Suhrkamp 2022, 267 S., € 24,-, TB März 2023, € 13,-
(Stand März 2023)
Der Rombo – das ist das Geräusch, welches einem schweren Beben vorangeht, ein Grollen tief aus der Erde kommend, ursprünglich und unvergleichlich.
1976 wurde die Region der Friauler Alpen im Nordosten Italiens von zwei heftigen Erdbeben heimgesucht, viele Orte wurden vollständig zerstört. Esther Kinski hat die Erinnerungen verschiedener Zeitzeugen gesammelt, die damals zum Großteil noch Kinder waren, und diese in einem ausgewogenen Wechsel mit geologischen und zeithistorischen Erläuterungen sowie Informationen über Flora und Fauna, Legenden und Bräuche der Gegend kombiniert. Die immer kurzen Textstücke der Memoiren folgen locker der Chronologie der Ereignisse, die beschriebenen Episoden kreuzen, überlappen und ergänzen sich.
Das Ergebnis ist eine fesselnde Lektüre, wobei der Ton hier authentisch die Erzählenden widerspiegelt und dort durch die dichten, lyrischen Sätze der Autorin geprägt ist. Ein Sprachkunstwerk ohne ein Wort zu viel, von hypnotischem Rhythmus und kühler Eleganz. (Syme Sigmund) Leseprobe

Als mich im Februar 2021 die Nachricht erreichte, Françoise Cactus sei verstorben, war ich sehr traurig. Sängerin, Schlagzeugerin, Liedermacherin vom feinsten, Radiomoderatorin einer meiner Lieblingssendungen, eine offenherzige, witzige Frau und nicht zuletzt Kreuzbergerin, über sie könnte man viel erzählen.
Eine Westberliner Kindheit der 70er zwischen der Wohnung im Märkischen Viertel und Sonntagsbesuchen bei den Großeltern in der nach Kiefern duftenden Onkel-Tom-Siedlung in Zehlendorf. Von der Vergangenheit, von der NS-Zeit wird kaum gesprochen. Das übliche Man-hat-ja nichts gewusst. Als Jahre später Bianca Schaalburg die Schlafzimmermöbel ihrer Großeltern erbt, setzen sie eine große Recherche bei ihr in Gang. Mit ihrer faszinierenden Graphic Novel begibt sie auf die Suche, hinter die familiäre Fassade, also all das Verdrängen, Ausreden und Lügen zu schauen. Immer tiefer gräbt sie, entdeckt Verstörendes, was ihren idyllischen Kindheitserinnerungen zuwiderläuft. Hin und her wechselt sie die Zeitebenen, was sie durch Stilmittel wie die Farbgebung, Wechsel der Moden, der Architektur, der Schauplätze, der Alltagssprache, der Lieder hautnah erfahrbar macht. Das Buch ist zudem wunderschön gestaltet, so glänzen die Stolpersteine golden, gibt es einen Anhang mit weiterführenden historischen, biographischen und kulturellen Informationen. Doch das wirklich Besondere ist, dass ihre Spurensuche und Überlegungen Teil des Ganzen sind, dass sie mit diesem Geniestreich einlädt, auch einmal die eigene Familie und die Gegenwart in den Blick zu nehmen. Eine unbedingte Empfehlung für Jugendliche & Erwachsene. (Stefanie Hetze)
Ein entspanntes Abendessen mit Besuch aus Wien, spät ein weinender Mann, der Schwager der Autorin, am Telefon. Ihre Schwester ist tot, hat ihrem Leben ein Ende gesetzt und ist damit ihrer Mutter gefolgt. Das ist der Einstieg zu einem umwerfenden wie berührenden Memoir, in dem Bettina Flitner schreibend versucht, den Schock über den Suizid ihrer Schwester zu verarbeiten. Mit einer gewissen Skepsis habe ich es aufgeschlagen, zu prominent die Autorin als vielfach ausgezeichnete Fotografin, aber sofort zieht sie eine:n in den Bann, hinein in diese westdeutsche Familiengeschichte, in der die bürgerlich-liberale Fassade an vielen Stellen bröckelt, doch für vielgestaltige Erfahrungen der Schwestern sorgt. Sie müssen mit der Waldorfschule, dominanten Großeltern, einem New York-Aufenthalt klarkommen, mit dem nicht-monogamen Liebesleben der Eltern, ihren abrupten Stimmungsschwankungen und hochgesteckten Erwartungen. Und dann ist da noch die Familienkrankheit Depression. In kurzen Sätzen, mit viel Sinn für die vielschichtigen Auswirkungen von Ereignissen, lässt Flitner uns eintauchen in ihre familiäre Vergangenheit, das ist traurig, komisch, unterhaltsam, verstörend, beeindruckend – das Leben eben. (Stefanie Hetze)
Im Nachkriegsberlin konkurrierten Ost und West auch um die architektonische Vorherrschaft – Hansaviertel gegen Stalinallee. Dort im Vorzeigebau „Haus des Kindes“ wuchs die Autorin als jüngste Tochter in die DDR eingewanderter Kommunisten auf. Anfangs war das Leben in diesem luxuriösen Vorzeigegebäude mit Fernheizung, hochwertiger Ausstattung besonders privilegiert. Ein offener Kindergarten, in den sie nach Belieben gehen konnte, Trubel und Treiben bei den prominenten Nachbarsfamilien wie der des Stalinalleearchitekten Henselmann oder den Havemanns. Während die Erwachsenen sich mit ihrem Glauben an den sozialistischen Fortschritt wie selbstverständlich in ihrem komfortablen Leben am Strausberger Platz einrichteten, lernt die „Bonzentochter“ die zerbombten Straßen und Wohnungen dahinter kennen, ist auch mit den dort ärmlich lebenden Kindern befreundet, was ihre Wahrnehmung auf die Widersprüche der Erwachsenen und die allmählich bröckelnden Verhältnisse nach dem Bau des „antifaschistischen Schutzwalls“ schärft. Seismographisch bemerkt das Mädchen aus ihrer unverstellten Perspektive die Risse, die nicht nur am Prachtgebäude, sondern wo sie auch hinschaut, auftauchen. Fein und genau erzählt, sind diese Erinnerungen an die Ideale und Fallstricke der aufstrebenden DDR, ein hochspannendes Dokument Berliner Zeitgeschichte. (Stefanie Hetze)
Questo libro ha una splendida protagonista: il suo nome è Alfonsina Strada. Nata in una famiglia molto povera agli albori del ventesimo secolo, cresciuta in tempi duri nelle vicinanze di Bologna, additata come pazza per la sua esuberanza, nel 1924 riesce a partecipare al Giro d’Italia, unica donna in un contesto tradizionalmente riservato agli uomini.
Banine wurde 1905 in Baku geboren, in eine Familie, die durch Ölvorkommen auf ihrem Land eine der reichsten der Stadt war. Ihre Kindheit ist geprägt durch traditionell muslimische Strukturen – verkörpert in ihrer strenggläubigen Großmutter -, die von der Generation ihrer Eltern langsam kosmopolitisch aufgebrochen werden. So hat Banine ein deutsches Kindermädchen, lernt Klavier und Französisch. Mit der Oktoberrevolution 1917 verliert die Familie ihre Besitztümer, beginnt eine Zeit der Unsicherheit mit Flucht nach Georgien, Rückkehr nach Baku und schließlich – mit 19 Jahren und unglücklich mit einem 20 Jahre älteren Mann verheiratet, den sie nicht liebt – die Ausreise über Konstantinopel nach Paris, wo Banine endlich die ersehnte Freiheit leben konnte und bis zu ihrem Tod bleiben sollte.
Hier sind wir!, sagt dieser Sammelband, der über 20 afro-deutsche Personen bzw. Black Heroes aus heutigen, sehr unterschiedlichen Lebens- und Arbeitsbereichen vorstellt. Schaut uns an, wie vielseitig und erfolgreich wir leben – trotz aller Diskriminierungen! Vorgestellt werden u.a. die Bestsellerautorin Melanie Raabe, die Choreographin Bella Garcia, der SPD Bundestagsabgeordnete Dr. Karamba Diaby. Damit ist der Titel mit Sicherheit ein Statement, das gerade junge Schwarze hierzulande empowern kann, einen ganz eigenen Weg zu finden. Den anschaulich verfassten Biografien aus der Feder des Autor:innen-Duos wird jeweils ein Porträt beigestellt. Die charakterstarken Bilder von Ayse Klinge lassen hoffen, bald noch mehr von ihren Arbeiten kennenlernen zu dürfen! (Jana Kühn)
In Paris in der Rue de Monceau steht das Musee Camondo, ein Palais mit ausgesuchten Möbeln und Kunstschätzen aus dem französischen 18. Jahrhundert. Es war das Lebensprojekt des eingewanderten jüdischen Bankiers und Kunstsammlers Moïse de Camondo, sein Werk der Assimilation an ein neues Zuhause. 1936 vererbte er es dem französischen Staat zum Gedenken an seinen im 1. Weltkrieg getöteten Sohn. Während das Palais samt Inventar die NS-Vernichtungspolitik unbeschadet überstand, wurde die Familie ermordet.
Scott – trotz stark autobiographischer Züge nicht mit dem Autor zu verwechseln – wächst in West Virginia auf, in einer Familie von Berg- und Fabrikarbeitern, Kriminellen und skurrilen Freaks, bei seiner starrköpfigen Großmutter Ruby und seinem Onkel Nathan. Ruby, die 13 Kinder zur Welt gebracht hat, und Onkel Nathan, der spastisch gelähmt ist, sich so sehr eine Frau wünscht und voll Güte, Humor und Sehnsucht steckt. Krankheit und Tod gehören hier zum Leben wie Freude und Liebe. Es ist eine Welt der strukturellen Armut, die Welt von Pizza Hut und Ein-Euro-Shops, Brathuhn am Sonntag, Grubenunglücken und Förderklassen, von der McClanahan in chronologisch ungeordneten Fragmenten erzählt, und er tut dies mit so viel Zuneigung, ja Zärtlichkeit für seine Figuren, dass die Beschreibung des Grotesken, der Selbstmörder, Zwangsneurotiker und Gescheiterten, nie herablassend wirkt, nie zur Klamotte wird. Ein grandios absurdes Theater im Ticken der Zeit, voller Komik – bis einem immer wieder das Lachen im Hals stecken bleibt.