird schnell zur Gewissheit. Dieser große Verlust überwältigt sie und ihren Vater. Trotz allem müssen sie einen Weg finden, um ihr Leben weiterzuführen.
Nach außen hin scheint alles zu stimmen. Osman studiert relativ erfolgreich Cello, spielt Fußball, wohnt in einer WG und bandelt mit seiner Mitbewohnerin an – ein Studentenleben eben. Doch hinter der Oberfläche kratzt es gehörig. Ohne Kontaktlinsen sieht er schlecht. Sein Dozent bescheinigt ihm eine gute Spieltechnik, aber emotionale Schwachstellen. Mit seinem Vater,
einem Profimusiker, will er keinen Kontakt, seiner Ziehmutter, hört er nicht richtig zu und erzählt nichts von sich. Auch mit seiner Mitbewohnerin kommt er sich nicht näher. Erst der Zufallsfund eines besprochenen Diktiergeräts bringt ihn dazu, jemandem wirklich zuzuhören. Um das Nichtzuhören, Nichthören und Zuhören, um Stimmen, Töne und Schweigen, um Musik und Stille kreist Katharina Mevissens faszinierender Roman, ein Debütschatz.