Liv Strömquist, Das Orakel spricht, aus dem Schwedischen von Katharina Erben, avant 2024, 248 Seiten, 25 Euro
Wie bei ihren Büchern zuvor macht es wieder wunderbar großen Spaß, sich durch die Brille von Liv Strömquist mit gesellschaftspolitischen Themen zu befassen. Diesmal geht es um den wachsenden Selbstoptimierungsdrang (oder -zwang), um Todesangst, zunehmende Individualisierung und wie das alles zusammenhängt. Keine ganz neuen Themen, aber ein herrlicher Kommentar, gewohnt scharfsinnig, überspitzt, lustig, böse und sehr lustig. Mag sein, man fühlt sich das ein oder andere Mal ein ganz bisschen ertappt. (kb)

“Alles, was wir uns auf den Kopf setzen, verrät etwas von uns”, sagt Karen Exner im Vorwort dieses Sachbuches, einem echten Hingucker in leuchtenden Sonderfarben, und es ist richtig schlau. Die Bilderbuch-Künstlerin traut sich nicht nur in Stil und Farbe etwas, sondern mixt die Kopfbedeckungen auch wirklich mutig einmal rund um den Globus und schüttelt sie historisch durch. Perücke, Melone, Kufiya, Badekappe und viele mehr sind in ihrem Zweck grundverschieden und haben doch alle den gleichen Platz. So lässt sich assoziativ und lehrreich die ganze Welt erzählen. (jk)
Alles ist Rio viel zu viel. Der Sommer, die Hitze, die Freund*innen, die Erwartungen, die Trauer, die Angst, das Vermissen. Seit einem Jahr ist seine Zwillingsschwester tot und alle, auch er selbst, denken, dass es jetzt doch mal besser werden muss. Tut es aber nicht. Dann trifft Rio auf Franz, mit dem sich alles zwar nicht leichter, aber weniger einsam anfühlt. Mit Verlust, Trauer und Depression hat sich Annika Scheffel schwere Themen vorgenommen, die hier wunderbar zart und leicht und ziemlich kitschfrei erzählt werden. (kb)
Dieses Buch ist ein außergewöhnlicher Bericht über das Leben und Denken von Davi Kopenawa, Schamane und Sprecher des brasilianischen Amazonasgebiets. Als Vertreter einer vom Aussterben bedrohten Bevölkerung zeichnet er ein unvergessliches Bild der Yanomami-Kultur im Herzen des Regenwaldes – eine Welt, in der uraltes indigenes Wissen mit globaler Geopolitik und kommerziellen Interessen kämpft. Der Anthropologe Bruce Albert hat Kopenawas Worte aufgenommen und transkribiert, damit sie einen Weg aus dem Wald finden können. (gs)
So bizarr es erscheinen mag, Menschen und Pilze haben viel gemeinsam: ähnliches Erbgut und ein kleines Meerestier als gemeinsamen Vorfahr zum Beispiel. Es ist daher nicht überraschend, dass Pilze seit jeher unsere Neugier und Fantasie anregen: Boten von Gottheiten, Märchenfiguren und Legenden, Inspirationsquellen für Künstler*innen, Zutaten von Arzneimitteln oder Drogen – die Liste ist lang. Fungipedia sammelt Merkwürdigkeiten und Beschreibungen dieser faszinierenden Organismen sowie Mythen und exzentrische Anekdoten über berühmte Pilzforscher*innen. (gs)
Willkommen im Wald, schau dich in aller Ruhe um – hier ist es fantastisch! Die Einladung ist wortwörtlich, denn das Bilderbuch des chilenischen Künstlers Sebastián Illabacader ist ein riesiges Zick-Zack-Leporello von drei Metern Länge. Einmal aufgestellt, kann sich ein Kind entscheiden: Von welcher Seite schau ich mir das an? Lieber das bunte Treiben der Menschen oder die vielen kleinen Abenteuer der Tiere? Oder gibt es nicht doch eine Verbindung zwischen beiden Welten, die vielleicht mit den vielen versteckten Klappen zu tun hat? Ein Spektakel von Bilderbuch! (jk)
Unvergessen wie De Padova seiner Großmutter die Physik erklärte. Die Szene in dem Roman Nonna – übrigens eine unserer Lieblingsperlen – ist kurz, jetzt hat er sie ausgebaut, könnte man sagen. Der Physiker De Padova nimmt uns mit in die atemberaubende Welt der Quanten und erzählt uns von dem legendären Jahrzehnt der Physik vor 100 Jahren entlang von Begegnungen ihrer Protagonist*innen. Abstraktes wird durch den erzählerischen Blick auf die denkenden Menschen mit einem mal sehr greifbar. Die Nonna hätte ihre Freude an diesem Buch gehabt. (kf)
Ein Olivenbaum auf dem Ölberg ist der klug gewählte Erzähler dieser fulminanten Geschichte einer Stadt. In zehn Kapiteln, als großformatig und lebendig gestaltete Graphic Novel sowie vor allem in großer kulturhistorischer Kenntnis erzählen Vincent Lemire und Christophe Gaultier die erstaunliche 4000jährige Geschichte der Wiege und des Herzens des Christentums, des Judentums und des Islams zugleich.
Ein Intellektueller, 1944 aus Riga geflohen, landet per Zufall in einem kleinen Ort auf der Schwäbischen Alb. Zwei Welten, zwei Mentalitäten prallen aufeinander, die des heimatlosen kultivierten Stadtmenschen und die der alteingesessenen kleinstädtischen Provinzler, die trotz Krieg und Nationalsozialismus eigentlich alles machen wie bisher. Das sorgt für ordentlich Reibung, die der Autor in bitterbösen Episoden genüsslich zelebriert. Bei aller Absurdität, die ihm begegnet, verhehlt er aber auch nicht sein staunendes Anerkennen der schwäbischen Widerstandskraft. Dieses Spiel zwischen Bodenständigkeit und Anarchie sowie zwischen Überheblichkeit und Angewiesensein ist vergnüglich zu lesen und gleichzeitig voller Widerhaken. (Stefanie Hetze)
Frau, Tochter, Mutter, Rebellin, diskriminierter Körper, Mensch sein. Ertragen, trauern, kämpfen, älter werden, sich befreien, verlangen. Lisette Lombé findet in dem Gedichtband Worte, die frau gesucht und nicht gefunden haben mag. Viele dieser Worte sind richtig schmerzhaft. Das Brennen als Metapher des Lebens tut trotzdem richtig gut. In klaren, schmucklosen und dennoch funkelnden Versen erzählt die belgische Nationaldichterin über steife Regeln, die durchbrochen werden können, über leidenschaftliches Begehren und gibt den Vergessenen und den Ausgegrenzten eine starke, ehrliche Stimme. (gs)