Wagenbach 2023, 304 S., € 26,-
Die Aushilfskellnerin Suzu lebt in einer japanischen Großstadt anonym und zurückgezogen. Kontakte mit Menschen begrenzt sie auf das Nötigste, hin und wieder ein Date ohne Folgen. Eine gewisse Leere muss sie empfunden haben, legt sie sich doch einen Hamster zu. Als sie mangels „Liebreizes“ ihre Arbeit verliert, nimmt die phlegmatische junge Frau einen ungewöhnlichen Job an. Sie wird Teil einer Truppe, die die unappetitlichen geruchsintensiven Überreste von unbemerkt Gestorbenen reinigt. Es kostet sie zwar Überwindung, was der charismatische lebenslustige Chef nicht gelten lässt. Er verlangt von seinem Team höchsten Einsatz, was gemeinsame tägliche Besuche von Badehaus und Restaurant einschließt. Zugleich erschließt er seinen Leuten, eben auch Suzu und ihrem verschlossenen jungen Kollegen, ihre Arbeit ernst zu nehmen, die Vorgeschichten und die Würde der einsam Gestorbenen, der Kodokushi, zu achten. Peu à peu verändert sich dabei Suzus eigenes Leben. Mit Leichtigkeit und Eleganz verzahnt die Autorin die großen Fragen vom Leben und Sterben, von Nähe und Distanz, Gesellschaft und Einsamkeit, um sie sogleich spielerisch durcheinanderzuwirbeln. Erhöht wird das Lesevergnügen durch einen Anhang, der japanische Begriffe und Spezifika erklärt. (Stefanie Hetze)

Anna und Tom haben ihr Hobby zum Beruf gemacht und ziehen aus ihrer als provinziell empfundenen italienischen Heimat als freischaffende Webdesigner in den 2000er Jahren nach Berlin. Hier sind die Mieten noch billig, es schlägt der Puls der Zeit, da wollen sie dazugehören. So reihen sie sich ein in die Menge der Expats dieser Stadt. Kontakt mit Deutschen haben sie kaum, ihre Freunde sind Spanier, Portugiesen oder Amerikaner, es wird englisch gesprochen, wo die Mauer verlief ist nicht von Interesse. Das Leben zwischen Instagram und Berghain, Arbeitstagen im Café und Aperitif an der Spree, Kunstgalerien und Karaoke im Mauerpark hat vor allem eins zu sein – durchdesignt und fotogen.
Ein Roman, der uns mit Wucht in die Realität der italienischen Provinz katapultiert. Gaia, die Ich-Erzählerin, wächst unter prekärsten Bedingungen auf. Der Vater sitzt seit einem Schwarzarbeitsunfall querschnittsgelähmt passiv herum, während die kämpferische Mutter, eine Mamma Roma, alles mit Ach und Krach über Wasser hält. Mit Tricks schafft diese es, die Familie raus aus Rom in eine Kleinstadt mit vielen Wohlsituierten am Lago di Bracciano zu bugsieren. Für die Tochter beginnt ein enormer Spagat. Sie soll den Aufstieg schaffen, der ihrer Mutter verwehrt ist. Dazu muss sie lernen, noch mehr pauken und jeden Tag den langen Weg nach Rom in eine Reichenschule pendeln. Dabei will sie wie die anderen Dinge anhäufen und sich vergnügen. Doch so sehr sie sich anstrengt, sie bleibt die bemitleidete Außenseiterin, der sich auch als Erwachsene die Türen versperren. Da hilft nur unbändige Wut, die sich vielfach gewaltsam entlädt. Wie Giulia Caminito die Bandbreite an aufgestauten und ausbrechenden Gefühlszuständen ihrer Protagonistin austariert, ist grandios, verstörend und enorm berührend. Glasklar und unmittelbar ist dazu die deutsche Übertragung von Barbara Kleiner – eine Lektüre, die nachhallt. (Stefanie Hetze)
Link ist ein junger Mann mit hervorragendem Universitätsabschluss, schön wie ein Adonis, einst Star der Footballmannschaft seines Colleges, brillant und sensibel. Doch in der Kleinstadt in der Nähe von New York Anfang der 1950er Jahre hilft ihm das wenig. Aufgewachsen als schwarzes Adoptivkind in der berüchtigten Gegend am Fluss, den Narrows, bei der ehemaligen Lehrerin Abbie Crunch, die stets Angst hat, etwas „racetypisches“ zu tun, und geprägt von Bill Hod, dem Boss der Unterwelt, der ihn unter seine Fittiche nimmt und ihm Stolz auf seine Herkunft vermittelt, arbeitet er als Barmann in Hod’s Kneipe The Last Chance.
Was für ein Schatz! Es sind kleine, eher unspektakuläre Dinge, die die Autorin ausgewählt hat, um profund und detailreich einschneidende Ereignisse der Geschichte der Frauen zu erzählen: Nützliche Dinge wie die Singer Nähmaschine oder die Menstruationstasse, Statuetten, Postkarten, Urkunden, Abzeichen wie die Anti-Sklaverei-Münze, Dekoratives wie der Lippenstift, Alltägliches wie eine Kaufhausquittung werden hier zu bedeutsamen Kristallisationspunkten von Frauengeschichte. Die Gegenstände zeugen von Unterdrückung und Selbstermächtigung, vom widersprüchlichen weiblichen Alltag, von plumpem Ausschluss und intelligentem Widerstand. Die Dinge ist eine Bereicherung fürs Bücherregal zum Immer-Wieder-Lesen und Entdeckungen machen. (Stefanie Hetze)
Davide Morosinotto ist der aktuell wohl erfolgreichste italienische Jugendbuchautor. Auch in Deutschland war er bereits für den Kinder- und Jugendliteraturpreis nominiert. Seine Werke zeichnen sich durch viel sprachliches Einfühlungsvermögen, enorme Spannungsbögen, eine aufwändige Gestaltung und – ganz beiläufig – jede Menge vermitteltes Wissen aus. Seine Figur der “Shi Yu” ist inspiriert von der historisch belegten Zheng Yisao (1785-1844), einer Piratin der südchinesischen Meere, die eine Flotte von 1.000 Schiffen und um die 80.000 Menschen befehligte – alles in allem eine Frau, die ihrer Zeit weit voraus war. Morosinotto erzählt ihre beeindruckende Lebensgeschichte als märchenhaftes Epos und spannenden Martial-Arts-Roman. Vom überlieferten Leben der Zheng Yisao wählte er den Anfang (das von Piraten geraubte Mädchen), die Mitte (sie wird zur Anführerin) und das Ende – das hier nicht verraten sei. So, wie es die chinesischen Märchenerzähler vor langer Zeit machten, nahm er sich die künstlerische Freiheit, ihr Leben von einer wahren Geschichte in eine Legende zu verwandeln. Spannend, lehrreich & empowernd! (Jana Kühn)
Bita Plant ist im jamaikanischen Dorf Banana Bottom geboren und aufgewachsen. Nach einer schwierigen Kindheit wird ihr von den Pastoren Malcolm und Priscilla Craig geholfen, nach England auszuwandern, wo sie sieben Jahre lang im Internat ausgebildet wird. Bei ihrer Rückkehr nach Jamaika muss sie feststellen, dass ihr kulturelles Erbe mit der neu erworbenen Lebensweise in Konflikt steht. Dennoch fängt sie an, ihr Heimatland wiederzuentdecken und die Pläne, die ihre Pflegeeltern für sie haben, lösen sich in Luft auf … Humorvoll und scharfsinnig, wird diese charmante Coming-of-Age-Geschichte in einer schönen, sanften Prosa erzählt. Durch intensive Dialoge und empfindsame Beschreibungen der karibischen Landschaften und des Landlebens zeigt der Autor ein zweifelloses Talent, die inneren Mechanismen und die Sehnsüchte der menschlichen Seele zu zeigen. Claude McKays „Banana Bottom“ war ein Vorbild für Zora Neale Hurstons 1937 erschienenen Roman „Vor ihren Augen sahen sie Gott“. Es wurden bisher keine Bücher des Autors ins Deutsche übersetzt. Eine großartige Entdeckung! (Giulia Silvestri)
Albanien 1989, ein Land, abgeschottet vom Rest der Welt, die letzte Hochburg des „wahren“ Kommunismus. Lea ist zehn Jahre alt und kennt nichts Anderes. Was die Lehrerin in der Schule vermittelt glaubt sie voller Inbrunst, „Onkel“ Enver Hoxha und Stalin liebt sie und die Eltern sowie die Großmutter halten den Überwachungsstaat und ihre eigenen Sorgen so weit als möglich von ihr fern, geben ihr Geborgenheit. Als die Grenzen fallen, bricht auch Leas Welt in sich zusammen. Ehemals absolute Wahrheiten erweisen sich als Lügen, der Kapitalismus zeigt seine hässlichste Fratze, die Mutter, eine Lehrerin, engagiert sich in der demokratischen Partei und geht schließlich im Zuge der Unruhen nach dem sogenannten Lotterieaufstand als Putzfrau nach Italien, der Vater fühlt sich den neuen Verhältnissen nicht gewachsen und Lea muss neben dem gesellschaftlichen Wandel auch die eigene Pubertät verarbeiten.
Im Frauenfreibad ist immer etwas los: Neue Gesichter tauchen auf, der Eintritt verteuert sich, der Imbiss fängt an, nur noch vegane Speisen zu verkaufen, die Polizei kommt vorbei… Langweilig wird es den regelmäßigen Besucherinnen nie. Während die alten Freundinnen Gabi und Eva sich um das Konzept von weiblicher Freiheit zanken und Yasemin von ihren Familienangehörigen kritisiert wird, weil sie einen Burkini trägt, besucht eine Gruppe komplett verschleierter Frauen das Freibad. Die Atmosphäre eskaliert immer weiter, bis die Bademeisterin ihren Job kündigt.
Wie fühlt es sich an, im Norden einer Stadt im Ruhrgebiet in dem Stadtteil, in dem Armut, Arbeitslosigkeit und Gewalt zur Tagesordnung gehören, aufzuwachsen? Nene, die junge Protagonistin dieses fulminanten Debüts, weiß es aus eigener Erfahrung. Sie arbeitet als Bademeisterin in einer öffentlichen Badeanstalt und kämpft sich dort durchs Leben, indem sie Menschen beobachtet, ihre Bahnen zieht und dabei rational bleibt. Eines Tages begegnet sie Boris, einem jungen Mann aus derselben Gegend, der wegen seiner Kinderlähmung seine Beine trainieren will. Zwischen den beiden entwickelt sich schnell eine romantische Beziehung, die zu intensiven Auseinandersetzungen mit Schwierigkeiten, Selbstzweifeln und Traumata führen wird.