Esther Kinsky: Rombo

Suhrkamp 2022, 267 S., € 24,-, TB März 2023, € 13,-

(Stand März 2023)

Der Rombo – das ist das Geräusch, welches einem schweren Beben vorangeht, ein Grollen tief aus der Erde kommend, ursprünglich und unvergleichlich.
1976 wurde die Region der Friauler Alpen im Nordosten Italiens von zwei heftigen Erdbeben heimgesucht, viele Orte wurden vollständig zerstört. Esther Kinski hat die Erinnerungen verschiedener Zeitzeugen gesammelt, die damals zum Großteil noch Kinder waren, und diese in einem ausgewogenen Wechsel mit geologischen und zeithistorischen Erläuterungen sowie Informationen über Flora und Fauna, Legenden und Bräuche der Gegend kombiniert. Die immer kurzen Textstücke der Memoiren folgen locker der Chronologie der Ereignisse, die beschriebenen Episoden kreuzen, überlappen und ergänzen sich.
Das Ergebnis ist eine fesselnde Lektüre, wobei der Ton hier authentisch die Erzählenden widerspiegelt und dort durch die dichten, lyrischen Sätze der Autorin geprägt ist. Ein Sprachkunstwerk ohne ein Wort zu viel, von hypnotischem Rhythmus und kühler Eleganz. (Syme Sigmund) Leseprobe

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Cesare Pavese: Der schöne Sommer

Drei Romane. Mit einem Essay von Natalia Ginzburg. Aus dem Italienischen von Maja Pflug, Rotpunktverlag 2021, 488 S., € 29,-

(Stand März 2022)

Ein weiterer Band (der vierte) in der Reihe großartiger Neuübersetzungen der Werke Paveses durch Maja Pflug, die der Rotpunktverlag nach und nach publiziert. Erstmals sind hier die drei kurzen neorealistischen Romane Der schöne Sommer, Der Teufel auf den Hügeln und Die einsamen Frauen in einem Band vereint, so, wie sie ursprünglich in Italien erstmals erschienen und für die Pavese 1949 mit dem „Premio Strega“, dem wichtigsten italienischen Literaturpreis, ausgezeichnet wurde.
Als „urbane Romane über jugendliche Begeisterung und gescheiterte Leidenschaft“ hat Pavese sie selbst bezeichnet, diese Geschichten junger Menschen im Turin der unmittelbaren Nachkriegszeit, mit ihren Leidenschaften und Ängsten, ihrer Begeisterung und ihrem Scheitern. So modern, so aktuell muten die Figuren an, die sich treiben lassen, stets auf des Suche nach etwas, was sie nicht zu benennen wissen, getrieben von einer unbestimmbaren Sehnsucht. Paveses Sprache ist knapp, präzise, an amerikanischen Vorbildern orientiert. Psychologisch feinfühlig trifft er den Ton des Milieus, das er beschreibt. Maja Pflug gelingt es meisterhaft, diesen Ton ins Deutsche zu übertagen und die Texte in neuer Frische auf uns wirken zu lassen. (Syme Sigmund) Blick ins Buch

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Julia Strachey: Heiteres Wetter zur Hochzeit

Aus dem Englischen von Nicole Seifert, Dörlemann 2021, 160 S., € 19,-

(Stand Jauar 2022)

Der Morgen einer klassisch bürgerlichen Hochzeit, ein Landhaus, die Verwandtschaft und die Freunde der Braut treffen ein, die Organisation ist chaotisch, die Kinder piesacken einander, die jungen Leute geben sarkastische Kommentare von sich – und die Braut begegnet ihrer großen Liebe  des letzten Sommers wieder und weiß plötzlich nicht mehr, wo ihr der Kopf und das Herz stehen. Doch ist da ja noch eine Flasche Rum im Ankleidezimmer, von der sie Schluck für Schluck trinkt, um zu einer Entscheidung zu gelangen, während die Gesellschaft schon in der Kirche auf sie wartet … Julia Strachey, eine Bekannte Virginia Woolfs, ist bisher in Deutschland kaum bekannt. So wurde dieser 1932 erschienene, äußerst kurzweilige und bitterböse Roman jetzt erstmals ins Deutsche übersetzt.
Mit feinem Gespür für kuriose Eigenarten und Schrullen zeichnet die Autorin ihre Figuren. Mit Ironie und Situationskomik folgen die Szenen einander in immer absurder kreisendem Reigen und einem Hauch von leise durchschimmernder Tragik. Ein skurril-komisches Kammerstück, ein kleines literarisches Juwel, das zu entdecken sich lohnt. (Syme Sigmund) Leseprobe

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Emine Sevgi Özdamar: Ein von Schatten begrenzter Raum

Suhrkamp Verlag 2021, 763 S., € 28,-, TB 2023, € 15,-

(Stand Februar 2024)

Ein einzigartiger Roman, der – zum Glück – in keine Schublade passt. Die Ich-Erzählerin, das Alter Ego der Autorin, eine junge intellektuelle Schauspielerin, will an den besten Theatern Europas, das sind in den 70ern des vergangenen Jahrhunderts Bühnen in Ostberlin, Paris und Bochum, arbeiten, lernen und sich weiterentwickeln. Ihr Talent, ihre Kreativität und Hingabe werden allerorten geschätzt, nur ist sie keine Muttersprachlerin, hat sie als Türkin ohne längeres Bleiberecht keine stabile Perspektive. Zurückkehren geht angesichts der politischen Lage zuhause auch nicht. Das ist die Ausgangssituation für einen der ungewöhnlichsten Romane dieser Zeit, in dem es um die ganz großen Themen wie Politik, Gewalt, Heimat und Zugehörigkeit geht, den Grenzen und Schatten, aber ebenso um die feinen Momente, die Räume der Begegnungen, Freundschaften, Künste, der Liebe, der Sprachen.
Poesie, Verdichtung, Phantasie, Spielen, Improvisieren, Menschenfreundlichkeit und vielfältige Lektüren sind die Instrumente, die die Protagonistin immer wieder retten, und die sie als Stilmittel in ihrem Buch unkonventionell einsetzt und zu einer atemberaubenden, inspirierenden Literatur verwandelt. (Stefanie Hetze) Leseprobe

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Antje Rávik Strubel: Blaue Frau

Fischer Verlag 2021, 432 S., € 24,-

(Stand November 2021)

Als Adina ihr Heimatdorf in den tschechischen Bergen in Richtung Berlin verlässt, ist sie voller Zuversicht. Deutsch lernen wird sie und studieren, ihren Weg machen. In Berlin lernt sie die selbstbewusste Rickie kennen, die ihr einen Job im Oderbruch vermittelt, wo ein Kulturzentrum entstehen soll, mit Fördergeldern der EU. Doch der, der die Gelder bewilligen soll, ist an Adina auf seine eigene Art interessiert. Vergewaltigt, misshandelt und traumatisiert findet Adina den Weg nach Finnland und muss all die ihr verbliebene Kraft aufwenden, sich nicht selbst zu verlieren und ihr Vorhaben, die Täter anzuzeigen, in die Tat umzusetzen.
Ein kunstvoll erzähltes Buch, das unter die Haut geht. In präzise, bisweilen poetisch formulierten Sätzen, in vier einander ergänzenden und aufeinander verweisenden Teilen, benennt es die Strukturen, die es möglich machen, dass – insbesondere osteuropäische – Frauen zu Sexualobjekten degradiert werden, handelt es von toxischer Männlichkeit, Machtmissbrauch und der Mitschuld derer, die wegschauen oder nicht gut genug hinsehen. Wer die blaue Frau ist, bei deren Auftauchen „die Erzählung innehalten muss“, sollte jede:r selbst für sich erlesen.
(Syme Sigmund)

Leseprobe

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Beppe Fenoglio: Eine Privatsache

Aus dem Italienischen von Heinz Riedt, Wagenbach Verlag 2021, 192 S., € 20,-
(Una questione privata, Einaudi, ca. € 16,50)

(Stand Oktober 2021)

Der 1963 posthum veröffentlichte Roman Una questione privata wird heute als Fenoglios Meisterwerk und einer der besten italienischen Romane des 20. Jahrhunderts angesehen. Italo Calvino hat ihn sogar mit dem Orlando furioso verglichen. Der Vergleich mag weit hergeholt klingen, doch ist dieses Buch ein wahres literarisches Wunder.
In den Langhe des Piemont, kämpft Milton, ein junger Universitätsstudent, während des Partisanenkriegs in den autonomen Formationen. Im Zuge einer Militäraktion sieht der einsame Held die Villa, in der Fulvia, ein Mädchen, das er geliebt hat und immer noch liebt, einst lebte. Kurz danach erfährt er, dass seine Geliebte auch mit seinem Freund Giorgio ein Verhältnis hatte. Von Eifersucht geplagt versucht Milton seinen Rivalen zu finden und erfährt, dass dieser von den Faschisten gefangen genommen wurde.
Erst 1968 ins Deutsche übersetzt und schon lange vergriffen, ist dieses wunderbares Buch endlich wieder erhältlich, hier zudem mit einem sehr lesenswerten Nachwort von Francesca Melandri. (Giulia Silvestri)

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Ann Petry: Country Place

Aus dem amerikanischen Englisch von Pieke Biermann, Nagel & Kimche 2021, 320 S., € 24,-, TB März 2024, € 14,-

(Stand März 2024)

Als Johnnie aus dem Krieg heimkehrt sehnt er sich vor allem nach seiner vier Jahre zuvor zurückgelassenen jungen Frau. Doch das Wiedersehen verläuft nicht wie erträumt, Glory erträgt seine Anwesenheit kaum. Nach und nach kommen in diesem Sittenbild einer amerikanischen Kleinstadt weitere Personen zu Wort – Glory, die glaubt ihr Glück bei dem Verführer des Ortes finden zu können, der alles beobachtende Apotheker, der tückische Schnüffler und Taxifahrer „Wiesel“ oder Glorys Mutter, die nur auf das Ableben ihrer Schwiegermutter lauert, um an das Erbe zu gelangen. Es entfaltet sich ein Bild voller Missgunst, Neid, Boshaftigkeit und Rassismus. Eine Sturmnacht mit sturzbachartigem Regen und entwurzelten Bäumen bildet die Kulisse für all die menschliche Niedertracht und Verlorenheit.
Ann Petry, die selbst in den dreißiger Jahren in einer solchen Kleinstadt gelebt hat, entlarvt mit scharfer Zunge und einer von Pieke Biermann hervorragend übersetzten Sprache die Bewohner des Ortes als engstirnige Verteidiger ihrer Privilegien, die auch vor Mord nicht zurückschrecken.
Einzig vom Lektorat hätte man sich bessere Arbeit gewünscht, der Text enthält leider zu viele Fehler – da sollte nachgebessert werden. Das Lesevergnügen wird dadurch aber nicht nachhaltig geschmälert. (Syme Sigmund)

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Ulrike Edschmid: Levys Testament

Suhrkamp Verlag 2021, 144 S., € 20,-

(Stand Juli 2021)

Ulrike Edschmid schreibt von dem, was sie selbst kennt, ohne sich um sich selbst zu drehen. Im linkspolitisch bewegten London der frühen Siebzigerjahre, die geprägt waren von Hausbesetzungen, IRA-Anschlägen und Kämpfen gegen rabiate Gerichtsurteile, in das sie, die Erzählerin, „wie vom Regen in die Traufe“ aus Berlin gekommen war, legt sich im Abbruchhaus voller Aktivist:innen ein Mann in ihr Bett. Schnell wird dieser ihr Geliebter, doch umso weniger beginnt jetzt ein klassischer Liebes- oder Beziehungsroman.
Edschmid, die Virtuosin des Verdichtens, legt mit der Geschichte dieses Mannes, den sie namenlos als „den Engländer“ bezeichnet und der nach gemeinsamer Zeit in Deutschland ein lebenslanger Freund wird, stattdessen Spuren, die weit in historische und soziale Zusammenhänge führen.  Er identifiziert sich als Arbeitersohn, ist aber auch Jude, was viele Leerstellen für ihn enthält, bis sich die Ereignisse in seiner ihm unbekannten Familie überschlagen und sich tiefe Abgründe offenbaren, die sein weiteres Schicksal prägen werden.  Angenehm nüchtern, in prägnant kurzen Sätzen wird das Drama eines Lebens erzählt, tun sich weitreichende Fragen zur Bedeutung von Herkunft, Familie, Klasse und Brüchen im Leben auf, die sehr berühren und lange nachhallen. (Stefanie Hetze) Leseprobe

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Judith Hermann: Daheim

Fischer Verlag 2021, 192 S., € 21,-, TB 2022, € 13,-

(Stand September 2022)

Ein Neuanfang. Von ihrem Mann getrennt, die flügge gewordene Tochter irgendwo in der Welt unterwegs, hat sie die Großstadt verlassen und ist an die Küste gezogen. Weite Felder, flaches Land, Deiche und Schafe. Das Meer grau und kalt selbst im Sommer. Ihr Bruder betreibt eine Kneipe, hier arbeitet sie – und begegnet ihrer neuen Umgebung mit offenen Augen. Mit Mimi, ihrer Nachbarin, freundet sie sich an, und von Arild, dem verschlossenen Schweinebauern, fühlt sie sich angezogen. Es ist eine begrenzte Welt, unaufgeregt, bodenständig, rau-herzlich der Ton, es wird viel geschwiegen, und doch viel gesagt. Judith Herrmann beschreibt ihre Figuren mit liebevollem Blick und großer Empathie, abwartend, ohne zu werten, in unverwechselbarem, schwebend-leichtem und doch präzisem Ton, ohne ein Wort zu viel. Ein kleiner Kosmos fernab des Weltgeschehens und doch allumfassend, menschlich. Eine Wohltat in Zeiten vorschnellen Schubladendenkens und ein beglückendes Leseerlebnis. (Syme Sigmund)

Leseprobe

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Gaito Gasdanow: Schwarze Schwäne

Erzählungen. Aus dem Russischen übersetzt und mit einem Nachwort von Rosemarie Tietze, Hanser Verlag 2021, 272 S., € 24,-, TB dtv 2023, € 14,-

(Stand Februar 2024)

Was für ein Autor! Lange Zeit vergessen, ist Gasdanow nun dank des Hanser-Verlags endlich Werk für Werk auf Deutsch zu entdecken. Nach einer Reihe Romane hat die preisgekrönte Übersetzerin Rosemarie Tietze hier nun 9 Erzählungen ausgewählt, die zwischen 1927 und 1960 veröffentlicht wurden.
Gasdanow gehörte zum „Russischen Montparnasse“, junge russische Autoren, die erst im französischen Exil zu schreiben begannen und sich hierbei eher an Proust oder Joyce orientierten als an den russischen Klassikern. Sie wurden auch als die „unbeachtete Generation“ bezeichnet, denn ihre Werke erschienen in Frankreich auf Russisch und waren einer größeren Leserschaft oft nicht bekannt.
Gasdanows Geschichten erzählen von Exilanten, die sich neu erfinden müssen, schlecht Fuß fassen oder es zu unerwartetem Reichtum bringen, immer in der Leere zwischen der verlorenen alten und der nicht als einer solchen empfundenen neuen Heimat gefangen. Sie kreisen um ihre Erinnerungen oder ihre Verzweiflung, leben von Selbstbetrug, sind verletzlich, zynisch oder ohne Illusionen.
Es ist große Literatur, voll schmerzlicher Leichtigkeit und Schönheit, mit psychologisch feinfühlig gezeichneten Charakteren, die uns gefangen nimmt, zeitlos und gleichzeitig hochaktuell, angesichts des nicht abreißenden Stroms ins Exil gezwungener Menschen auch heute. (Syme Sigmund) Leseprobe

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