Kiepenheuer & Witsch 2025, 320 Seiten, 24 Euro
Wie ein Weckruf aus der Vergangenheit veranlasst ein zufälliges Ereignis Bettina Flitner, sich mit dem 39 lange Jahre verdrängten Tod ihrer Mutter auseinanderzusetzen. Er war besonders tragisch, ihre Mutter hatte sich erhängt. Niemand konnte damit umgehen, der Kommentar des Schwiegervaters: „Sie hat nie etwas getaugt.“ Aus dieser Distanz, aber mit dem Blick einer erfahrenen Fotografin, die keine Skrupel hat, genau hinzuschauen, begibt sich die Autorin auf Spurensuche nach ihrer Mutter. Mithilfe von Tagebüchern, Gesprächen und einer Reise nach Polen, dem niederschlesischen Herkunftsort ihrer Mutter, entdeckt sie eine Frau, die als verwöhnte Nachzüglerin einer privilegierten, aber traumatisierten Familie nie so richtig in einem eigenen selbstbestimmten Leben ankam. Zahlreiche Suizide, die unterschiedlich befolgte NS-Ideologie, die Flucht, die das materiell sorglose Leben ins Wanken brachte, belasteten die Familie. Mit diesem instabilen Gepäck im Hintergrund rutschte die hübsche junge Frau früh in Ehe und Mutterschaft. Wie in einem Brennglas, sehr präzise und lakonisch, aber gleichzeitig aus großer Nähe und mit viel Sympathie erzählt Bettina Flitner von diesem Frauenleben im Nachkriegsdeutschland. (Stefanie Hetze)

Das neue Meisterwerk der polnischen Illustrator*innen und Autor*innen Aleksandra Mizielińska und Daniel Mizieliński ist Geschichte, Abenteuer und Spiel zugleich.
Sein Debütroman „Die Botanik des Wahnsinns“ zählt schon jetzt zu unseren Lieblingen der literarischen Saison und hat alles, was es braucht, um eine Danteperle zu werden. Außerdem wurde der Roman für den aspekte-Literaturpreis 2025 nominiert.
Gemeinsam mit dem Salon Obermaier laden wir zur literarischen Matinee ein.
Leon Engler startet sein autofiktionales Familienherbarium mit einem Tusch: Die Firma, die die Wertsachen der Mutter vor ihrer Zwangsräumung aus der Münchner Zwei-Raumwohnung einlagern soll, irrt sich im Zimmer und nimmt die sieben Kartons mit, die für den Müll bestimmt waren. Alles Bewahrenswerte geht im Heizkraftwerk Nord in Flammen auf. Hier steckt bereits alles drin, was dieser Roman mit feiner Raffinesse und einem untrüglichen Gespür für die Absurdität von Selbstbetrachtungen verfolgt: Es sind irgendwie immer die falschen Kisten, die weitergegeben werden. Mit diesem Gepäck startet der Ich-Erzähler in seine Geschichte, verliebt sich, freundet sich mit seinem älteren Nachbarn an, streift durch Städte und Begegnungen und öffnet von Zeit zu Zeit einen der schwergewichtigen Kartons: Die Mutter alkoholkrank und, wie der Vater, depressiv, die Großmutter bipolar und suizidal, der Großvater schizophren. Sein Erbe scheint klar, doch fällt er seinen Prädispositionen in den Rücken, wechselt die Seiten und betritt die Psychiatrie mit einem Arbeitsvertrag. Begleitet von Bachmann und Hustvedt, von Freud, Lacan und Klein und nicht zuletzt dem Botaniker von Linné gelingt Engler ein psycholiterarischer Schulterschluss der superklug und einfühlsam schön Familie als einen absolut lebens- und lesenswerten Selbstversuch erzählt. (Kerstin Follenius)
Eine Fischschuppe im Portemonnaie, keine Handtaschen auf dem Boden, Kreuze im Brot: Aberglaube ist in Polen weit verbreitet. Und so ist es für Wera, der Erzählerin in „Lachen kann, wer Zähne hat“, Herrenfriseurin ohne Salon, keine Frage, dass sie für ihren soeben verstorbenen Mann Jockey Schuhe für den Sarg besorgen muss. Denn „wenn der Sarg kurz aufgemacht wird, guckt jeder erstmal schnell auf die Schuhe, dann träumt man später nicht vom Toten.“ Aber Schuhe kosten Geld und eine Beerdigung kostet Geld und davon hat Wera, wie von allem anderen auch, weniger als ein bisschen. Also muss sie findig werden. Das kann sie und das wird sie.
Hexe Hazel ist eine Figur, die man sofort ins Herz schließt. Ihre Pausbacken leuchten rot wie ihre Zipfelmütze. Sie ist tatkräftig, geduldig, aber auch mal mürrisch. Sie reitet keinen Besen, sondern fliegt auf Eule Otis. Darüber hinaus steckt die Magie ihrer Welt vor allem im Zauber der Natur. Kinder begleiten Hazel in vier Geschichten durch ein Jahr. So erleben sie den Wald in all seinen jahreszeitlichen Veränderungen und lernen Hazels Nachbarschaft aus Tieren, Wichteln und Elfen kennen. Und so vielen ist Hazel eine fürsorgliche Freundin, wie sie im Bilderbuche steht. Phoebe Wahl erzählt in klarer, eingänglicher Sprache vom freundschaftlichen Zusammenleben und lässt ihren Märchenwald dafür in nostalgischen Vintage-Farben strahlen. (Jana Kühn)

Ausgezeichnet mit dem Premio Strega 2025 und dem Premio Strega Giovani 2025.