Aus dem Russischen von Ruth Altenhofer, Diogenes 2020, 288 S., € 22,-, TB 2021, € 12,-
(Stand November 2021)
Der junge, in der Trauer um seine früh verstorbene Frau gefangene Alexander zieht nach Minsk und trifft auf seine 91-jährige neue Nachbarin, die ihm zunächst gehörig auf die Nerven geht, ihn dann aber mit der Erzählung ihres Lebens in den Bann schlägt. Tatjana Alexejewna arbeitete ab den 30er Jahren als Fremdsprachensekretärin für das NKID, das Volkskommissariat für Auswärtige Angelegenheiten, in Moskau. Als ihr Mann im zweiten Weltkrieg in Kriegsgefangenschaft gerät und sie seinen Namen auf einer geheimen Liste entdeckt, die sie übersetzen soll, ist ihr klar, dass dies ihr und sein Verhängnis sein kann, denn Kriegsgefangene galten als Volksverräter, ebenso ihre Angehörigen. In ihrer Not trifft sie eine folgenschwere Entscheidung…
Sasha Filipenko hat die in Genf archivierte Korrespondenz zwischen dem Internationalen Roten Kreuz und der Sowjetregierung während des Zweiten Weltkriegs eingesehen und teils als Originaltexte, teils als Handlungsgrundlage in den Roman eingearbeitet. Dabei ist ihm ein gut lesbares und historisch fundiertes Stück Literatur gelungen, über die Zeit des stalinistischen Terrors und die Schicksale derer, die in seine Mühlen gerieten, über Unterdrückung und Erinnerungskultur. (Syme Sigmund)

1936, Leningrad. Ein Mann steht jede Nacht neben dem Fahrstuhl seines Hauses und wartet darauf, von Stalins Schergen abgeholt zu werden. Es ist der Komponist Schostakowitsch und sein Todesurteil bestand aus einem Satz – „Chaos statt Musik“ – sowie der Tatsache, dass Stalin die Aufführung seiner Oper „Lady Macbeth von Mzensk“ frühzeitig verließ. Nur ein Zufall rettet ihm schließlich das Leben, doch die Angst soll ihn sein Leben lang nicht mehr verlassen und ihn selbst auf dem Höhepunkt seines Ruhms immer wieder Kompromisse mit der Macht eingehen lassen. Barnes erzählt zum einen das Leben Schostakowitschs anhand von drei Schlüsselmomenten 1936, 1948 und 1960, geht aber auch weiter reichenden Fragen nach. Er beschreibt den Künstler im Getriebe der Diktatur und stellt die Frage, ab wann ängstliche Anpassung zu Schuld wird. Ein höchst lesenswertes Buch für Musikinteressierte und jeden, dem menschliche Schwäche nicht fremd ist, in Zeiten, da die Frage nach individueller Aufrichtigkeit wieder an Aktualität gewinnt.
Natascha Wodin ist mit dem Schweigen aufgewachsen. 1956, als sich ihre Mutter wortlos ertränkt, ist sie noch ein Kind. Ein Kind, das sich völlig ausgegrenzt fühlt und fast nichts weiß von der Lebensgeschichte der Mutter, einer ehemaligen ukrainischen Zwangsarbeiterin. Weshalb sie in einer Barackensiedlung und am Rande der deutschen Gesellschaft lebten, hatte dem Mädchen niemand erklärt. Natürlich hat sie als Erwachsene immer wieder nach Spuren der Mutter gesucht, doch vergeblich. Als sie vor wenigen Jahren deren Daten in eine russische Suchmaschine eingibt, ahnt sie nicht, welch Schneeballeffekt ihr Eintrag nach sich ziehen wird und dass sich ihre Kindheitsträume von einer aristokratisch-künstlerischen Familie in Realität verwandeln werden. Schritt für Schritt zeichnet Wodin die Geschichte ihrer Familie und die ihrer Mutter nach. Sie musste die brutalen Verwerfungen des 20. Jahrhunderts (Sowjetherrschaft, Stalinismus, Nationalsozialismus, Zwangsarbeit, Heimatlosigkeit) drastisch am eigenen Leib erleben und konnte nichts anderes als schweigen. Ihre Tochter gibt ihr und stellvertretend den vielen anderen Leidtragenden Sprache, eine Biografie und Würde zurück. Ein berührendes Buch, das nachwirkt. (Stefanie Hetze)
Lydia Tschukoswkaja, enge Vertraute von Anna Achmatowa, deren Gedichte sie memorierte und vor dem Vergessen bewahrte, schrieb 1947 den Roman “Untertauchen”, der damals in der Sowjetunion nicht erscheinen durfte und dessen Veröffentlichung in den USA in den Siebzigern zu ihrem Ausschluss aus dem sowjetischen Schriftstellerverband führte. 1975 brachte ihn der Diogenes Verlag in der wunderbaren Übersetzung Swetlana Geiers heraus, er geriet hierzulande jedoch eher in Vergessenheit. Nun hat ihn der Dörlemann Verlag in einer zurückhaltend schönen Ausgabe neu verlegt. Eine bedeutende Autorin ist so zu entdecken, die undramatisch und unpathetisch von den Schrecken des Stalinismus erzählt, die auf Worte, auf die Sprache setzt, auf das, was überdauern wird.