Miku Sophie Kühmel: Hannah

S. Fischer 2025, 301 Seiten, 24 Euro

Eine wahre Begebenheit: Hannah Höch, bereits erfolgreich in den ersten Stufen ihrer Karriere als Künstlerin und frisch befreit vom dominanten Dadaisten Raoul Hausmann, lernt 1926 die charismatische Autorin und Übersetzerin Til Brugman kennen, die noch kaum veröffentlicht hat.  Ihre gegenseitige Anziehung ist enorm, eine intensive Liebesbeziehung auf Augenhöhe entsteht, die fast zehn Jahre dauern sollte. Die beiden Frauen pendeln zwischen Den Haag und Berlin, zwischen zwei Sprachen, zwischen Erfolg und Misserfolg, Selbständigkeit und Zweisamkeit. Sie müssen Geld verdienen, ihren gemeinsamen Alltag, Freundschaften, Familien bewältigen und als Künstlerinnen vorankommen. Und dies als lesbisches Paar in Zeiten des erstarkenden Faschismus. Diese queere Geschichte selbst ist schon interessant genug, der Text aber, wie ihn die Autorin montiert und poetisiert hat, ist ein literarisches Ereignis. Kühmel hat sich von den beiden Figuren und ihren künstlerischen Praktiken inspirieren lassen und verwebt, verdichtet, zerschneidet, umkreist  Fakten, Briefe, Zitate, Erfundenes, Weltpolitisches und Privates zu einem hinreißenden Liebes- und Künstlerinnenroman. (Stefanie Hetze)

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Simonetta Agenllo Hornby: Er war ein guter Junge


Aus dem Italienischen von Christine Ammann, Folio Verlag, 2025, 252 Seiten, 26 Euro

„Was mag aus uns werden?“, diese Frage begleitet die Freunde Giovanni und Santino, die – beide vaterlos – gemeinsam in Sciacca, einer Hafenstadt im Südwesten Siziliens, heranwachsen.
Giovanni führt ein weitestgehend sorgenfreies Leben. Sein Großvater dient ihm als moralischer Gradmesser, seine Mutter sorgt für gute Bildung und die richtigen Kontakte. Santino hingegen versucht dem wirtschaftlichen Abstieg seiner Familie etwas entgegenzusetzen, indem er schon früh den Familienunterhalt aufbessert. Beide Jungs sind ehrgeizig: „Wir werden die Besten sein.“ Und sie werden die Besten – Santino als erfolgreicher Bauunternehmer, Giovanni als angesehener Anwalt. Sie waren gute Jungen und sind jetzt gute Söhne, Freunde, Ehemänner, Väter. Dabei verstricken sich, erst unbewusst, dann wissentlich, immer weiter in ein Netz aus Abhängigkeiten, Gefälligkeiten und Korruption.
Subtil erzählt und fesselnd geschrieben zeichnet der Roman zugleich das Porträt einer Freundschaft sowie der sizilianischen Gesellschaft der 1960er bis 1980er Jahre.
Die perfekte Lektüre für einen spätsommerliche Italienurlaub. (Katharina Bischoff)

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Esther Becker: Notfallkontakte

Verbrecher Verlag 2025, 106 Seiten, 20 Euro

Nach ihrem grandiosen Roman Wie die Gorillas hat Esther Becker mit Notfallkontakte nun einen Erzählband vorgelegt, der seinen Protagonist*innen wieder atemberaubend nah kommt und virtuos die gesamte Bandbreite der kurzen Form auszuspielen versteht. Das plötzliche Fehlen eines Rettungsringes an der Brücke, der doch immer da war. Unerklärliche Warteschlangen. Oder eines Tages: ein wachsendes Loch im Küchenboden. Es sind die leichten Verschiebungen der Realität, die eine Geschichte in Gang setzen und den Konstellationen von Nähe, den Varianten von Macht, Kontrolle und Selbstverlust in Beziehungen nachspüren. Notfallkontakte erzählt aber auch und vor allem von Kompliz*innenschaft – mit sich selbst, mit Weggefährt*innen, mit Fremden. Mund zu, treiben lassen heißt eine der traurigsten und poetischsten Erzählungen in der Sammlung und genau das scheint Programm: ertrinken, abtauchen, sich treiben lassen in dem urbanen Erzählstrom, der dann plötzlich schlank, lyrisch, fast abstrakt seinen ganz eigenen Rhythmus offenbart. Die Fäden, die Esther Becker zwischen ihren Erzählungen spannt sind dünn, manchmal sehr nah an der Oberfläche oder auch gar nicht sichtbar. Die Figuren entziehen sich oft im letzten Moment einer eindeutigen Zuschreibung, verhalten sich ganz anders als erwartet oder spielen bewusst mit Identitäten und sind damit Teil einer Welt, die im Unvorhersehbaren ihre größte Schönheit entfaltet. (Kerstin Follenius)

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Margaret Kennedy: Falscher Glanz


Aus dem Englischen von Maria Sander
Schöffling 2025, 400 Seiten, 24 Euro

Diese Witwe ist gnadenlos in ihrer Engstirnigkeit und in ihren unverrückbarenen Maßstäben zu richtigem und falschem Verhalten, auch ihrer Kinder Trevor und Charlotte. Ihren verstorbenen Mann, einen mittelmäßigen Literaten, hebt sie auf ein Podest. Aber da gibt es noch Emily und William, die schönen, reichen Zwillinge. Nach der Verurteilung ihres wegen eines Mordes zu Recht oder Unrecht angeklagten Vaters, eines wirklich erfolgreichen Schriftstellers, wachsen sie bei ihrer strengen Tante auf. Ebenso wie sie sich als Kinder spielend dem Regime der Tante entziehen, ignorieren sie auch als Erwachsene die Meinung der Anderen. Während die Zwillinge in Londons Künstlerkreisen brillieren, erreichen Trevor, Charlotte und eine Vielzahl unterschiedlichster Bohemiens nur ein prekäres Auskommen und geringe Anerkennung. Als William, angestiftet durch Trevor, ausgerechnet im Geburtshaus seiner Tante eine Kommune gründet, kollidieren Träume vom gemeinschaftlichen kreativen Leben mit sehr realen Unterschieden bei Geld, Herkunft und Geschlechterrollen. Differenzen, die auch heute, knapp hundert Jahre später, von aktueller Brisanz sind, und die die Autorin bissig genüsslich zerlegt. Das macht großen Spaß. (Stefanie Hetze)

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Ben Shattuck: Die Geschichte des Klangs

Aus dem Amerikanischen Englisch von Dirk van Gusteren, Hanser 2025, 104 Seiten, 20 Euro

1916, Cambridge in New England. In einem Pub begegnen sich die beiden Musikstudenten David und Lionel. Der eine sitzt am Klavier und spielt alte Volkslieder, die er bei seinen Streifzügen durch die Provinzen sammelt. Der andere kann unerwartet eines davon mitsingen. Das ist der Beginn einer leisen, leidenschaftlichen und unausweichlichen Liebesgeschichte, die einen Herbst und einen Sommer dauert. Mit einem Phonographen und etlichen Wachsrollen ziehen die beiden jungen Männer zwei Monate durch die Nadelwälder Maines und zeichnen traditionelles Liedgut auf, gesungen in Küchen, Scheunen, abseits der Öffentlichkeit. Beindruckender sind jedoch die Worte, die der Erzähler Lionel „für all die filigranen Ränder der verlorenen Klänge“ findet, die nicht auf Wachsrollen archiviert wurden. Nüchtern, klar und hochpoetisch erzählt Shattuck diese Liebesgeschichte in und über ihre Klanglandschaft. Jene Wachsrollen sind es auch, die die Verbindung zu der zweiten, in diesem Band enthaltene Erzählung bilden. In den 1980ern findet Anni, Mitte 30, einen Karton mit jenem Archivmaterial auf dem Dachboden ihres neu gekauften Hauses und hört plötzlich das Knistern und Rauschen ihrer eigenen Beziehung. Ein Buch, so schmal wie intensiv. Im Sofa verschwinden und jemandem Vorlesen. In die Tasche stecken und im Wald eine Lichtung suchen – dieses Buch ist ein besonderer Moment. (Kerstin Follenius)

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Mirinae Lee: Die acht Leben der Frau Mook

Übersetzt von Karen Gerwig, Unionsverlag 2025, 336 Seiten, 24 Euro

Auf der Suche nach einer anderen, vor allem sinnvolleren Aufgabe beginnt die Verwaltungsangestellte einer Seniorenresidenz in der südkoreanischen Provinz die alten Leute nach ihrem Leben zu befragen. Die Rückblicke finden großen Anklang – endlich einmal gehört werden. So manche Person erfindet offensichtlich Passagen zum Leben hinzu, doch Frau Mook scheint nun wirklich zu übertreiben. Oder nicht? War sie wirklich eine der vielen Trostfrauen im Pazifikkrieg, findige Spionin für Nord- wie Südkorea? Mörderin und Terroristin? Wieviele Namen, Orte, Stationen, wieviel Hunger, Leid und Gewalt, wieviel Liebe – wieviele Leben passen in ein einziges Leben? Mirinae Lee spannt mit ihrem Roman und der Lebensgeschichte(n) von Frau Mook einen Jahrhundertbogen über die Geschichte Koreas. Erschütternd wie gebannt, ja schonungslos bleibt die Lektüre von der ersten bis zur letzten Seite. Beglückend daran ist, wie klug der Roman gebaut ist, wie durchdacht sich Personen und Bezüge erst im Verlauf erschließen. Lee schreibt das Porträt einer mutigen, widerständigen und kraftvollen Frau, die bis zum letzten Atemzug versucht in einem gewalttätigen System selbstbestimmt zu leben. Völlig zurecht stand die Autorin damit 2024 auf der Longlist des Women’s Prize for Fiction. (Jana Kühn)

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Ocean Vuong: Der Kaiser der Freude

Aus dem Amerikanischen von Anne-Kristin Mittag und Nikolaus Stingl, Hanser 2025, 527 Seiten, 27 Euro

Eigentlich hat Hai, ein 19-jähriger queerer Amerikaner vietnamesischer Abstammung, das Leben noch vor sich, aber für ihn tun sich nur Abgründe auf. Er hat seinen Freund verloren, ist fest im Griff seiner Tablettensucht, das College hat er mit einem Schuldenberg geschmissen. Ohne Perspektive kehrt er in sein Heimatnest zurück, wo apokalyptischer Stillstand, Verfall und Leere herrschen. Hier trifft er auf Grazina, die am Ende ihres ereignisreichen Lebens steht. Wie ihr altersschwaches Haus zerbröseln ihr Geist und Körper, gleichzeitig blitzen immer wieder Momente ihrer Stärke und Gewitztheit auf. Hai schlüpft bei ihr unter und begibt sich mit ihr auf phantastische Reisen zwischen Realität und Demenz, die Vuong umwerfend schildert.  Über seinen sehr besonderen Cousin Sony findet Hai einen Job in einem Fastfoodrestaurant. Alle, die dort prekär arbeiten und die in der Regel auch in der Literatur ein Schattendasein führen, befördert der Autor mit all ihren Problemen, Spleens und Träumen ins Rampenlicht. Er bewegt sich mit ihnen, mit Hai, mit Grazina in abgefuckten, atemberaubend beschriebenen Orten und Landschaften. Voller Zärtlichkeit und Respekt, aber auch höchst unterhaltsam verwickelt er sie in spannende Roadmovies, dramatische Beziehungs- und Familiengeschichten und kontrastiert ihre Sehnsüchte mit den knallharten Realitäten der USA. Eine ergreifende Ode auf das vielfältige Amerika. (Stefanie Hetze)

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Kevin Chen: Geisterdämmerung

Aus dem Chinesischen von Monika Li, Matthes & Seitz Berlin 2025, 383 Seiten, 26 Euro

Kevin Chen, Berliner Autor und Filmschauspieler, ist in Taiwan geboren und aufgewachsen. Die Beziehung zu diesem Land bildet den perfekten Hintergrund für diesen außergewöhnlichen Roman, der bereits in mehr als zehn Sprachen übersetzt worden ist.
Ein junger Mann, Tianhong, wird für den Mord seines Partners verurteilt und sitzt dafür zehn Jahre im Gefängnis in Berlin. Nach seiner Entlassung weiß er nicht wohin. Schlussendlich kehrt er zurück in sein taiwanisches Heimatdorf: Yongjing, was ewiger Frieden bedeutet, doch für ihn alles andere ist als das.
Der Roman ist voller Gewalt und wurde sehr packend geschrieben. Er ist gleichzeitig eine Geschichte von Geistern, die tief in der taiwanesischen Kultur verwurzelt sind. Immer wieder entstehen schöne Bilder, wie die Beschreibung atemberaubender Landschaften oder beglückende familiäre Momente. Kevin Chen erzählt sehr assoziativ, verschiedene Geschichten und Erzählperspektiven sind übereinander gelagert: Das sorgt für eine bewegte, atemberaubende Lektüre, die gleichzeitig amüsiert, erschreckt und zum Nachdenken bringt.

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Oliver Lovrenski: bruder, wenn wie nicht family sind, wer dann

Aus dem Norwegischen von Karoline Hippe
Hanser Berlin, 2025, 252 Seiten, 22 Euro

bruder, wenn wir nicht family sind, wer dann zu lesen ist eine literarische Achterbahnfahrt.
Das Debüt des zum Zeitpunkt des Erscheinens gerade einmal 19-jährigen Autors Oliver Lovrenski erzählt vom Aufwachsen der vier Freunde Ivor, Marco, Jonas und Arjan in den Straßen Oslos. Während anfangs noch Vorstellungen von einer Zukunft existieren – Anwalt werden oder eine Boxkarriere, Familie gründen und es besser machen als der eigene Vater –, bestimmen bald Sucht und Gewalt, Jugendamt und Polizei den Alltag.
Was die Jungs trägt, ist ihre unbedingte Loyalität zueinander. Sie ziehen durch die Stadt, hängen ab, konsumieren oder verticken Drogen, gehen zur Schule oder eben nicht, Lassen sich von Jonas Oma bekochen, spielen Kniffel mit ihr und machen den Abwasch, prügeln sich, verlieben sich, bedrohen oder werden bedroht, wollen ihre kleinen Brüder vor ihrer Realität beschützen und ihren Müttern die Tränen nehmen.
Von diesen Leben voller Ambivalenzen erzählt Lovrenski – phantastisch übersetzt von Karoline Hippe – in einer rohen, rhythmischen Sprache, fast ohne Interpunktion, fast alles kleingeschrieben (außer Baba, Oma). Eine fulminante Lektüre! (Katharina Bischoff)

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Yasmina Reza: Die Rückseite des Lebens

Aus dem Französischen von Claudia Hamm, Hanser 2025, 200 Seiten, 24 Euro

Eine schmächtige Frau erschießt ihren gewalttätigen Mann, versteckt seine Leiche, schleift sie in ein von ihr gegrabenes Loch. Als dies von Fliegen heimgesucht wird, zerrt sie sie durchs Kinderzimmer auf den Dachboden, wo sie sie einbetoniert. Eine Frau tickt in der Metro aus, sticht mit einem Messer um sich und beleidigt rassistisch. Ein Mann versucht, mit Atropin alte Frauen zu vergiften, um an ihr Erbe zu kommen. Solch dramatische Taten werden in der Regel kurz medial hochgekocht, um alsbald von einem neuen Skandal abgelöst zu werden. Nur Strafgerichte gehören zu den Orten, an denen minutiös hergeleitet wird, wie es zu derart unberechenbaren Handlungen kommen konnte. Yasmina Reza protokolliert seit Jahren Prozesse, in denen die Widersprüche der menschlichen Existenz in all ihren Verästelungen zur Sprache kommen. Dabei urteilt sie nicht und interessiert sich auch nicht für das finale Urteil. Sie lässt sich ganz auf die Äußerungen der jeweiligen Seite ein, was bei der Lektüre zu einem ständigen Perspektivwechsel und damit einer rasanten Abfolge von Mitfühlen und Urteilen führt. Das macht ungemein klug deutlich, wie schnell alltägliche Situationen kippen können. Wie gefährdet und von Zufällen bestimmt das Leben ist, erzählt Reza auch in sehr persönlichen Skizzen, die wieder auf eine andere Art berühren und die kostbare Zerbrechlichkeit des Daseins erfahrbar machen. Ein wirklich besonderes Buch! (Stefanie Hetze)

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