Literaturverlag Droschl 175 S. , TB bei btb 2011, € 8,99
(Stand März 2021)
Iris Hanika beschreibt Leben und Arbeitsalltag des phlegmatischen Archivars Hans Frambach am “Institut für Vergangenheitsbewirtschaftung” und seiner platonischen Freundin Graziella. Diese Erzählebene durchsetzt sie mit geschichtswissenschaftlichen, philosophischen Zitaten und Leerseiten (sic!). Provozierend und zugespitzt in jedem Satz und Wortspiel hinterfragt sie, was übrig geblieben ist von deutscher Vergangenheitsbewältigung. Als junger Mann geradezu zerfressen von Schuld und Scham über die Shoah langweilt sich Frambach zunehmend in seiner Tätigkeit. So wie sich selbst Stolpersteine als großstädtisches “Inventar ” mit der Zeit abgelaufen haben, man keineswegs mehr stolpert auf gewohnten Wegen, so verliert auch für Frambach der Text eines jüdischen Lyrikers im stupiden Abtippen seine Eindringlichkeit, das Eigentliche. Keinesfalls jedoch ist der Roman als gewollter Schlussstrich oder gar Absolution zu verstehen, sondern vielmehr als eine Aufforderung zum Nachdenken über einen Umgang mit den Naziverbrechen jenseits institutionalisierter Gedächtniskultur. (Jana Kühn)


Eine nicht mehr junge Frau findet das, wonach sie so lange, immer und keinesfalls auf der Suche war, dass es ihr mehr als schwer fällt, sie anzunehmen: die Liebe. Sie hat sich eingerichtet in ihrem Alleinsein, das sie ehrlicher und lebbarer empfindet als all die zwischenmenschlichen Beziehungskatastrophen, die sie umzingeln. Und dann erwischt es sie doch. Und sie traut sich. Doch eines Tages ist der Mann verschwunden. Als Ich-Erzählerin berichet die Frau selbst aus ihrem Leben vor, mit und nach dem Mann. Schonungslos offen und genau bis ins kleinste emotionale Detail ist der Erzählton. Dabei wird es jedoch nie weinerlich, denn Sibylle Berg bleibt auch in ihrem neuesten Roman ihrem ganz eigenen und immer hart am Zynismus schrammenden Humor treu. (Jana Kühn)
Ein Gesellschaftsroman aus dem heutigen Israel – und noch viel mehr. Zwei Männer, die ohne sich zu kennen Seite für Seite aufeinander zu steuern, irgendwann (vor allem aus Eifersucht) rasen, bis sie schließlich in einem quasi kriminellen Finale aufeinander prallen. Und bis dahin haben wir das Buch kaum aus der Hand legen können. (Jana Kühn)
In der Identität des kurdischen Flüchtlings Bilal hat Fabrizio Gatti, ein Reporter von “L’espresso”, den Weg der illegalen Einreise nach Italien gesucht. In seinem erschütternden Bericht erzählt er von den unfassbaren Strapazen, Gefahren und Ungerechtigkeiten, die tagtäglich für Tausende von Flüchtlingen auf den Transitrouten von Afrika nach Europa Realität sind. Auch wenn die Lektüre von Bilal eine atemlose ist, bleibt das Buch weit davon entfernt ein Abenteuerroman zu sein. Stattdessen macht es auf die gravierenden Missstände nicht nur der italienischen, sondern der gesamteuropäischen Einwanderungspolitik aufmerksam. (Jana Kühn)
Neapel, Anfang der 50er Jahre. Hier wächst ein Waisenjunge auf, versorgt von Don Gaetano. Dieser lehrt ihn Zuhören, Geduld, Selbstbeherrschung – das Leben zu meistern. Die Geschichten Don Gaetanos, erzählen von den “Tagen der Freiheit”, den vier Tagen von Neapel im September 1943, als die Bevölkerung der Stadt sich gegen die deutsche Besatzung auflehnte und es schaffte, diese noch vor Eintreffen der Amerikaner zu vertreiben. Und diese Tage dem Vergessen zu entreißen ist auch das eigentliche Anliegen Erri de Lucas, der hier seiner Heimatstadt, ihrer Spontaneität und ihrer unverwechselbaren Anarchie ein Denkmal setzt. Gewalt und Freiheit, Glück und Tod liegen nah beieinander. Neapel als mythischer Ort fundamentaler Erfahrungen. (Syme Sigmund)
“Das Nacheinander meines Lebens ist aufgehoben, ich betrete die Spiralen der Chronologie auf tausenderlei Wegen.” Und tatsächlich mäandert Claude Lanzmann in seiner Autobiografie, lässt Lebensfäden fallen, um sie später geschickt wieder aufzunehmen. Als Leser “hört” man dem Text an, dass der Autor ihn diktierte, dass das geschriebene Wort dem schnellem Erzählen folgt. Dabei erfährt man Unerhörtes über das Who’s Who der europäischen Intelligenzija und Philosophie, des Politikgeschehens, der Film- und Theaterszene – die Wichtigen, die Bekannten, die immer schönen Frauen. Die bewegendsten Momente sind aber wohl die Berichte zu den Dreharbeiten von “Shoah”, dem Dokumentarmeisterwerk, das dem Autor Weltruhm bescherte. Ein solches Leben ist sich seines Wertes wohl bewusst, ist nicht frei von Eitelkeiten. Das macht nichts. (Jana Kühn)
Grossman erzählt die wunderschöne und schmerzliche Geschichte einer Familie, die zugleich ein Psychogramm einer vom Krieg und Terror traumatisierten Nation ist. Ora, deren Sohn sich freiwillig zu einem Militäreinsatz meldet, hofft, durch ihr Unerreichbarsein das Überbringen einer schlechten Nachricht verhindern zu können. Indem sie sein Leben mit all seinen Facetten und Besonderheiten erzählt, meint sie, ist ihr Sohn in Sicherheit. Der Zuhörer, der sich ihrer beschwörenden Flucht anschließt, ist ihre zweite große Liebe Avram, der nach Gefangenschaft und Folter keine Berührung mehr mit dem Leben wünscht. Ihn holt sie auf dieser Reise zurück ins Leben. Dadurch, dass Ora sich mit allen Mitteln dagegen wehrt, Opfer zu sein, ist dieses ein nicht nur sehr ergreifendes, sondern auch tröstliches Buch. (Franziska Kramer)
Zu Ehren des 80. Geburtstages von Klaus Wagenbach erscheint dieses Buch, herausgegeben von Susanne Schüssler, nicht nur Wagenbachs Ehefrau, sondern auch seine Nachfolgerin im eigenen Verlagshaus. Das Buch bündelt die wichtigsten Texte des Verlegers und politischen Kämpfers. Und Klaus Wagenbach kann herrlich erzählen. Seine Texte sind von äußerster Klarheit, ungebrochener Überzeugung und oft wunderbarem Humor. Sehr persönlich auch und schlicht anregend – man mag darüber diskutieren, sich austauschen. (Stefanie Hetze)