Übersetzt von J. Komina & S. Knuffinke, Insel, 400 Seiten, 16 Euro, ab 9
Birdie hat ihre Eltern nie kennengelernt und wächst in einem Kinderheim auf, wo sie Freundschaft und Zugehörigkeit erfährt – eine liebevolle Wahlfamilie. Umso überraschender kommt die Nachricht des Adoptionswunsches ihrer bis dato unbekannten Großtante. Tieftraurig, unsicher, aber auch neugierig bricht das Kind in ein kleines Dorf der englischen Provinz auf. Der Empfang der Großtante ist abweisend, in der Dorfgemeinschaft und Schule erfährt Birdie noch deutlich Schlimmeres. Einziger Halt wird Mr. Duke, ein Grubenpony, das jedoch selbst in großer Gefahr schwebt. Geschickt verortet. J.P. Rose die Geschichte über das Pony in der Transformation des Kohlebergbaus im Nachkriegsengland. Zudem stattet sie ihre Protagonistin mit viel Mut und Gerechtigkeitssinn aus und lässt sie aus der eigenen Not heraus zur Retterin des tierischen Freundes werden. Mit Birdie erfahren Kinder, dass das Erleben von Ungerechtigkeit, Wut und Kraft freisetzen kann, die wiederum zu einer Veränderung führen können. Wie es der Autorin dabei gelingt, kindgerecht das Thema Rassismus nicht nur schrittweise in ihre Erzählung einzubinden, sondern dies auch noch in einer diskriminierungssensiblen Sprache, die dennoch jede Verletzung erspüren lässt ist große Kunst – gesellschaftskritische Geschichtserzählung und spannender Schmöker in perfekter Balance! (jk)

Was ist dieses Buch eigentlich nicht? Eine queere coming-of-age Geschichte im Rostock der 1980er Jahre, eine subtil erzählte Mutter-Sohn Beziehung, die trotz entsetzlicher Untiefen nie den liebevollen Bezug verliert, ein schonungsloser Einblick in die Überwachungs- und Kontrollarchitektur der späten DDR. Aber vor allem ist der Erstling des Schauspielers Victor Schefé ein humorvoller, tiefsinniger, bewegender Pageturner über die Jüngere Deutsche Geschichte und einen grundsympathischen Protagonisten, der sich entschieden hat, etwas zu wollen von seinem Leben. Über feingestimmte literarische Nuancen gelingt es Schefé, die Vielstimmigkeit einer Biographie einzufangen und eine sprachliche Collage zu gestalten, in der das Sehen und Erleben des 6jährigen Kindes mit dem maschinellen Sprachduktus von Stasi-Akten und Playlists der 1980er ein Verbindung eingehen kann. Souverän erzählt, grandios orchestriert, nicht aus der Hand zu legen. (kf)
Tragisch beginnt der dritte Roman der nigerianisch-britischen Erfolgsautorin Oyinkan Braithwaite. Monife, eine junge Frau Anfang Zwanzig begeht Selbstmord, überlässt sich den gefährlichen Strömungen des Meeres und treibt darin davon. Am selben Tag wird ihre Nichte Eniiyi geboren – ein vor allem für Monifes Mutter untrüglicher Beweis dafür, dass ihre Tochter in der Neugeboren wieder auferstanden ist. Braithwaite zeichnet Monifes Selbstmord als wirkmächtiges Bild einer Kapitulation, ebenso einer Art Schiksalsergebenheit. Denn, Monife und Eniiyi sind zwei der Falodun-Frauen, die von einem Fluch verfolgt, seit Jahrzehnten nur unglückliche Liebesbeziehungen erleben. Es liegt in der großen Kunst der versierten Autorin, diesen wahrlich schweren Plot keineswegs schwergängig zu erzählen. In wechselnden Zeitebenen verwebt Braithwaite geschickt die generationenübergreifenden Erzählstränge und stellt die weitverzweigte Falodun Familie vor. Ihre Figuren sind allesamt streitbar und widersprüchlich, genau deshalb lebensnah und glaubwürdig. Wie nebenbei entsteht so innerhalb der mitreißenden Familiensaga die Genese einer modernen nigerianischen Gesellschaft, die den Spagat zwischen spirituellen Traditionen und hippen Lifestyles ausbalanciert. (jk)
Dacia Maraini, die Grand Dame der italienischen Literatur, musste sehr alt werden, bis sie sich dem schmerzhaftesten Abschnitt ihres Lebens stellen konnte, ihrer grausamen Kindheit in einem japanischen Internierungslager. Zum Glück überwand sie ihre Abwehr und hat ein Buch geschrieben, dem das Kunststück gelingt, ein eher unbekanntes Kapitel faschistischer Gewalt offen zu legen und gleichzeitig von ihrer tief empfundenen Liebe für das Land, in dem ihr großes Unrecht widerfuhr, zu erzählen. Dabei konnte sie auf Aufzeichnungen und Bücher ihrer Angehörigen zurückgreifen. Bevor sie mit ihren Eltern, den vermeintlichen „Verrätern“ und den noch jüngeren Schwestern deportiert wurde, fühlte die knapp 7Jährige sich selbstverständlich als Japanerin, war sie eng verbunden mit ihrem japanischen Kindermädchen. Im Lager ist die Familie extremem Hunger, Eiseskälte und sadistischen Wachen ausgesetzt, Spielen war sowieso Tabu. Lebensrettend sind die mutigen, besonnenen Überlebensstrategien der Eltern, denen Maraini mit ihrem Buch ein unvergleichliches Denkmal setzt. Gleichzeitig rückt sie die Geschichte in einen großen historischen Kontext und appelliert an beherzten menschlichen Widerstand. Ein harter, zarter, beeindruckender Text. (sh)
2007 gründeten die Künstlerinnen Gülsüm und Inci Güler den nomadischen Dinnerclub TDD, der in temporär genutzten Räumen stattfand und unterschiedlich große Gruppen zum Kochen, Essen, Trinken einlud. Dem Vernehmen nach waren das rauschende Abende. Jetzt lassen sie uns Nachzügler*innen daran teilhaben: mit einem wunderschönen, so liebevoll wie kunstvoll gestalteten Kochbuch und einem Stadtführer der etwas anderen Art. Vorgestellt werden 27 Orte, überwiegend in Berlin, mit den jeweils dazugehörigen Menüs. 108 Rezepte für jeweils 40 Personen, reich bebildert, machen Lust auf Dinnerpartys! (kb)
Ein neuer Davide Morosinotto, ein neuer historischer Stoff: diesmal der Mythos von Kaspar Hauser, der 1826 unter mysteriösen Umständen in Nürnberg auftauchte und binnen kurzer Zeit ganz Europa in Aufruhr versetzte. Einem alter ego gleich schickt der italienische Kinder- und Jugendbuchstar seine Protagonistin Greta Grimaldi über die Alpen, um das Rätsel Kaspar Hausers Herkunft zu lösen. Morosinottos wie immer genaue Recherchen fließen als Gretas Ermittlungen unmittelbar in die Geschichte ein und machen das Schaustück deutscher Geschichte zum spannenden Detektivroman. (jk)
Bilbo lebt beschaulich in seiner komfortablen Wohnhöhle vor sich hin, bis eines Tages unangemeldeter Besuch sein Leben radikal verändert und eine aufregende Reise voller Gefahren beginnt. Diesen Klassiker der Kinderliteratur hat die Schöpferin der Mumins Tove Jansson sehr eigen illustriert. Mit zarter Zurückhaltung und leiser Ironie. Den Hobbit, die Zwerge, den Zauberer, die Wölfe, Orks und vielen furchterregenden und selten freundlichen Gestalten hat sie mit feinem Strich in winzigen Zeichnungen nur angedeutet. Übermächtig groß schraffiert sind dagegen die Landschaften, in denen die Winzlinge dramatische Abenteuer zu bestehen haben. Das lässt Platz für die eigene Phantasie und harmoniert wunderbar mit Tolkiens magischem Text. In bester Ausstattung, ein Schatz. (sh)
Auch in Italien kann es trüb und kalt sein, doch es gibt eine lange Tradition der Abhilfe: mit Körper und Seele wärmenden Speisen, die einfach und schnell zubereitet, umgehend für Wohlergehen sorgen. Risotto mit Kartoffeln und Petersilie, eine winterliche Caponata aus Sellerie, gebackener Rosenkohl, Wildschwein alla Maremma . . . mmh. Deftiges, Üppiges, das ja auch gern in kleinen Portionen genossen werden kann. Einfach köstlich. Und vor und nach dem Kochen und Essen machen die schönen Fotos Lust auf die Farben und Stimmungen der dunkleren Jahreszeit. (sh)
„Meine Großeltern haben ab den 1980ern die DDR dekoriert.“ Doch Vorsicht: In diesem rasant und sehr persönlich erzählten Buch geht es um weitaus mehr als nur Dekoration. Aron Boks Großvater, ein Elektriker mit Angst vor Starkstrom und einer systemfremden Vorliebe für italienisches Lampendesign, entwirft nicht nur DIE Lampe in Erichs Lampenladen, dem Palast der Republik. Er und seine Frau gründen in ihrer Garage in Wernigerode ein livestyle startup avant la lettre. Ein überraschender und sehr unterhaltsamer Einblick in die jüngere Deutsche Geschichte! (kf)
In Ungebetene Gäste wirft Ayelet Gundar-Goshen einen scharfen wie unerschrockenen Blick auf die israelische Gesellschaft, lotet die Mechanismen von internalisierten Rassismus aus und verfolgt präzise die feinen Verschiebungen zwischen Schuld und Unschuld. Die Unachtsamkeit einer jungen Mutter führt zum Tod eines Teenagers, ihr Schweigen dazu, dass ein arabischer Arbeiter unschuldig für diesen Tod verantwortlich gemacht wird. Psychologisch nuanciert und mit großem Gespür für die Macht des Verschweigens erzählt der Roman von der zerstörerischen Energie eines einzigen Geheimnisses. (kb)