Hanser 2024, 320 S., € 22,-
… und gründen den idealen Staat. Was Annett Gröschner und ihre Co-Autorinnen Peggy Mädler und Wenke Seemann dabei vor allem tun, ist ergründen, nämlich anhand individueller Erinnerungen sowie historischer Quellen und Statistiken die DDR, die Wendezeit und das Zusammenwachsen der beiden deutschen Staaten. Das Mischungsverhältnis stimmt wie bei einer guten Bowle, nebst Rezept plus Randnotiz, dass es die Bowle-Zutaten wie Mandarinen aus der Dose zu DDR-Zeiten nur im Delikat oder Intershop gab. Über sieben Nächte bzw. Kapitel mäandern die drei Autorinnen von Kollektiv- über Körperfragen zum utopisch schönen Verfassungsentwurf einer Nachwende-DDR bis hin zum Nachdenken über Christa T. Das ist erhellend wie unterhaltsam, beispielsweise wenn Philosophie und Gummitwist aufeinandertreffen und parallel die Regeln von Dialektik und Kinderspiel erläutert werden. Die Erzählform des Gesprächs erweist sich als kleiner Geniestreich, denn zwar sind sich die Autorinnen weitestgehend einig, bringen aber doch immer wieder andere Blickwinkel auf Geschehnisse ins Spiel, buchstäblich über historisches Bildmaterial sowie Wenke Seemanns Fotografien, die den Gesprächsverlauf anschaulich rahmen. Eine feministische, smarte und dringend empfohlene Einordnung deutsch-deutscher Verhältnisse. (Jana Kühn) Leseprobe

Die siebziger Jahre waren in Italien geprägt von der Aktivität der Roten Brigaden einerseits und den Anschlägen neofaschistischer Gruppierungen andererseits (welche noch 1980 in Bologna 85 Menschen das Leben kosteten). Es war das Jahrzehnt, in dem das Recht auf Schwangerschaftsabbruch durchgesetzt wurde und die Zahl der Heroinabhängigen rasant zunahm. Im Jahr 1978 wurde Aldo Moro, Politiker der Christdemokraten, von den Roten Brigaden entführt und ermordet. Gleichzeitig war es das Jahr mit den meisten UFO-Sichtungen – über 2000 wurden gemeldet.
Es geht alles ganz schnell. Nachts werden Silas und sein Vater, die weit abgeschieden auf einer Farm leben, von Pferdegetrappel geweckt. Bewaffnete Männer bedrohen sie und entführen Silas Vater, einen hochspezialisierten Kollodium-Nassplatten-Fotografen und Erfinder. Angeblich nur für eine Woche, aber Silas traut ihnen nicht und will ihnen nach. Sein imaginärer Freund Mittenwool will ihn aufhalten, aber als ein Pony mit einem merkwürdigen Gesicht auftaucht, kennt Silas trotz seiner Ängste vor dem dichten Wald und dem Unbekannten, das ihn erwartet, keinen Halt. Begleitet von seinem imaginären Freund und dem Pony, zu dem er schnell eine enge Verbindung spürt, begibt sich der Junge auf eine spannende aufwühlende Reise. Er, der Halbwaise und besonders sensibel ist, begegnet im Wald einem alten Marshall, einem Sheriff samt Kompagnon, den Gangstern und vielen Gespenstern und Schatten der Vergangenheit. Die Autorin schont dabei weder den Protagonisten noch ihre LeserInnen, es geht um das kriegerische Amerika des 19. Jahrhunderts. Doch Silas Feinfühligkeit und Wachheit samt der magischen Unterstützung durch Mittenwool und Pony tragen ihn. Palacio schenkt uns mit „Pony” eine faszinierende Abenteuergeschichte, die sie mit anspielungsreichen Daguerreotypien, Zitaten und einem ausführlichen Nachwort zu einem herausragenden Jugendroman geschaffen hat. (Stefanie Hetze)
Es sind die ganz frühen, eiskalten Morgenstunden, als sich das Mädchen Lamentatio aus einem Fort englischer Siedler in Nordamerika davonschleicht. Vor ihr liegt nicht weniger als Die weite Wildnis mit all ihren Gefahren. Doch mehr noch als Dunkelheit, Kälte und Einsamkeit fürchtet das Mädchen die Menschen, vor denen sie flieht bzw. ihren oder gar ihre mit Sicherheit beauftragten Verfolger. Schlimmes muss ihr widerfahren sein, man ahnt es lange nur. Von nun an wechseln sich Mut und Entdeckerfreude ab mit Verzweiflung und Schmerz. Für Lamentatios Kampf ums Überleben findet Lauren Groff einen überaus packenden Erzählton, der ihre existenziellen Erfahrungen fast physisch erlebbar macht – selten habe ich so mit einer Protagonistin mitgefiebert. Lamentatios in Rückblenden erzählte Erinnerungen sowie ihre im wandernden Selbstgespräch immer kritischer gestellten Fragen an Gott und die Welt gehen jedoch weit über das Genre des Abenteuerromans hinaus. Lauren Groff schlägt meisterhaft einen Bogen zu gesellschaftlichen Themen und Debatten, die heute von größter Aktualität sind. Sie verknüpft Elemente des Nature Writing, des historischen, des feministischen, des politischen Schreibens zu einem schlicht umwerfenden Roman. (Jana Kühn)
Englische Autorinnen der 1930er Jahre erleben gerade ein spektakuläres Comeback. Neben Wiederauflagen von Klassikerinnen wie Josephine Tey und Margaret Kennedy gibt es auch eine deutsche Erstveröffentlichung zu vermelden und dringend zu empfehlen. Rachel Fergusons „Die Brontës gingen zu Woolworths“ is very british indeed: skurril, unterhaltsam, tiefgründig und schwer aus der Hand zu legen.
G.W. Pabst, neben Lang, Murnau und Lubitsch einer der ganz großen Regisseure der Weimarer Republik, Entdecker von Greta Garbo, ging nach der Machtergreifung der Nazis in die USA, es gelang ihm aber nicht, in Hollywood Fuß zu fassen. Hier setzt Kehlmann ein, der das Leben Pabsts von diesem Moment an bis 1945 in einen packenden Roman verwandelt hat.
Auch wenn der Einband rot leuchtet und goldene Schrift schimmert, lässt er so zurückhaltend nicht ahnen, was für ein Schatz sich dahinter verbirgt. Rao Pingru hatte nach dem Tod seiner Frau Meitang die Geschichte ihrer Liebe und ihres Lebens für seine Nachkommen aufgeschrieben. Erst durch eine Enkelin, die Teile davon im Netz postete, kam es zur Buchveröffentlichung. In einer genialen Kombination aus lapidarem Berichten des Geschehens und tiefer Zuneigung für seine Liebste schildert er seine Kindheit und die 60 gemeinsamen Jahre mit Meitang. Auf ihre intime familiäre Welt wirken sich die übermächtigen politischen Ereignisse und Umwälzungen um sie herum im China des 20. Jahrhunderts unmittelbar aus. Doch bei aller Drangsal behält Rao Pingru seine zuversichtliche Lebenseinstellung, genährt durch die Liebe zu seiner Frau. Ein faszinierendes, ja beglückendes Memoir, angereichert durch zahlreiche farbige Illustrationen des Autors und eine historische Zeittafel. (Stefanie Hetze)
Die wichtigsten Momente der letzten 150 Jahre deutscher Geschichte, aus Kinderperspektive erzählt anhand der Bewohner eines großen Mietshauses mitten in Berlin und ergänzt duch kindgerechte historische Erläuterungen. Beginnend 1871 geht es durch Kaiserreich, Kriege und Wirtschaftswunder bis in die heutige Zeit, wandeln sich Einrichtungen und Bewohner. Die großen wimmelbildartigen Illustrationen laden zum Eintauchen ein und lassen Historisches begreifbar und lebendig werden. Ein Buch für die ganze Familie zum Schauen und Sich-Vertiefen. (Syme Sigmund)
Der Tiber schlängelt sich um das westliche Zentrum Roms, fristet aber reguliert neben den berühmten historischen Stätten und Gebäuden der Ewigen Stadt ein Schattendasein. Das könnte sich mit diesem Buch gehörig ändern, denn die seit langem in Rom lebende und recherchierende Autorin stellt den Fluss ins Zentrum und fördert Erstaunliches zutage. Dabei spannt sie den Bogen von der Mythologie über die enorm wichtige Funktion als Lebensader bis zum Schicksalsfluss. Die Stadt Rom mit ihrer 3000jährigen höchst wechselvollen Geschichte ist ohne den Tiber undenkbar. Ohne den Fluss, auf dem vom Meereshafen Ostia aus gigantische Mengen an Getreide, Marmor und Waren aller Art transportiert wurden, hätte Rom nie diese Bedeutung gehabt, hätten Imperatoren und Päpste nie ihre Macht derart ausbauen können. Anschaulich und voller Details schildert Schönau aber auch die Probleme, die das Gewässer verursachte. So werden die Abwässer Roms erst seit kurzem flächendeckend geklärt, haben die Menschen früher sein Wasser getrunken und wie Goethe und Pasolini darin gebadet. Ein beeindruckendes Porträt, angereichert mit Stadtplänen, Fotos und vielen Hintergrundinformationen. Eine echte Perle. (Stefanie Hetze)
Es ist Ende November 1941 als auf der hawaianischen Insel Honolulu ein brutaler Doppelmord geschieht. Ein weißer US-Amerikaner und seine japanische Freundin werden regelrecht geschlachtet. McGrady, ein eigensinniger, nicht gerade beliebter Einzelgänger und quasi Prototyp des literarischen Detektivs wird mit den Ermittlungen betraut. Der Fall erhält höchste Priorität, weshalb McGrady zu Ermittlungszwecken bis nach Hongkong reisen muss. Doch noch während er dort hoffnungsvoll von seiner baldigen Rückkehr und einem romantischen Weihnachten träumt, sitzt er plötzlich selbst hinter Gittern. Und als am 7. Dezember die Japanische Armee erst Pearl Harbour und wenige Stunden später Hongkong angegreift, ist McGrady vollends den historischen Verwerfungen ausgeliefert. Fünf Winter wird es dauern, bis er nach Honolulu und Pearl Harbour zurückkehrt – im Gepäck neue Informationen zu den Morden, mit denen alles begann. Vor dem Hintergrund des Pazifikkrieges erzählt Kestrel einen packenden Hard-Boiler, einen fulminanten Spionage-Thriller und einen berührenden Anti-Kriegsroman. (Jana Kühn)