Aus dem Englischen von Stefanie Ochel
Kjona Verlag, 2025, 144 Seiten, 23 Euro
„Was für ein Massaker denn? Welches?“ fragt sich Olga Pavić als sie den Brief mit dem amtlichen Stempel der Stadtverwaltung gelesen hat, in dem man ihr mitteilt, dass ihr Haus beschlagnahmt wird und einem Mahnmal weichen soll.
„Was für ein Massaker denn? Welches?“ fragen sich auch ihre Kinder Hilde und Danilo, fragen sich ihre Freund*innen, fragen sich ganz offensichtlich auch die drei Architekt*innen, die in den nächsten Tagen eintrudeln und ihre Ideen vor eine ebenfalls eintreffenden grauen Jury pitchen.
Währenddessen plant Olga ein letztes großes Abschiedsmahl in und für dieses Haus, dem Denkmal ihrer eigenen Lebens- und Familiengeschichte. Aus der Perspektive der verschiedenen Figuren fächert sich diese auf, erzählt von Festen und Gewalt, vom Scheitern, Sterben und Begehren.
In ihrem Debüt nähert sich Lara Haworth schwarzhumorig, klug und behutsam den drängenden Fragen der Erinnerungskultur. Wie kann ein Monument Geschichte einfangen. Wo liegt der schmale Grad zwischen erinnern und vergessen. Wie schreibt sich Erinnerung in den Körper ein. Wo treffen sich individuelles Erinnern und kollektives Gedächtnis. Das berührt und erheitert gleichermaßen. (Katharina Bischoff)

1904 ist die schwer zugängliche Region, im bergigen Norden der philippinischen Insel Luzon mit ihren dichten Wäldern und weitläufigen Reisterrassen von den Kolonialkämpfen nahezu unberührt geblieben. Die wenigen US-Amerikaner, die dort überhaupt ankommen, werden freundlich empfangen – so auch im Dorf von Luki. Das 16jährige Mädchen liebte schon als Kind am meisten, was den Jungen vorbehalten war: Kraftvoll und geschickt bewegt sie sich als Jägerin durch den Wald. Nach einer Auseinandersetzung mit den Dorfältesten kommt ihr das Angebot des vermeintlich freundlichen Truman Hunt, seinen Tross zur Weltausstellung nach Saint Louis zu begleiten, gerade recht. Die Menschen in den USA seien neugierig und wollten die Igorot, so die damals abschätzige Bezeichnung der indigenen Tribes, kennenlernen. Doch bereits am Tag der Ankunft zeigt sich, dass die Igorot vor allem Objekte der Gier nach Exotik sind. Für Luki wird die Reise zum schmerzlichen Erkenntnisprozess, der ihr wiederum vor Augen führt, wer sie ist und wofür sie steht – als Individuum und als Igorot. Wild Song stellt universelle Fragen über Macht und Privilegien, Zugehörigkeit und Entfremdung, Loyalität und Freundschaft. So ist dieser mitreißende Coming-of-Age Roman, bei aller Distanz in Zeit und Raum, im besten Sinne gegenwärtig. (Jana Kühn)
Eine wahre Begebenheit: Hannah Höch, bereits erfolgreich in den ersten Stufen ihrer Karriere als Künstlerin und frisch befreit vom dominanten Dadaisten Raoul Hausmann, lernt 1926 die charismatische Autorin und Übersetzerin Til Brugman kennen, die noch kaum veröffentlicht hat. Ihre gegenseitige Anziehung ist enorm, eine intensive Liebesbeziehung auf Augenhöhe entsteht, die fast zehn Jahre dauern sollte. Die beiden Frauen pendeln zwischen Den Haag und Berlin, zwischen zwei Sprachen, zwischen Erfolg und Misserfolg, Selbständigkeit und Zweisamkeit. Sie müssen Geld verdienen, ihren gemeinsamen Alltag, Freundschaften, Familien bewältigen und als Künstlerinnen vorankommen. Und dies als lesbisches Paar in Zeiten des erstarkenden Faschismus. Diese queere Geschichte selbst ist schon interessant genug, der Text aber, wie ihn die Autorin montiert und poetisiert hat, ist ein literarisches Ereignis. Kühmel hat sich von den beiden Figuren und ihren künstlerischen Praktiken inspirieren lassen und verwebt, verdichtet, zerschneidet, umkreist Fakten, Briefe, Zitate, Erfundenes, Weltpolitisches und Privates zu einem hinreißenden Liebes- und Künstlerinnenroman. (Stefanie Hetze)
Wills Schuhe sind nicht nur auf gar keinen Fall cool, sie sind richtig oll. Genau wie alle seinen anderen Sachen auch. In der Schule wird er gehässig Ramschladen gerufen. Er wohnt mit seinem versehrten und arbeitslosen Vater in einer Gegend mit einschlägigem Ruf. Das Zuhause bleibt oft kalt, der Kühlschrank leer. Das war nicht immer so, aber je länger dieser prekäre Zustand Alltag ist, desto dünnhäutiger wird Will. Und irgendwann helfen selbst die einzigen beiden Lichtpunkte, sein bester Freund Cameron und das Zeichnen, nicht mehr darüber hinweg und Will droht allen Halt zu verlieren. In jeder Zeile des eindrücklichen Romans für Kinder liest sich mit, dass Tom Percival aus eigener Erfahrung genau weiß, wovon er schreibt. Detailreich sind nicht nur die beschwerlichen Lebensverhältnisse beschrieben, sondern ebenso die Strategien des Kindes davon abzulenken – Scham als grundsätzliches Lebensgefühl. Dennoch ist das Buch keinesfalls erdrückend in seiner Problematik, es zeichnet sich vor allem durch eine genaue emotionale Vielseitigkeit aus: das Glück gute Freund*innen um sich zu wissen, die tiefe Ruhe, die sich beim Zeichnen einstellt, der Stolz sich trotz aller Schwierigkeiten integer zu behaupten. Und wer Tom Percival bisher eher als Illustrator kannte, dem sei gesagt, dass auch dieses Buch mit stimmungsvollen Zeichnungen aus seiner Hand versehen ist. (Jana Kühn)
„Was mag aus uns werden?“, diese Frage begleitet die Freunde Giovanni und Santino, die – beide vaterlos – gemeinsam in Sciacca, einer Hafenstadt im Südwesten Siziliens, heranwachsen.
Nach ihrem grandiosen Roman Wie die Gorillas hat Esther Becker mit Notfallkontakte nun einen Erzählband vorgelegt, der seinen Protagonist*innen wieder atemberaubend nah kommt und virtuos die gesamte Bandbreite der kurzen Form auszuspielen versteht. Das plötzliche Fehlen eines Rettungsringes an der Brücke, der doch immer da war. Unerklärliche Warteschlangen. Oder eines Tages: ein wachsendes Loch im Küchenboden. Es sind die leichten Verschiebungen der Realität, die eine Geschichte in Gang setzen und den Konstellationen von Nähe, den Varianten von Macht, Kontrolle und Selbstverlust in Beziehungen nachspüren. Notfallkontakte erzählt aber auch und vor allem von Kompliz*innenschaft – mit sich selbst, mit Weggefährt*innen, mit Fremden. Mund zu, treiben lassen heißt eine der traurigsten und poetischsten Erzählungen in der Sammlung und genau das scheint Programm: ertrinken, abtauchen, sich treiben lassen in dem urbanen Erzählstrom, der dann plötzlich schlank, lyrisch, fast abstrakt seinen ganz eigenen Rhythmus offenbart. Die Fäden, die Esther Becker zwischen ihren Erzählungen spannt sind dünn, manchmal sehr nah an der Oberfläche oder auch gar nicht sichtbar. Die Figuren entziehen sich oft im letzten Moment einer eindeutigen Zuschreibung, verhalten sich ganz anders als erwartet oder spielen bewusst mit Identitäten und sind damit Teil einer Welt, die im Unvorhersehbaren ihre größte Schönheit entfaltet. (Kerstin Follenius)
Diese Witwe ist gnadenlos in ihrer Engstirnigkeit und in ihren unverrückbarenen Maßstäben zu richtigem und falschem Verhalten, auch ihrer Kinder Trevor und Charlotte. Ihren verstorbenen Mann, einen mittelmäßigen Literaten, hebt sie auf ein Podest. Aber da gibt es noch Emily und William, die schönen, reichen Zwillinge. Nach der Verurteilung ihres wegen eines Mordes zu Recht oder Unrecht angeklagten Vaters, eines wirklich erfolgreichen Schriftstellers, wachsen sie bei ihrer strengen Tante auf. Ebenso wie sie sich als Kinder spielend dem Regime der Tante entziehen, ignorieren sie auch als Erwachsene die Meinung der Anderen. Während die Zwillinge in Londons Künstlerkreisen brillieren, erreichen Trevor, Charlotte und eine Vielzahl unterschiedlichster Bohemiens nur ein prekäres Auskommen und geringe Anerkennung. Als William, angestiftet durch Trevor, ausgerechnet im Geburtshaus seiner Tante eine Kommune gründet, kollidieren Träume vom gemeinschaftlichen kreativen Leben mit sehr realen Unterschieden bei Geld, Herkunft und Geschlechterrollen. Differenzen, die auch heute, knapp hundert Jahre später, von aktueller Brisanz sind, und die die Autorin bissig genüsslich zerlegt. Das macht großen Spaß. (Stefanie Hetze)
Mika, 12 ⅚ Jahre alt, ein nerdiger Typ, der gerne zeichnet, noch lieber zockt und in der Schule gemobbt wird, findet seine Oma ohnmächtig am Küchenboden ihres Landhauses. Kurzerhand schnappt er sich Omas Auto, um Hilfe zu organisieren. Das viel zu schnelle Auto rast über eine Leitplanke hinweg und noch während Mika auf den Aufprall und das Ende von allem wartet, schweben Oma und Enkel mit einem Luftschiff weiter in eine andere Welt. Viel später wird Mika wissen, dass es sich dabei um Immerland handelt, buchstäblich ein Ort für die Ewigkeit. Und am liebsten würde der Junge hier auch für immer bleiben, denn plötzlich findet er, was bisher immer fehlte: Freund*innen, Rückhalt und Bestätigung. Endlich einmal kann er nämlich mit seinen wirklich guten Zockerskills punkten – ein schöner und empowernder Twist der spannend wie witzigen Geschichte. Alles ist, wie Mika es sich nur wünschen kann, nur Oma kommt irgendwie nicht wieder richtig auf die Beine … und sehr langsam dämmert nicht nur Mika, dass hinter all dem, was sich so perfekt anfühlt, viel schöner Schein steckt. Was für ein grandios turbulentes Romandebüt von Comiczeichner Flix, der seinem Protagonisten hier flux mal den Zeichenstift geliehen hat! (Jana Kühn)
1916, Cambridge in New England. In einem Pub begegnen sich die beiden Musikstudenten David und Lionel. Der eine sitzt am Klavier und spielt alte Volkslieder, die er bei seinen Streifzügen durch die Provinzen sammelt. Der andere kann unerwartet eines davon mitsingen. Das ist der Beginn einer leisen, leidenschaftlichen und unausweichlichen Liebesgeschichte, die einen Herbst und einen Sommer dauert. Mit einem Phonographen und etlichen Wachsrollen ziehen die beiden jungen Männer zwei Monate durch die Nadelwälder Maines und zeichnen traditionelles Liedgut auf, gesungen in Küchen, Scheunen, abseits der Öffentlichkeit. Beindruckender sind jedoch die Worte, die der Erzähler Lionel „für all die filigranen Ränder der verlorenen Klänge“ findet, die nicht auf Wachsrollen archiviert wurden. Nüchtern, klar und hochpoetisch erzählt Shattuck diese Liebesgeschichte in und über ihre Klanglandschaft. Jene Wachsrollen sind es auch, die die Verbindung zu der zweiten, in diesem Band enthaltene Erzählung bilden. In den 1980ern findet Anni, Mitte 30, einen Karton mit jenem Archivmaterial auf dem Dachboden ihres neu gekauften Hauses und hört plötzlich das Knistern und Rauschen ihrer eigenen Beziehung. Ein Buch, so schmal wie intensiv. Im Sofa verschwinden und jemandem Vorlesen. In die Tasche stecken und im Wald eine Lichtung suchen – dieses Buch ist ein besonderer Moment. (Kerstin Follenius)
Auf der Suche nach einer anderen, vor allem sinnvolleren Aufgabe beginnt die Verwaltungsangestellte einer Seniorenresidenz in der südkoreanischen Provinz die alten Leute nach ihrem Leben zu befragen. Die Rückblicke finden großen Anklang – endlich einmal gehört werden. So manche Person erfindet offensichtlich Passagen zum Leben hinzu, doch Frau Mook scheint nun wirklich zu übertreiben. Oder nicht? War sie wirklich eine der vielen Trostfrauen im Pazifikkrieg, findige Spionin für Nord- wie Südkorea? Mörderin und Terroristin? Wieviele Namen, Orte, Stationen, wieviel Hunger, Leid und Gewalt, wieviel Liebe – wieviele Leben passen in ein einziges Leben? Mirinae Lee spannt mit ihrem Roman und der Lebensgeschichte(n) von Frau Mook einen Jahrhundertbogen über die Geschichte Koreas. Erschütternd wie gebannt, ja schonungslos bleibt die Lektüre von der ersten bis zur letzten Seite. Beglückend daran ist, wie klug der Roman gebaut ist, wie durchdacht sich Personen und Bezüge erst im Verlauf erschließen. Lee schreibt das Porträt einer mutigen, widerständigen und kraftvollen Frau, die bis zum letzten Atemzug versucht in einem gewalttätigen System selbstbestimmt zu leben. Völlig zurecht stand die Autorin damit 2024 auf der Longlist des Women’s Prize for Fiction. (Jana Kühn)