Aus dem Englischen von Grundmann & Laudan, Ariadne 2016, 288 S., € 17,00
(Stand April 2021)
Nita Tehri ist alleinstehend, arbeitet als Grundschullehrerin und zahlt eine Eigentumswohnung in einer fast schon bürgerlichen Ecke Londons ab. Nach einer großen Auseinandersetzung mit ihrer pakistanisch-stämmigen Familie bemüht sie sich am ehesten darum ihr neues Gewicht zu halten, 8jährige Messerstecher zu bändigen und die ignorante Falschaussprechung ihres Namens milde zu überhören: Miss Terry. Doch dann passiert etwas Mysteriöses, das Nitas Leben völlig aus der Bahn wirft. In einem Baucontainer vor Nitas Haus wird eine dunkelhäutige Babyleiche gefunden, und für alle Nachbarn, die Polizei und die Presse steht fest, dass sie – als einzig dunkelhäutige Frau der Nachbarschaft – die Mutter des Kindes sein muss. Wie Nita gegen die haltlosen Anschuldigungen kämpft, ist eine harte Geschichte über Diskriminierung, Sexismus und Rassismus. Doch Liza Cody erzählt sie mit so viel Zuneigung für ihre Protagonistin, mit kriminalistischem Gespür und so viel Witz auch, dass man die ganze Zeit lesend fiebert: Klärt das doch endlich auf! (Jana Kühn)

Am Rande des äußersten nordöstlichen Zipfels Londons, da wo die Grenzen der Megastadt sich zerfasern und mit einer beginnenden Flußlandschaft vermischen, streift die Erzählerin in ausgedehnten ziellosen Spaziergängen umher. In dieser bizarr-schönen Halbwildnis entdeckt sie viel Verlassenes, Aufgegebenes, Angeschwemmtes. Sie betrachtet, fotografiert und erinnert. Ereignisse aus ihrer Kindheit tauchen auf. Wesentlich für die Einzelgängerin sind ihre Beobachtungen und Begegnungen mit ihren Nachbarn, den in ihrer Londoner Straße lebenden Einwanderern, aber auch prägende Erlebnisse an anderen Flüssen aus ihrer Vergangenheit. Wer sich auf Esther Kinskys mäanderndes Erzählen einlässt, auf ihre poetischen Beschreibungen des Marschlands, der Vögel, der Ziegel und all der anderen menschlichen Hinterlassenschaften, nimmt teil an einem zutiefst faszinierenden Lesespaziergang. (Stefanie Hetze)
Die namenlose Baglady zieht mit ihrer Windhündin Elektra durch die Straßen Londons. Ignoranz und dumme Sprüche gehören zur demütigenden Tagesordnung und sind dabei noch die harmlosen Varianten. Immerhin, ab und zu klimpert es ein paar Münzen – für den Hund wohlgemerkt! Doch mit einem ordentlichen Pegel vom algerischen Roten und eben Elektra, die sowieso alles am besten versteht, lässt sich dieses Leben auf der Straße doch ganz ruhig ertragen. Bis sie eines Tages genau dort ihrem ganz persönlichen Dämon (wieder)begegnet. Wie vom Blitz getroffen, will sie der neuen Frau an Satans Seite einen Rat zur Lebensrettung geben. Doch von da an überschlagen sich die Ereignisse. Screwball und Sozialdrama in einem, weit weniger ein Kriminalroman, aber in jedem Fall ist “Lady Bag” eine rasante und rabenschwarze Lektüre, die einen buchstäblich mitnimmt. Mindestens einer Baglady ist sicher jeder schon begegnet – hier in der Oranienstraße wohl eher mehrmals täglich. Liza Cody gibt ihrer Baglady zwar keinen Namen, doch ein Gesicht und eine Geschichte, die aufrüttelt und die man so schnell nicht vergessen wird. (Jana Kühn)
In ihrem neuen Roman schreibt Zadie Smith über das Leben in London North-West, wo sie selbst aufgewachsen ist – der Stadtteil Kilburn, ein Arbeiterbezirk und ein Schmelztiegel der Kulturen. Vier Protagonisten wählt sie, die sich schon aus Kindertagen kennen, die befreundet waren oder sind und die sehr unterschiedliche Wege gewählt haben, “um etwas aus ihrem Leben zu machen”. Zadie Smith unterzieht sie einer Art Lebensinventur und Bestandsaufnahme – nun als gestandene Mittdreißiger. Wer sind sie? Oder vielmehr wie sind sie geworden? Für jeden Charakter findet sie eine eigene stimmige Erzählsprache. Sie experimentiert dafür stilistisch wie formal, und was anfangs etwas künstlich wirkt in all seiner sprachlichen Verdichtung, zieht einen immer stärker in den Bann. Ein Roman voller tragikomischer Momente, den man spätestens ab Seite 50 nicht mehr aus der Hand legen mag.
„Wolkenfern“, das ist für Dominika – schon bekannt aus Bators Roman „Sandberg“ – alles, was außerhalb von Pjaskowa Gora, dem Viertel des trist-provinziellen polnischen Bergbaustädtchen liegt, in dem sie aufgewachsen ist. Ein Sehnsuchtsort, je weiter weg, desto besser. Und so kehrt sie nach der Genesung von einem Autounfall auch nicht mit Ihrer Mutter nach Hause zurück, sondern bricht auf, von der „BeErDe“ nach New York und London und darüber hinaus. Verwoben mit Dominicas Schicksal sind die Geschichten vieler anderer Figuren, ein farbenreiches, schwindelerregendes, gekonnt fabuliertes Kabinett skurriler Persönlichkeiten und Geschehnisse, die bis in die Zeit deutscher Besatzung hineinreichen. Da begegnen uns liebenswerte, gastfreundliche „Teetanten“, ein verstörend abstoßender Frisör, ein Fotograf, der in seine Fotografien den Tod kommen sieht oder auch die großherzige Grazynka, die vielen Männern aus Mitleid ihre Liebe schenkt. Und durch alles zieht sich die Geschichte des Nachttopfs von Napoleon. Bator macht süchtig. Bitte mehr davon!! (Syme Sigmund)
Es läuft nicht gerade rund für Detective Breen. Bei einem Überfall lässt er einen verletzten Kollegen im Stich, am Fundort einer Frauenleiche übergibt er sich als allererstes und schließlich wird ihm für genau diesen Fall eine junge Kollegin zur Seite gestellt. Nun ist ihm der offenkundige Hohn seiner Kollegen sicher – denn wir sind im Jahr 1968 und damals durften Frauen bei der Polizei vielleicht Tee kochen, aber nicht viel mehr. Doch Kollegin Tozer erweist sich entgegen aller Vorurteile als wichtige Hilfe, denn zu ihrer großen Cleverness und Klappe, fährt sie auch noch rasant Auto und ist Beatles-Fan der ersten Stunde – womit sich der Kreis zu der Frauenleiche bestens schließt. Spannend in jeder Hinsicht, denn wer hätte gedacht, dass es ausgerechnet im Swinging-London derart chauvinistisch zuging?!
Dicke Romane haben es mitunter nicht leicht. John Lanchester aber hat in diesem klugen und unterhaltsamen Buch ein vielschichtiges Gesellschaftspanorama entworfen, das den Leser leichtfüßig von der ersten bis zur letzten Seite gefangen nimmt. Der Autor führt uns in den Mikrokosmos einer Reihenhaussiedlung der Londoner Pepys Road zur Zeit der Finanzkrise 2007/2008 ein. Dort hat sich der klassische Wandel der Gentrifizierung vollzogen: Die Immobilienpreise sind exorbitant gestiegen, die Bewohner sind reich, oder wären es, wenn sie ihr Haus verkauften. Die sehr unterschiedlichen Charaktere – da sind der Citybanker mit konsumsüchtiger Frau, der frisch in London angekommene 17-jährige Fußballstar aus dem Senegal, die sterbende Witwe, der pakistanische Kioskbetreiber, oder die Dienstleister wie das ungarische Kindermädchen und der polnische Handwerker – werden ereignisreich vom Leben und von der Krise geschüttelt. Neben ihren spezifischen Sorgen geht es um Geld, Ambition, Status, Lieben und Sterben. Und die Bewohner eint ein Problem: Sie werden von mysteriöser Post mit beunruhigender Botschaft belästigt: „Wir wollen das was ihr habt“. Aber es ist nicht dieses Spannungsmittel, sondern die stringente Eleganz und Empathie, mit der es Lanchester gelingt, den Leser für jedes Einzelschicksal seiner Figuren einzunehmen. (Franziska Kramer)