Aus dem Englischen von Ingo Herzke und Susanne Höbel, Hanser 2023, 464 S., € 28,-
England, zur Zeit des Corona-Lockdowns. Die Grundschullehrerin Anna versucht ihre Schüler online zu unterrichten, und schreibt nebenher Tagebuch. Als sie anlässlich eines Gerichtsprozesses, bei dem Freunde aus der Zeit, da sie mit einer Gruppe von Straßenkünstlern in den 80er Jahren gegen die der englischen Regierung protestierte, angeklagt sind, Buster in der Menge entdeckt und ihm folgt. Buster war damals ihr Freund – und ein V-Mann der Polizei, der sie alle verraten hat.
Ausgehend von dieser Begegnung erzählt sie von ihrer bewegten Vergangenheit, die bei ihr auch Traumata und Ängste hervorgebracht hat, sowie von den Problemen der Gegenwart, und fügt dabei Briefe ein, die Buster ihr schreibt und in denen er seinen Werdegang vom verdeckten Ermittler zum Auftragsmörder offenbart – doch bleibt er dabei ambivalent, lässt sich die Grenze zwischen Gut und Böse nicht so einfach ziehen.
Dafür ist A.L. Kennedy zu klug. Sie erzählt spannend und unterhaltsam von ihrem Land, das von einer skrupellosen, verkommenen Machtelite, den „Stilzchen“ regiert wird. Dabei bewahrt sie gekonnt die Balance zwischen Ironie, Sarkasmus und Ernsthaftigkeit.
Sie scheint damit ins Schwarze getroffen zu haben, das englische Original hat jedenfalls noch keinen Verlag gefunden, zu brisant ist die Kritik, zu offensichtlich die Abrechnung mit den gegenwärtigen Verhältnissen. (Syme Sigmund) Leseprobe

Ein Kinderheim in den Bergen, eine „Schäfin“, die es „mag, wenn es ungerecht ist“ und viele Kinder. Die sind in zwei Gruppen aufgeteilt, die Ringelblumengruppe, die leckeres Essen bekommt und spielen darf, und die Primeln, die kochen, putzen und die anderen bedienen müssen. Doch ein Kind aus den Ringelblumen spürt, dass hier etwas nicht stimmt, und überzeugt alle, nachts mit den Primeln die Kleidung zu tauschen. Das bringt das ganz schön viel Unruhe mit sich, und eines Tages wagen die Kinder es schließlich, auch die von der Schäfin gezogenen weiße Linie um das Heim herum zu übertreten, den ersten Schritt zu tun in eine Welt, in der sie frei über sich selbst bestimmen können.
Ein Roman, der uns mit Wucht in die Realität der italienischen Provinz katapultiert. Gaia, die Ich-Erzählerin, wächst unter prekärsten Bedingungen auf. Der Vater sitzt seit einem Schwarzarbeitsunfall querschnittsgelähmt passiv herum, während die kämpferische Mutter, eine Mamma Roma, alles mit Ach und Krach über Wasser hält. Mit Tricks schafft diese es, die Familie raus aus Rom in eine Kleinstadt mit vielen Wohlsituierten am Lago di Bracciano zu bugsieren. Für die Tochter beginnt ein enormer Spagat. Sie soll den Aufstieg schaffen, der ihrer Mutter verwehrt ist. Dazu muss sie lernen, noch mehr pauken und jeden Tag den langen Weg nach Rom in eine Reichenschule pendeln. Dabei will sie wie die anderen Dinge anhäufen und sich vergnügen. Doch so sehr sie sich anstrengt, sie bleibt die bemitleidete Außenseiterin, der sich auch als Erwachsene die Türen versperren. Da hilft nur unbändige Wut, die sich vielfach gewaltsam entlädt. Wie Giulia Caminito die Bandbreite an aufgestauten und ausbrechenden Gefühlszuständen ihrer Protagonistin austariert, ist grandios, verstörend und enorm berührend. Glasklar und unmittelbar ist dazu die deutsche Übertragung von Barbara Kleiner – eine Lektüre, die nachhallt. (Stefanie Hetze)
Nach der Ermordung ihrer Mutter fliehen die jungen Brüder Saam und Nima zusammen mit ihrem Vater aus dem Iran nach Deutschland. Sie landen in Berlin-Neukölln: Dort finden die drei eine Wohnung und ihr „neues“ Leben fängt an. Der Vater ist viel unterwegs, er muss halt mehrere Jobs gleichzeitig ausführen, um die Familie versorgen zu können. Die Jungs müssen sich in der neuen Stadt durchkämpfen: Berlin ist kein Zuhause, willkommen fühlen sie sich dort nicht, gerade sicher nicht in dem trüben, arabisch-dominierten Stadtteil, den sie als eine fremde Welt wahrnehmen. Und so gerät Saam bald auf Abwege.
Link ist ein junger Mann mit hervorragendem Universitätsabschluss, schön wie ein Adonis, einst Star der Footballmannschaft seines Colleges, brillant und sensibel. Doch in der Kleinstadt in der Nähe von New York Anfang der 1950er Jahre hilft ihm das wenig. Aufgewachsen als schwarzes Adoptivkind in der berüchtigten Gegend am Fluss, den Narrows, bei der ehemaligen Lehrerin Abbie Crunch, die stets Angst hat, etwas „racetypisches“ zu tun, und geprägt von Bill Hod, dem Boss der Unterwelt, der ihn unter seine Fittiche nimmt und ihm Stolz auf seine Herkunft vermittelt, arbeitet er als Barmann in Hod’s Kneipe The Last Chance.
Die Vorfahrinnen der Protagonistin Ursa haben eine verheerende endlose Abfolge an rassistischer und sexualisierter Gewalt erlitten als Abhängige eines brutalen Sklavenhalters, der sie missbrauchte, vergewaltigte und ausbeutete. Das Einzige, was den Frauen blieb, war, dass ihre jeweilige Nachfahrin Zeugnis ablegen konnte von dem, was ihnen angetan worden war. Erst Ursa hat die Chance, ein selbstbestimmteres Leben zu führen als Bluessängerin. In ihren Songs singt sie vom Schmerz und der Schwarzen angetanen Gewalt und erfüllt so den Auftrag, das Vermächtnis weiterzugeben. Doch die sozialen und zwischenmenschlichen Verhältnisse lassen sie der Spirale aus Willkür, Rassismus und Sexismus nicht entkommen. Tief eingegraben ist sie in Psyche und Körper. Was für ein Buch! Es berührt, verstört und gräbt sich tief in eine/n ein. Pieke Biermann hat in ihrer grandiosen Neuübersetzung einen eigenen Sound für den Blues des 1975 erstmals erschienenen Originals gefunden. Im Nachwort gibt sie einen Einblick in die Herausforderung, diesen herausragenden Roman über das Erbe der Sklaverei zu übersetzen. Ein gefeierter Meilenstein Schwarzer Literatur ist endlich hierzulande zugänglich. (Stefanie Hetze)
Ciprian ist der jüngste Sohn einer Roma-Familie, die seit Generationen als Ursari, als Bärenführer, durch Rumänien zieht. Als Dorfbewohnern sie wieder einmal bedrohen und vertreiben, lassen Sie sich auf das Angebot von zwei Männern ein, nach Paris gebracht zu werden. Doch die Schleuser zwingen sie dort, für sie als Diebe und Bettler zu arbeiten, um ihre „Schulden“ zurückzubezahlen. Das Leben in der Slumbaracke am äußersten Rand der Stadt scheint hoffnungslos, als Ciprian im Jardin du Luxembourg Schachspieler beobachtet. Das Spiel lässt ihn nicht mehr los und als zwei der Spieler seine ungewöhnliche Intelligenz und Begabung entdecken, wendet sich das Blatt.
Stockholm, Anfang des 20. Jahrhunderts. Im Zentrum des Romans steht die Icherzählerin Pegg. Ohne jede familiäre Unterstützung und stattdessen mit Verantwortung für ihren jüngeren Bruder muss sie zusehen, wie sie überhaupt im Leben klarkommt, finanziell und in der Liebe. Mehr als einen leider schlecht bezahlten Bürojob findet sie nicht. Ihre Rettung ist ein Sofaplatz in einer Frauen-WG, in der sie zusammen mit ihren drei Mitbewohnerinnen das Unerhörte wagt, trotz Armut als Frau selbstbestimmt und genussvoll zu leben. Es macht riesigen Spaß, diesen Debütroman zu lesen. Er ist flott und spritzig geschrieben. Mit Nonchalance, aber mit umso mehr Nachdruck flicht die Autorin wichtige Themen wie sexuelle Belästigung oder ungleiche Arbeitsbedingungen in Peggs, Babys, Evas und Emmys Erlebnisse und Gespräche ein. Ein Roman, heute immer noch aktuell, obwohl er 1908 erstmals in Schweden erschien. Wunderbar, dass dieser moderne Klassiker feministischer Literatur nach weit über 100 Jahren hier wieder zugänglich ist. Und das Cover von Hilma af Klint passt besonders schön! (Stefanie Hetze)
Der klassische Beginn einer Familientragödie: Der plötzliche Herztod des Vaters, der sich endlich seinen Traum erfüllt hatte, eine Eigentumswohnung in Istanbul, für die er jahrzehntelang in deutschen Fabriken geschuftet hatte, zwingt seine Frau und die weit zerstreut lebenden Töchter und Söhne zum Begräbnis in der Türkei zusammenzukommen. Die Familie hatte sich längst auseinandergelebt. Sehr unterschiedliche Träume, Geheimnisse und Realitäten prallen da bei Geschwistern und Mutter in dieser unpersönlichen Wohnung aufeinander, manche schaffen es auch nicht rechtzeitig, zur Beerdigung nach Istanbul zu reisen. Fatma Aydemir hat jeder ihrer Figuren eine eigene Identität und eine individuelle Stimme gegeben. Wie in einem Kammerspiel prallen da zum Teil unvereinbare Lebensentwürfe aufeinander, auch wenn die Menschen eng verwandt sind. Sie alle aber tragen die Verletzungen und Verwerfungen türkisch-kurdisch-deutscher Historie, aber auch von gender- und identitätspolitischen Debatten in sich und jede:r hat mit dem eigenen Dschinn, den eigenen inneren Dämonen, zu kämpfen. Das ist ungemein rasant und dicht in einem atemlosen Sound erzählt, als wären wir mitten im Zwischendrin dieser Menschen, die scheinbar zufällig einer Familie angehören in dieser anonymen Wohnung und auf den erbarmungslosen Fernautobahnen Europas. (Stefanie Hetze)