Mit einem Nachwort von Esther Kinsky. Aus dem Italienischen von Anna Leube, Hanser 2024, 976 Seiten, 38 Euro
Was für ein herausforderndes, jeglichen Rahmen sprengendes und dabei unaufgeregtes, stilles Buch! Lebenserfahren, im hohen Alter, schaut die Autorin, immer eine Außenseiterin, auf ihre Kindheit im ausklingenden 19. Jahrhundert in einer kleinen Stadt auf einem Bergspitz in den italienischen Marken zurück. Es ist eine Kindheit ohne familiäre Geborgenheit, voller Scham und Ausgrenzung. Unehelich geboren, wurde sie von ihrer adeligen Mutter zu entfernten Verwandten, einem alten Priester und dessen Schwester gegeben. Überfordert zog sich die Tante, die ein unergründliches Geheimnis umgab, in ihre Lektüren zurück, während der Onkel, ein vielfältig begabter Menschenfreund, ihr die Sphäre der Dinge, des Wissens und der Worte eröffnete. Nur durch Beobachten erschließt sich das sensible Mädchen ihre Umgebung, was Dolores Prato mit ihrem großen Roman nachvollzieht. Detailliert und in einer unendlich reichen Sprache, die Anna Leube phantastisch im Deutschen abbildet, verleibt sich Prato diese vergangene Welt voller verschwundener Rituale, Phänomene und Tätigkeiten ein und dreht ihre Position als Ausgestoßene um. Wer sich auf dieses im besten Sinne altmodische Leseabenteuer einlässt, kann nur staunen und sich berühren lassen. (Stefanie Hetze)