Dolores Prato: Unten auf der Piazza

Mit einem Nachwort von Esther Kinsky. Aus dem Italienischen von Anna Leube, Hanser 2024, 976 Seiten, 38 Euro

Was für ein herausforderndes, jeglichen Rahmen sprengendes und dabei unaufgeregtes, stilles Buch! Lebenserfahren, im hohen Alter, schaut die Autorin, immer eine Außenseiterin, auf ihre Kindheit im ausklingenden 19. Jahrhundert in einer kleinen Stadt auf einem Bergspitz in den italienischen Marken zurück. Es ist eine Kindheit ohne familiäre Geborgenheit, voller Scham und Ausgrenzung. Unehelich geboren, wurde sie von ihrer adeligen Mutter zu entfernten Verwandten, einem alten Priester und dessen Schwester gegeben. Überfordert zog sich die Tante, die ein unergründliches Geheimnis umgab, in ihre Lektüren zurück, während der Onkel, ein vielfältig begabter Menschenfreund, ihr die Sphäre der Dinge, des Wissens und der Worte eröffnete. Nur durch Beobachten erschließt sich das sensible Mädchen ihre Umgebung, was Dolores Prato mit ihrem großen Roman nachvollzieht. Detailliert und in einer unendlich reichen Sprache, die Anna Leube phantastisch im Deutschen abbildet, verleibt sich Prato diese vergangene Welt voller verschwundener Rituale, Phänomene und Tätigkeiten ein und dreht ihre Position als Ausgestoßene um. Wer sich auf dieses im besten Sinne altmodische Leseabenteuer einlässt, kann nur staunen und sich berühren lassen. (Stefanie Hetze)

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Phillip B. Williams: Ours. Die Stadt

S. Fischer, 2024, 704 Seiten, 28 Euro

1834. St. Louis, Missouri. Eine Schwarze Frau und ihr Schwarzer Begleiter betreten eine Bankfiliale und kaufen, gegen anfänglichen Widerstand und obwohl es aus vielerlei Gründen unmöglich scheint – Missouri ist zu dieser Zeit noch ein sogenannter Sklavenstaat – ein Stück Land. Das ist der Beginn von Ours, bald nur bewohnt von entflohenen oder befreiten Sklav*innen, irgendwann unauffindbar für Weiße. Die Bewohner*innen ermächtigen sich in der neuen Freiheit, sie geben sich selber Namen, suchen sich Berufe und füllen die Zeit nach ihren Wünschen. Saint – so der Name der Frau aus der Bank – schützt und regiert die Stadt mit den ihr eigenen magischen Fähigkeiten. Ihr Zauber kann Geister verbannen, Beziehungen fördern oder verhindern, nicht immer hat sie ihre eigene Kraft im Griff. Im unbedingten Wunsch den Schmerz der Vergangenheit, die Peitschenhiebe, den Geruch nach Blut, die Erinnerungen an Baumwollfelder zu verbannen, verrutscht die Grenze zwischen Verantwortung und Macht(missbrauch) immer wieder. Der Debütroman Ours – Die Stadt des amerikanischens Lyrikers Philipp B. Williams beschreibt in sehr poetischer, dichter Sprache eine kraftvolle, wenngleich fragile und vulnerable Utopie. Und das ist unbedingt lesenswert! (Katharina Bischoff)

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Mithu Sanyal: Antichristie

Hanser 2024, 544 Seiten, 25 Euro

Vielen war klar, dass die Queen erst sterben muss, bevor das britische Empire kritisch die eigene Kolonialgeschichte in den Blick bekommt. Die Queen starb, nichts geschah. Und dann kam Mithu Sanyal. Wer die vielschichtige, kluge und provokante Stimme Sanyals in Identiti mochte, wird für Antichristi unbezahlten Urlaub nehmen. Auf 544 Seiten verwebt die Autorin deutsch-indisch-britische Kolonialgeschichte mit ganz grundlegenden Fragen um Identität, Trauer und Verlust. Dramaturgisch äußerst geschickt werden hier nationale Themen mit persönlichen Schicksalen verwoben. Die Idee, mit der diese rasante Geschichte ihren Anfang nimmt, nämlich das Werk Agatha Christies kritisch zu überarbeiten und Hercule Poirot diverser zu gestalten, zeigt, mit welch übergroßen Aufgaben ein postkoloniales England konfrontiert ist. Man ahnt es schon: they were not amused! Ein virtuoser Ritt durch die Zeiten und Diskurse in der kein Mythos von Großbritanniens Establishment auf dem anderen bleibt. Wahnsinnig lustig, herrlich rebellisch und mit einer so mitreißenden Lust am erzählen, dass man direkt noch mal von vorne anfangen will. (kf)

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Maria Stepanova: Der Absprung

Aus dem Russischen von Olga Radetzkaja, Suhrkamp 2024, 141 Seiten, 23 Euro

Hundertvierzig schmale Seiten, die es in sich haben, die das erzwungene Lebensgefühl wiedergeben,  sich auf absolut gar nichts mehr verlassen zu können.  Selbst eine harmlose Lesereise von A nach B entwickelt sich für die Protagonistin, die aus ihrem Land, das Krieg gegen ein Nachbarland führt, flüchten musste, zu einer Grenzerfahrung. Unterwegs verpasst sie ihren Zug, funktioniert ihr Telefon nicht. Sie strandet in einer Grenzstadt, ohne dass irgendjemand davon weiß. Was ihr erst ein Atemholen verschafft, sie einfach herumstreift und sich ein Hotelzimmer nimmt. Doch die Gedanken, die Erinnerungen, die Wut auf das „Untier“, die Scham lassen sie nicht los, selbst als sie einem Mann durch leere Vorstadtstraßen regelrecht nachstellt. Das, was zu ihrem Exil führte, ist zu übermächtig, drängt immer wieder an die Oberfläche, selbst als sie als zersägte Jungfrau in einem heruntergekommenem Wanderzirkus landet. Doch alles andere als ohnmächtig setzt Maria Stepanova ihre Sprache, ihre Bilder, ihre Gefühle, ihre Phantasie so klug, stark und poetisch ein, dass es tief berührt und gleichzeitig überzeugend demonstriert, dass sie sich ihre Sprache nicht wegnehmen lässt. Und Olga Radetzkaja hat den Roman in ein verdichtetes knappes Deutsch übertragen, das trotzdem die vielen Anspielungen und doppelten Böden aufschimmern lässt. (Stefanie Hetze)

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Iida Turpeinen: Das Wesen des Lebens


Aus dem Finnischen von Maximilian Murmann, S. Fischer Verlag, 2024, 320 Seiten, 24 Euro

„Einst brauchte die Seekuh keine Angst vor Raubtieren zu haben, doch egal wo sich der Mensch ausbreitet, verschwinden alsbald die großen Arten.“ Davon erzählt Iida Turpeinen in ihrem Debütroman – mitreißend, berührend und klug geht es in vier Zeitkapiteln, die sich über drei Jahrhunderte erstrecken, um Wissenschaftsgeschichte.
1741 entdeckt der Naturforscher Georg Wilhelm Steller die später nach ihm benannte Stellersche Seekuh. Er begleitet die Große Nordische Expedition von Vitus Behring, sie erleiden Schiffbruch und die Besatzung muss auf einer unbewohnten Insel überwintern. Hier sieht und beschreibt der Forscher das friedliebende, gesellige, spielfreudige, riesige und unschuldige Tier ein erstes Mal. Dreißig Jahre später ist die Stellersche Seekuh ausgestorben, ausgerottet von Pelzjägern.
In den weiteren Kapiteln wird von Constance Furuhjelm in Alaska erzählt, die – eher zufällig und against all odds – das Skelett einer Stellerschen Seekuh katalogisiert, von der fast symbiotischen Beziehung zwischen dem Zoologen Alexander von Nordmann und der Zeichnerin Hilda Olsen, die ihm die alternden Augen und Hände ersetzt und das erste Bild einer Stellerschen Seekuh anfertigt, und von vier Brüdern, die ihre Liebe zur Natur verbindet. Einer von ihnen wird später mit der Restaurierung eines Stellerschen Sehkuh Skeletts beauftragt.
Immer wieder geht es um das Verhältnis zwischen Mensch und Natur, Forscherdrang und Faszination, Ausbeutung und Ehrfurcht. Ein spannendes, wenngleich melancholisches Buch. Nach der Lektüre würde man so gerne eine Stellersche Seekuh mit ihrer Familie im Meer spielen sehen … (Katharina Bischoff)

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Francesca Melandri: Kalte Füße


Übersetzt von Esther Hansen, Verlag Klaus Wagenbach 2024, 279 Seiten, 24 Euro

Einen knapp 300 Seiten langen Brief hat Francesca Melandri an ihren schon lange verstorbenen Vater geschrieben und diesem Brief den Titel Kalte Füße gegeben. Darin setzt sie sich mit ihrer eigenen Familiengeschichte und Familienerzählung auseinander und verknüpft diese mit Zeitgeschichte und gesellschaftlicher Erzählung. Vornehmlich geht es um Krieg: „Ich muss herausfinden, was Krieg ist, Papa. Deshalb brauche ich deine Hilfe“.
Der Vater hat im 2. Weltkrieg gekämpft, auf der „falschen Seite“, auf Seiten der italienischen Faschisten und war Teil der Ritirate di Russia, des verlustreichen Rückzugs aus Russland, der in Italien als Opfergeschichte erzählt wird. Erst in der Auseinandersetzung mit dem völkerrechtswidrigen Angriffskrieg Russlands auf die Ukraine wird Melandri klar, dass „dein Russlandkrieg, ja größtenteils ein Ukrainekrieg war“. Diese Erkenntnis nimmt sie zum Anlass, genauer hinzuschauen. Schonungslos und ehrlich analysiert die Autorin sowohl den einen, familiengeschichtlichen, als auch den anderen, den gesellschaftspolitischen, Erzählstrang. Sie schreibt über russischen Kolonialismus und die Ignoranz des friedensverwöhnten Westeuropas, über unsere Mitschuld am Versuch der Auslöschung z.B. der ukrainischen Identität durch genau diese Ignoranz. Sie schreibt über das Privileg, sich als Pazifist*in zu sehen, und über den großen Wert von Freiheit. Sie erspart dem Vater nichts und führt doch ein liebevolles Zwiegespräch.
Mit großer, poetischer Notwendigkeit geschrieben. Mindblowing. (Katharina Bischoff)

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Igiaba Scego: Kassandra in Mogadischu


Übersetzt von Verena von Koskull, S. Fischer 2024, 400 Seiten, 26 Euro

Kassandra in Mogadischu ist Igiaba Scegos erster, ins Deutsche übertragener Roman und zeigt uns nach dem kleinen Erzählband Dismatria die ganze Breite dieser virtuosen Erzählerin. Die politische und sehr persönliche Geographie einer Familie wagt große Bögen und webt Familien-, Kolonial- und Zeitgeschichte ineinander: Der Staatsstreich Siad Barres, die Flucht der Eltern und das Zerreißen der Familie, der Ausbruch des somalischen Bürgerkrieges, eine afro-italienische Kindheit und Jugend in einer Gesellschaft, die ihr koloniales Erbe ignoriert – eine Kassandra weit vor den Toren Mogadischus zur Passivität verdammt? Mitnichten. Diese Kassandra tritt dem Jirro, der diasporischen Krankheit von Krieg und Entwurzelung, entgegen und zieht quer durch die Sprachen, schafft Geschichte indem sie – gegen alle Widerstände – entschieden ihre Worte sucht und erzählt. Hier wird ganz deutlich: Postkoloniale Sprache und postkoloniales Sprechen sind grundverschiedene Dinge, ineinander verdreht und verwirkt. Letzteres werde ich, als weiße Deutsche in Deutschland, in seiner Komplexität nie emotional dechiffrieren, nie fühlen können, für ersteres bietet mir Scegos Kassandra einen Raum an, in dem sich mein Zuhören, mein Einfühlen schärft, Ambivalenzen spürbar werden. Kraftvoll, liebevoll, politisch unsagbar wichtig – unbedingt lesen! (Kerstin Follenius)

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Maike Albath: Bitteres Blau

Berenberg 2024, 352 Seiten, 26 Euro

Über kaum eine italienische Stadt kursieren derartig hartnäckige Vorurteile wie über Neapel. Selbst Roberto Savianos bahnbrechende Offenlegung der Machenschaften der Camorra reduzierte Neapel in der Wahrnehmung einer breiten Öffentlichkeit auf einen Ort gnadenloser Gewalt. Später rückte Elena Ferrantes Freundinnen-Megabestseller die Stadt in den Aufmerksamkeitsfokus. Doch es gab seit jeher viel mehr. Die unterschiedlichsten Literat:innen schrieben mit Leidenschaft über ihre Stadt, Filme entstanden, sozialpolitische Initiativen engagierten sich. Diesem Reichtum ist Meike Albath nachgegangen: Auf Spaziergängen und Fahrten, mit Gesprächen, Interviews und ausgiebigen Lektüren ergründete sie die Reize und Widersprüche dieser faszinierenden Metropole. Tief taucht sie ein in ihre paradoxe/n Geschichte/n und Persönlichkeiten. Großartig, wie die Autorin dabei ihr profundes Wissen mit Beobachtungen aus dem städtischen Alltag kombiniert und uns einlädt an diesen besonderen Ort! (Stefanie Hetze)

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Zora Del Buono: Seinetwegen

C.H.Beck, 2024, 201 Seiten, 23 Euro.

Zora del Buono ist acht Monate alt, als ihr Vater bei einem unverschuldeten Autounfall stirbt. Sie kennt die groben Umstände des Unfalls: ein missglücktes Überholmanöver, ein roter Chevrolet, die Initialien des Unfallverursachers. 60 Jahre später plötzlich der Wunsch, diesen E.T., den Töter des Vaters, zu finden. Seinetwegen ist das Protokoll einer Recherche. Durch Zeitungsartikel, Gerichtsurteile, Gespräche mit Zeitzeug*innen nähert sich die Autorin dem damaligen Unfallhergang und damit auch dem Töter an, der plötzlich einen richtigen Namen hat, ein Leben und eine Geschichte. Gleichzeitig reflektiert Zora del Buono ein von Verlust geprägtes Leben (nicht das Fehlen des Vaters ist schmerzhaft, die tiefe Trauer der Mutter ist es), lässt uns teilhaben an Beobachtungen, Erinnerungen, Begegnungen, stellt Listen auf (von Menschen, die bei Autounfällen starben, von bekannten Eigenschaften des Vaters, von Fakten über den Töter, von den eigenen Deformationen) und hadert mit den ungestellten Fragen an die Mutter – in einer Sprache, die nicht nüchtern ist, aber sehr klar, kein bisschen sentimental, aber berührend. Seinetwegen ist die unbedingt lesenswerte Autofiktion einer Menschenfreundin. Ehrlich – wie es scheint, zärtlich, manchmal schonungslos, oft humorvoll, immer klug. (Katharina Bischoff)

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Ruth Maria Thomas: Die schönste Version

S.Fischer 2024, 272 Seiten, 24 Euro.

Jella und Yannick. Leidenschaftlich. Voneinander überrascht. Verliebt. Am Anfang ihres Lebens. Ein Paar wie es so viele gibt. Bis ein Beziehungsstreit eskaliert, es fallen heftige Worte auf beiden Seiten und mit einem Mal ist alles anders als zuvor. Seine Hände schließen sich um ihren Hals und sie rettet sich in letzter Minute. Was der jungen Protagonistin Jella passiert ist etwas Normales. Häusliche Gewalt gegen Frauen ist kein Phänomen vom Rand sondern sie geschieht. Ruth Maria Thomas nimmt sich dieses Themas an und wagt das Spagat, eine solch wichtige Geschichte zu erzählen, ohne sie zu reduzieren auf Fragen der Täter- oder Opferschaft. In die Wohnung des überforderten Vaters zurückgekehrt, folgen wir der Protagonistin auf ihrer Suche nach all den kleinen Kompromissen und übergangenen Zweifeln, die sie an diese Stelle führten. Welchen Preis hat sie gezahlt, um den begehrtesten Jungen im Dorf zu daten? Wie leicht war es, die beste Jugendfreundin in der Lausitz zurückzulassen, weil deren Lipgloss und T-Shirts durch die Augen der neuen Studienfreunde sonderbar aussahen? Eine Coming of Age Geschichte der späten Nullerjahre. Kompromisslos erzählt. Nicht aus der Hand zu legen. (Kerstin Follenius)

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