Oliver Lovrenski: bruder, wenn wie nicht family sind, wer dann

Aus dem Norwegischen von Karoline Hippe
Hanser Berlin, 2025, 252 Seiten, 22 Euro

bruder, wenn wir nicht family sind, wer dann zu lesen ist eine literarische Achterbahnfahrt.
Das Debüt des zum Zeitpunkt des Erscheinens gerade einmal 19-jährigen Autors Oliver Lovrenski erzählt vom Aufwachsen der vier Freunde Ivor, Marco, Jonas und Arjan in den Straßen Oslos. Während anfangs noch Vorstellungen von einer Zukunft existieren – Anwalt werden oder eine Boxkarriere, Familie gründen und es besser machen als der eigene Vater –, bestimmen bald Sucht und Gewalt, Jugendamt und Polizei den Alltag.
Was die Jungs trägt, ist ihre unbedingte Loyalität zueinander. Sie ziehen durch die Stadt, hängen ab, konsumieren oder verticken Drogen, gehen zur Schule oder eben nicht, Lassen sich von Jonas Oma bekochen, spielen Kniffel mit ihr und machen den Abwasch, prügeln sich, verlieben sich, bedrohen oder werden bedroht, wollen ihre kleinen Brüder vor ihrer Realität beschützen und ihren Müttern die Tränen nehmen.
Von diesen Leben voller Ambivalenzen erzählt Lovrenski – phantastisch übersetzt von Karoline Hippe – in einer rohen, rhythmischen Sprache, fast ohne Interpunktion, fast alles kleingeschrieben (außer Baba, Oma). Eine fulminante Lektüre! (Katharina Bischoff)

Das bestelle ich bei Dante!

Yasmina Reza: Die Rückseite des Lebens

Aus dem Französischen von Claudia Hamm, Hanser 2025, 200 Seiten, 24 Euro

Eine schmächtige Frau erschießt ihren gewalttätigen Mann, versteckt seine Leiche, schleift sie in ein von ihr gegrabenes Loch. Als dies von Fliegen heimgesucht wird, zerrt sie sie durchs Kinderzimmer auf den Dachboden, wo sie sie einbetoniert. Eine Frau tickt in der Metro aus, sticht mit einem Messer um sich und beleidigt rassistisch. Ein Mann versucht, mit Atropin alte Frauen zu vergiften, um an ihr Erbe zu kommen. Solch dramatische Taten werden in der Regel kurz medial hochgekocht, um alsbald von einem neuen Skandal abgelöst zu werden. Nur Strafgerichte gehören zu den Orten, an denen minutiös hergeleitet wird, wie es zu derart unberechenbaren Handlungen kommen konnte. Yasmina Reza protokolliert seit Jahren Prozesse, in denen die Widersprüche der menschlichen Existenz in all ihren Verästelungen zur Sprache kommen. Dabei urteilt sie nicht und interessiert sich auch nicht für das finale Urteil. Sie lässt sich ganz auf die Äußerungen der jeweiligen Seite ein, was bei der Lektüre zu einem ständigen Perspektivwechsel und damit einer rasanten Abfolge von Mitfühlen und Urteilen führt. Das macht ungemein klug deutlich, wie schnell alltägliche Situationen kippen können. Wie gefährdet und von Zufällen bestimmt das Leben ist, erzählt Reza auch in sehr persönlichen Skizzen, die wieder auf eine andere Art berühren und die kostbare Zerbrechlichkeit des Daseins erfahrbar machen. Ein wirklich besonderes Buch! (Stefanie Hetze)

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Annika Büsing: Wir kommen zurecht


Steidl, 2025, 288 Seiten, 24 Euro

„Zu funktionieren ist wie Magie, wie eine schwarze Flamme, die auf der Haut brennt, ohne sie zu versengen“, heißt es irgendwo in der Mitte des Romans. Da wissen wir als Leser*in bereits, dass Philipp kurz vor seinem 18. Geburtstag steht und sich aufs Abitur vorbereitet. Wir wissen, dass er mit seinem Vater und dessen Freundin in einem Haus mit Garten, Espressomaschine und einer Reinigungskraft lebt, dass es in der Schule eigentlich ganz okay läuft und dass er einen richtig guten Freund hat, mit dem er zum Kiffen auf den Friedhof geht. Alles funktioniert soweit. Philipp funktioniert. Alles ganz normal.
Die Flamme, die auf Philipps Haut brennt, ist seine abwesende, psychisch kranke Mutter. Sie ist schon lange nicht mehr Teil seines Alltags, nur manchmal taucht sie auf, um ihm einen Hund zu schenken, den sie ihm gleich wieder wegnimmt oder, um mit ihm in irgendeine Stadt zu fahren und auf halbem Weg zu vergessen, was sie dort will. Manchmal lässt sie ihr Auto auch einfach irgendwo stehen und wird daraufhin von der Polizei gesucht.
Annika Büsing erzählt in einer wunderbar einfachen, poetischen Sprache, klug und zurückhaltend, mit allen Ambivalenzen vom Kipppunkt zwischen Kindheit und Erwachsen-Sein, vom Eltern-Sein, von Freundschaft, vom Rausch, von schönen Begegnungen.
Ein traurig-tröstend-wärmendes Buch, dass einen auch nach der Lektüre noch eine ganze Weile glauben lässt: alles ist irgendwie anstrengend, aber alles kann irgendwie gut werden. (Katharina Bischoff)

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Katherine Rundell: Impossible Creatures

Übersetzt von Henning Ahrens, Fischer SAUERLÄNDER 2025, 384 Seiten, ab 11

Wieder einmal sind die Ferien bei den Großeltern Ausgangspunkt großer Abenteuer … in diesem Fall im Norden Schottlands, wo sich Christopher natürlich nicht an das Verbot seines Großvaters hält, einen nahen Hügel zu erklimmen. Prompt öffnet sich dem außergewöhnlich tierlieben Jungen dort ein Übergang zu einer fantastischen Welt und er begegnet Mal, einem Mädchen, das vor einem Mörder flieht. Sie kann mit einem alten Mantel fliegen und beschützt einen jungen Greif – vielleicht den letzten seiner Art. Die Magie des Archipels scheint zu versiegen, etwas Dunkles steht bevor. Nicht nur der Greif, alle Fabelwesen sind in Gefahr, mit ihnen der gesamte Archipel. Allein das Unsterbliche verspricht Rettung, ist jedoch verschollen. Katherine Rundell vereint in ihrer enorm spannenden Trilogie Fabelwesen aus den Mythologien einmal rund um den Globus – eben Impossible Creatures. Neben Kindern sehr sicher bekannten Wesen wie Einhorn und Drache begegnen sie dem Al-mi’raj (ein gehörnter Hase), dem Lavellan (eine Art bösartige Spitzmaus) oder dem Mantikor (ein gefährlicher Löwe mit Skorpionschwanz). So entsteht mit dem Archipel eine Fabelwelt der Sonderklasse! (Jana Kühn)

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Wolfgang Krolow: Kreuzberg die Welt


Assoziation A, 288 Seiten, 44 Euro

Die Werkschau des Fotografen Wolfgang Krolow „Kreuzberg die Welt“ lässt uns durch die Scheiben unserer Buchhandlung direkt in die revolutionäre, schwarz-weiße, wilde Vergangenheit unserer Nachbarschaft schauen. Frisch aus der süd-westdeutschen Provinz in Berlin, wird Krolow ab den 1970er Jahren Teil der Kreuzberger linkspolitischen Szene, die er nicht nur dokumentiert, sondern in Bildern mitbewegt. Die Perspektiven, die er wählt sind mitunter waghalsig, ungewohnt. Ungestört spielende Kinder direkt neben einem Polizeieinsatz, ein Punk im sonnigen Fenstergesims, hoch oben in einer Fassade, melancholisch zusammengesunken wie seine Frisur. Vielleicht ist das eines der wichtigsten Fundstücke in Krolows Bildern: Widerstand muss normal sein, findet immer mitten im Leben statt. Und mehr noch: Anarchie, Straßenkampf, Instandbesetzung ist mitunter etwas Zartes, sehr Poetisches – ein Demonstrant, inmitten von Pflastersteinen stehend, schaut selbstvergessen in das klaffende Loch einer Straße. Kleine, kontemplative Vignetten, die von den Geschichten hinter den Ereignissen berichten, aber immer hochpolitisch sind: Krolow interessiert sich für die migrantische Kultur Kreuzbergs zu einer Zeit, als es vielen Linken noch schwer fällt sich zu solidarisieren. Ein liebevoll-kämperfischer Blick auf das alte Kreuzberg, von dem das neue sich gerne wieder inspirieren lassen darf. (Kerstin Follenius)

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Happy Pride 2025

Unsere Buchempfehlungen

Happy PRIDE 2025! Trotz und gerade wegen aller Anfeindungen, Absagen und Angriffe. Dies sind unsere Buchempfehlungen zur Pride 2025 – von druckfrisch bis all-time favourites.

Mehr davon, wirklich viel mehr – allein die Auswahl für diesen Instagram Beitrag ist uns enorm schwer gefallen – findet ihr bei uns in der Oranienstraße und in unserem Webshop.

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Webshop

Bücher bestellen und mehr

In unserem Webshop kann gestöbert und gekauft werden – Bücher zur Abholung im Laden, Bücher zum deutschlandweiten Versand, Gutscheine, E-Books und Hörbücher zum Download.

Ihr findet hier – wie im Laden auch – unsere Thementische zum Stöbern. Findet ihr etwas nicht, schreibt uns kurz eine E-Mail oder ruft an. Nicht alle Titel sind über den Shop bestellbar, aber wir besorgen euch versprochener Maßen fast jedes neu lieferbare Buch.

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Aktuelle Ausstellung in der O45

DAS FRIEDENSTIER (dtv)

Gemeinsam für den Frieden – Künstler*innen setzen ein Zeichen. Friedenstauben kennt jeder. In diesem Buch versammeln sich zudem geflügelte Kängurus, Wildschweine, Dackel, Kröten, Elefanten und viele weitere Tiere, um sich für mehr Frieden einzusetzen. Dazu gibt es Gedanken, Gedichte und Geschichten, die Hoffnung auf eine friedlichere Welt machen.

Wir zeigen eine Auswahl der Friedenstiere u.a. von Friederike Ablang, Marie Geissler, Anke Kuhl, Eva Muggenthaler und Yves Kervoelen.

Öffnungszeiten
Fr 23.5. / Sa 24.5. von 13 bis 18 Uhr
Fr 30.5. / Sa 31.5. von 13 bis 18 Uhr

Projektraum O45 – Oranienstraße 45 – Berlin 10969

Finissage
Sonntag, 1.6.2025
13 Uhr bis 18 Uhr

Workshop mit Yves Kervoelen
„Gestalte dein eigenes friedliches Tier“ 14.30 und 15.30 Uhr
Eintritt 5 Euro

 

 

Sonntag, 1. Juni 2025

Literarische Matinee im Obermaier kuratiert von Dunja Funke und Stefanie Hetze:
 
Frühlingsnacht – LESUNG & GESPRÄCH mit dem Übersetzer Hinrich Schmidt-Henkel und dem Verleger Sebastian Guggolz

Mit der neuesten Übertragung und Herausgabe eines Romans des großen norwegischen Autors Tarjei Vesaas ist dem Dreamteam aus Übersetzer und Verleger wieder ein literarischer Coup gelungen. Frühlingsnacht ist der Roman einer Nacht der Schwebezustände und Ungewissheiten, in der alles sich ständig verändert. Hinrich Schmidt-Henkel hat mit seiner vierten Vesaas-Übertragung für den Guggolz Verlag wieder eine atemberaubende Spannung geschaffen, Sebastian Guggolz mit der Herausgabe ein intellektuelles und ästhetisches Vergnügen ermöglicht.
Im Gespräch mit Dunja Funke stellen sie das Buch vor und geben Einblick in ihre Zusammenarbeit. Die Schauspieler:innen Mariel Jana Supka und Olaf Helbing lesen und musizieren, die Dante bringt die Bücher mit.

wann? Sonntag, 1. Juni 2025 um 12 Uhr
wo? Obermaier Salon, Erkelenzdamm 17
Einlass ab 11.30 Uhr
Tickets 10 Euro
Reservierung: info@danteconnection.de
info@obermaier-kreuzberg.de

Wir bedanken uns sehr herzlich bei NORLA für die Unterstützung!

 

 

Hinrich Schmidt-Henkel, geboren 1959, übersetzt aus dem Französischen, Norwegischen und Italienischen u. a. Werke von Henrik Ibsen, Kjell Askildsen, Jon Fosse, Tomas Espedal, Louis-Ferdinand Céline, Édouard Louis und Tarjei Vesaas. Für seine Arbeit wurde er vielfach ausgezeichnet, u. a. (gemeinsam mit Frank Heibert) mit dem Straelener Übersetzerpreis der Kunststiftung NRW, 2018 mit dem Königlich Norwegischen Verdienstorden und zuletzt, 2025 mit dem „Fosse-Preis für Übersetzer“ des norwegischen Staates.
Sebastian Guggolz, geboren 1982, studierte Kunstgeschichte und Germanistik in Hamburg. Anschließend war er als Lektor für den Verlag Matthes & Seitz Berlin tätig. 2014 gründete er den Guggolz Verlag, der sich auf Neuübersetzungen von Werken in Vergessenheit geratener Autor*innen der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts aus Nord- und Osteuropa spezialisiert hat. Seit November 2022 ist Sebastian Guggolz auch im Lektorat des S. Fischer Verlag als Teamleiter Klassiker tätig. Der Guggolz Verlag wurde bereits vielfach ausgezeichnet, 2016 mit der „Übersetzerbarke“ des VdÜ, drei Mal mit dem Deutschen Verlagspreis, davon 2022 mit einem der Hauptpreise.

 

Fiona Sironic: Am Samstag gehen die Mädchen in den Wald und jagen Sachen in die Luft


Ecco 2025, 208 Seiten, 23 Euro

Am Samstag gehen die Mädchen in den Wald und jagen Sachen in die Luft ist nicht nur der hinreißendste Titel dieser Saison. Es ist auch der nicht minder faszinierende Befreiungsschlag der beiden Teenager Maja und Merle, Töchter sogenannter Momfluencerinnen, deren Ruhm darin begründet liegt, jedes Detail ihrer Familie zu streamen. Im Versuch die eigene überöffentliche Geschichte wieder einzufangen, greifen die Mädchen zu radikalen Mitteln und sprengen zunächst die Festplattenbackups der Mütter in die Luft. Beobachtet werden sie dabei von Era, einer Schulkameradin Majas. Zurück bei Stift und Notizbuch wird sie zur Chronistin eines Zeitenwandels: Wälder brennen, Vögel sterben in rasantem Tempo aus. Was als Selbstermächtigungsgeste zweier digital ausgebeuteter Teenager beginnt, entwickelt sich zu einer Graswurzelbewegung und bald schon ziehen Banden von wütenden Mädchen durch die Straßen der unbelebbar gewordenen Städte und sprengen sich frei von den Objekten ihrer digitalen Unterdrückung. Die Zukunft, in die Fiona Sironic uns schickt, ist nicht allzu fern. Die fortschreitende Klimakrise liefert den Hintergrund dieser dystopischen Erzählung aus der die Autorin eine mitreißend utopische Kraft zieht und, fast nebenbei, eine wunderschön traurige Liebesgeschichte erzählt. Ein feministisches Feuerwerk – klug, wild und inspirierend! (Kerstin Follenius)

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