André Kubiczek: Nostalgia

Rowohlt Berlin 2024, 399 S., € 25,-

Zusammenhänge logisch herzuleiten und für Fassbares und Unerklärliches Wörter zu finden. Damit wächst André als Kind einer DDR-Intellektuellenfamilie in Potsdam auf, bei der die Stasi durch den seltenen Telefonanschluss quasi mit am Küchentisch sitzt. Beim Vater stimmt die Herkunft, aber bei seiner Mutter passt nichts. Obwohl Sozialistin und gewordene DDR-Bürgerin sprengt sie als stilbewusste Laotin aus der Oberschicht jeden Rahmen. Schon als Kind registriert André seismographisch, wo und wie sie aneckt und was seine Eltern sich als Überlebensstrategien einfallen lassen.  Auch er verlässt meist mit tiefgezogener Kapuze das Haus. Ein Leben als Drahtseilakt, dem mit er mit List und Abnabelung zu begegnen versucht. Wie in einer dokumentarischen Zeitmaschine nimmt der Autor uns mit in seine eigene Kindheit und Jugend. Es bleibt aber nicht bei einem atmosphärisch genauen Erinnerungsroman. Mit einem Twist rückt Kubiczek die Perspektive seiner schwerkranken Mutter ins Zentrum, was ihr Lebensdilemma eindrücklich fühlbar macht. Da ist ganz viel Zartheit im Spiel. (Stefanie Hetze) Leseprobe

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James Baldwin: Kein Name bleibt ihm weit und breit

Zum 100. Geburtstag von James Baldwin, übersetzt von Miriam Mandelkow, mit einem Vorwort von Ijoma Mangold, dtv, 272 Seiten, 22 Euro.

Vor über 50 Jahren wurden James Baldwins Erinnerungen „No Name in the Street“ erstmals veröffentlicht, ein schneller, bruchstückhafter aber tiefgründiger, mal scharfer, mal zarter Ritt durch ein Leben als schwuler, schwarzer, amerikanischer Intellektueller. Jetzt wurden die Erinnerungen in einer neuen, diskriminierungssensiblen Übersetzung von Miriam Mandelkow neu herausgebracht. Die Erinnerungen beginnen in Harlem, New York, ganz kurz nur erzählt James Baldwin von seiner Familie, der Mutter, dem Stiefvater, mit dem es bekanntlich schwierig war, und seinen acht jüngeren Geschwistern. Auf diesen wenigen ersten Seiten offenbart sich der Blick, mit dem auf alle weiteren Ereignisse geguckt wird: ehrlich, radikal und schonungslos aber bisweilen liebevoll und fast zärtlich. James Baldwin reflektiert Machtverhältnisse und Rassismus, wenn er über Stationen in Paris, London, Hamburg, schreibt, von Begegnungen mit Martin Luther King, Malcom X und anderen Aktiven in der Bürgerrechtsbewegung erzählt (- ach, Pioniere -) oder über ein unbehagliches, weil die Entfremdung so groß geworden ist, Wiedersehen mit einem Freund aus Kindertagen nachdenkt. Er räumt auf mit grundlegend falschen (weißen) Annahmen, erzählt von einer – wie er im weiteren Verlauf ausführt – ihn tief verstörenden Reise in die Südstaaten, von einem dort noch mal ganz anders erlebten, weil segregierenden Rassismus, von der physisch spürbaren Angst beim Gang über ein Rollfeld. „Kein Name bleibt ihm weit und breit“ ist keine leichte Lektüre, aber eine sehr notwendige. (Katharina Bischoff)

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Sidik Fofana: Dünne Wände

Aus dem Amerikanischen Englisch übersetzt von Jens Friebe, Claassen, 256 Seiten, 23 Euro

Banneker Terrace ist eine Siedlung in Harlem, New York City. Die meisten Menschen hier kämpfen hart um ihren Lebensunterhalt, jeder Dollar ist schwer verdient und um jeden einzelnen geht es Monat für Monat beim Bestreiten der Miete. So manche*r Bewohner*in ist mit eben dieser schon im Rückstand – so wie Mimi, die eigentlich ganz gut um die Runden kommen könnte, aber ab und an wünscht sie sich eben ein kleines Stück Luxus. Der arbeitslose Swan, Vater ihres Kindes und hin und her gerissen zwischen der kleinkriminellen Lässigkeit seiner Kumpels und dem Wunsch, Verantwortung für sein Leben zu übernehmen, wohnt ebenfalls hier – er wiederum bei seiner Mutter. Ms Dallas schuftet in gleich zwei Jobs, als Schulbegleiterin und als Security-Assistenz am Flughafen, um das notwendige Einkommen für sich und Swan zu erwirtschaften. In acht dieser Art gekonnt miteinander verwobenen Episoden zeichnet Fofana ein detailreiches Bild der Menschen in der Siedlung. Für eine jede Person findet er einen ganz eigenen, kraftvollen wie sensiblen Erzählton, dem man quasi anhört, dass der Autor selbst in Brooklyn als Lehrer arbeitet und vermutlich viele persönliche Erlebnisse in seinen Erzählreigen hat einfließen lassen. Dabei kommt Fofanas Roman-Debüt bei aller thematischen Brisanz mit großer sprachlicher Leichtigkeit daher – Chapeau Jens Friebe! (Jana Kühn)

Fred Vargas: Jenseits des Grabes

Aus dem Französischen übersetzt von Claudia Marquardt, Limes, 526 Seiten, 26 Euro.

Lange hat man nichts mehr gehört von Inspektor Adamsberg und seiner Brigade criminelle des 13. Arrondissements in Paris. Doch das Wiedersehen mit der Belegschaft im Kommissariat ist nur von kurzer Dauer, denn eine Zeitungsmeldung erregt Adamsbergs Aufmerksamkeit und die Reise beginnt, diesmal in die Bretagne, in einen kleinen Ort namens Louviec, der irgendwo in der Nähe des realen Schlosses Combourg angesiedelt ist. Ein holzbeiniges Gespenst soll dort leben, dessen nächtliche Schritte immer dann durch die Gassen hallen, wenn ein Unheil kurz bevorsteht. Und genauso so kommt es: das Holzbein klappert, das Morden beginnt. Aber es wäre nicht Vargas, wenn hier nicht alles Mystische am Ende doch sehr fest auf bretonischem Boden stünde. Der Fall ist wie immer zunächst vertrackt. Adamsberg beschreibt das so: „Letzte Worte ohne erkennbaren Sinn, Schatten auf die man nicht treten darf… das Fehlen jeglichen Motivs.“ Bei Johan, dem Dorfschenk, speisen die Pariser Ermittler üppig mit den bretonischen Kollegen und versuchen die Dorfgemeinschaft zu entschlüsseln – auf die vertraute Art: Mercadet muss viel schlafen, die Retancourt zeigt einmal mehr, dass man sehr weise sein muss, um stark zu sein und am Ende sind es wieder einmal die Flöhe die den rechten Weg weisen.  Wie immer bei der Vargas ist diese kluge Milieustudie einer Dorfgemeinschaft, auch ein so gut gebauter Krimi, dass man ihn nur weglegt, um irgendwie, möglichst schnell in die Bretagne zu kommen. (Kerstin Follenius)

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Nadine Olonetzky: Wo geht das Licht hin, wenn der Tag vergangen ist.

S.Fischer 2024, 448 S., € 25,-

Nadine Olonetzky ist fünfzehn Jahre alt, als ihr Vater den Zeitpunkt für gekommen hält, ihr von der Shoa zu erzählen, seiner Shoa: Auf einer Parkbank im Botanischen Garten in Zürich bricht er für einen Moment sein lebenslanges Schweigen und berichtet von der Verfolgung und Ermordung ihres Großvaters, ihrer Tante, seiner Internierung, seiner Flucht.
Für die Dauer eines Gartenjahres, das diese Geschichte rhythmisiert und im Wortsinne erdet, begleiten wir die Autorin auf ihrer Spurensuche durch die zahllosen Fotoalben und Tagebücher, die der Vater im Kampf gegen die eigene Geschichtslosigkeit manisch füllt, durch Akten aus Archiven in aller Welt. Erzählerisch und fast poetisch spürt Olonetzky einer Sprache nach, die ausbleibt, weil sie angesichts des Nicht-Sagbaren versagt, aber auch jener Sprache, die sich erneut schuldig macht, indem sie das Verbrechen im Nachhinein verwaltet. Jahrzehnte kämpfte der Vater im Geheimen um Wiedergutmachung. Die Ehe der Eltern überstand das nicht. Nadine Olonetzky braucht viele Jahre und 448 Seiten bis sie das lebenslange Schweigen des Vaters mit den Sätzen im Botanischen Garten in Einklang bringen kann.
Ein wichtiges, bestürzendes, trauriges aber helles und grundschönes Buch über die dunkle Zeit der Shoa, die mit dem Ende des Krieges noch lange nicht zu Ende war. (Kerstin Follenius) Leseprobe

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Charlotte Müller: Claras Weg

Kunstanstifter 2024, 56 S., € 24, ab 5

Claras Schulweg führt sie auf dem Fahrrad durch eine Großstadt – schnell gibt sich Berlin zu erkennen, doch was sie sieht und erlebt lässt sich mühelos auf andere Städte übertragen. Manchmal gibt es viel Verkehr, es finden sich kuriose Straßennamen, kleine Grünflächen sind Oasen der Erholung, man begegnet sogar erstaunlich vielen Wildtieren. Gemeinsam mit Clara und ihrer Mama erkunden wir Berlin im Wandel der Jahreszeiten – denn Clara radelt Sommer wie Winters und manchmal so schnell wie ein Blitz. Charlotte Müllers Auqarellbilder sind detailreich wie stimmungsvoll und machen Lust, die Stadt auf zwei Rädern zu erkunden. Ein wunderschönes Wimmelbuch, ein Berlin-Buch, eine Großstadtgeschichte für große & kleine Fahrradfans! (Jana Kühn) Blick ins Buch

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Annett Gröschner (u.a.): Drei ostdeutsche Frauen betrinken sich …

Hanser 2024, 320 S., € 22,-

und gründen den idealen Staat. Was Annett Gröschner und ihre Co-Autorinnen Peggy Mädler und Wenke Seemann dabei vor allem tun, ist ergründen, nämlich anhand individueller Erinnerungen sowie historischer Quellen und Statistiken die DDR, die Wendezeit und das Zusammenwachsen der beiden deutschen Staaten. Das Mischungsverhältnis stimmt wie bei einer guten Bowle, nebst Rezept plus  Randnotiz, dass es die Bowle-Zutaten wie Mandarinen aus der Dose zu DDR-Zeiten nur im Delikat oder Intershop gab. Über sieben Nächte bzw. Kapitel mäandern die drei Autorinnen von Kollektiv- über Körperfragen zum utopisch schönen Verfassungsentwurf einer Nachwende-DDR bis hin zum Nachdenken über Christa T. Das ist erhellend wie unterhaltsam, beispielsweise wenn Philosophie und Gummitwist aufeinandertreffen und parallel die Regeln von Dialektik und Kinderspiel erläutert werden. Die Erzählform des Gesprächs erweist sich als kleiner Geniestreich, denn zwar sind sich die Autorinnen weitestgehend einig, bringen aber doch immer wieder andere Blickwinkel auf Geschehnisse ins Spiel, buchstäblich über historisches Bildmaterial sowie Wenke Seemanns Fotografien, die den Gesprächsverlauf anschaulich rahmen.  Eine feministische, smarte und dringend empfohlene Einordnung deutsch-deutscher Verhältnisse. (Jana Kühn) Leseprobe

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Alana S. Portero: Die schlechte Gewohnheit

Aus dem Spanischen von Christiane Quandt. Claassen 2024, 238 S., € 24,-

Sich dauernd verstellen zu müssen, zu einem Doppelleben gezwungen zu sein, damit wächst die Ich-Erzählerin als trans Mädchen in einem völlig heruntergekommenen Arbeiterviertel im Madrid der Achtziger Jahre auf. Ihre Eltern wollen aus ihr einen richtigen Jungen machen, während sie sich schon ganz früh sicher ist, ein Mädchen zu sein. Nur in heimlichen Badezimmermomenten kann sie sie selbst sein, die Familie und das harte Umfeld verlangen von ihr den ganzen Kerl. Abgeschreckt und fasziniert beobachtet sie, wie eine alte trans Frau in ihrer Nachbarschaft geächtet wird und sieht ihr eigenes queeres Schicksal voller Leid und Gefahren vorher.  Wie sie als Jugendliche versucht, sich da herauszuziehen, immer riskant am Limit lebt zwischen exzessiv-gefährlichen Nächten in der Innenstadt und dem gnadenlos rau-patriarchalen Alltag in der Arbeitervorstadt, ihr meist nur die Zuflucht Fantasie bleibt, schildert Alana Portero unglaublich dicht und lebendig. Ihre Suche nach Glück und Selbstverwirklichung trifft hauptsächlich auf Gewalt und Diskriminierung, wären da nicht andere trans Madrilenerinnen, die sie liebevoll-kritisch porträtiert. Ein Roman, der schillert, vibriert, fasziniert.  (Stefanie Hetze) Leseprobe

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Cynthia Cliff: Wir fahren weg!

Prestel 2024, 14 S.,  € 14,-,  ab 2

Angefangen beim Koffer und Taschen packen zeigt dieses großformatige Pappbilderbuch mit vielfältigem Personal, wie sich verschiedene Menschen auf den Weg in die Ferien machen: ein Paar ohne Kinder, eine Familie mit Zwillingen, eine alleinerziehende Mutter, queere Familien, eine Person mit Assistenzhund, eine mit Rollstuhl. Auf den Folgeseiten wird die Abfahrt mit Zug, Rad oder Auto gezeigt, anschließend die Ankunft am Ferienort, wo gezeltet, eine Ferienwohnung oder ein Hotel bezogen wird. Ebenso farbenfroh und wimmelig werden die Unternehmungen der Reisenden bei schlechtem Wetter und strahlenden Sonnenschein gezeigt, wobei es großen Spaß macht, die Menschen in immer neuen Situationen wieder zu entdecken.

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Ben Lerwill, Marina Ruiz (Illustr.): Fußball. Alle spielen mit

Übersetzt von Jens Dreisbach, arsEdition 2024, 32 Seiten, 16 Euro, ab 3

Fußball wird auf der ganzen Welt gespielt, das Schöne dabei ist, es braucht dafür nur zwei Dinge: einen Ball und einen Platz zum Spielen. Und dieses simpel wie farbenfroh erzählt und illustrierte Buch bringt nahe, dass es auch ein inklusives Spiel sein kann. Entsprechend werden viele Menschen vielerlei Geschlechter, Alters, mit und ohne Behinderung gezeigt, die fröhlich gemeinsam kicken.

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