Carlo Collodis Geschichte einer vorwitzigen, kleinen Holzpuppe, die kaum in der Welt, diese schon wagemutig erkundet, ist sicher wohl bekannt. Imme Dros hat den großen Klassiker aus Italien für Kinder von heute zugänglich nacherzählt, und Carll Cneut hat ihn wunderschön, geradezu altmeisterlich illustriert. Mal skizzenartig, mal in malerischen Bildfindungen von großer Kunst wird die märchenhafte Erzählung zum prächtigen Sammlerstück, das auch Kinderherzen höher schlagen lassen wird.
Carlo Collodi, Imme Dros, Carll Cneut: Pinocchio, übersetzt von Rolf Erdorf, Bohem, 64 Seiten, 28 Euro, ab 5

Berühmt ist Therese Giehse für ihre Mutter Courage bei der Züricher Uraufführung, Furore machte sie beim mutigen politischen Kabarett Die Pfeffermühle. Aber wer kennt ihre Lebensgeschichte? Sie selbst hat über ihre Person kein Aufhebens gemacht, war auf der Bühne omnipräsent, im Privatleben zurückhaltend: „Ich bin ein alleiniger Mensch.“ Mit tiefem Respekt, historischer Akribie und in warm-dunkel gehaltenen Aquarellfarben nähert sich Yelin in ihrer pointierten Graphic Novel der Giehse an, erfahren wir von ihren Kämpfen als armes jüdisches „nicht schönes“ Mädchen, das Schauspielerin werden wollte, ihrer Karriere, der NS-Verfolgung, ihrer Arbeits- und Liebesbeziehung zu Erika Mann, ihrem erzwungenen Exil, aber vor allem ihrer außergewöhnlichen Hingabe an ihren Beruf. Großer Applaus für diese außergewöhnliche Künstlerinnenbiografie! (sh)
Als im Rostock der 1960er und 1970er Jahre neue Stadtviertel wie Groß Klein und Lichtenhagen entstehen, passiert deutlich mehr, als dass nur neuer Wohnraum erschlossen wird. Eine andere Form des Zusammenlebens nimmt Gestalt an – baulich, gesellschaftlich, privat. In Collagen und kurzen biographischen Erzählfragmenten setzt die Künstlerin Wenke Seemann sich auseinander mit Fotografien dieser Zeit, den Raum- und Bildordnungen der Moderne. Ein Buch nicht nur über den Aufbau sozialer Utopien sondern auch über das biographische Potential des Dokumentarischen. (kf)
Die Fotografie der Großmutter, wie niemand sie kannte – mondän, in Skikleidung, 1941 in den italienischen Alpen – das ist der Beginn einer autofiktionalen Reise der Autorin durch die Archive Tiranas und die eigene Familiengeschichte. Doch es ist vor allem das Ende, das Ypi ihrer Geschichte gibt, das Fragen nach Identität und politischer Integrität auf eine kluge Weise zu einem literarischen Thema werden lässt. ‚Aufrecht‘ ist die Rekonstruktion eines Lebens, das, wie so viele Frauenleben, nur an den Rändern der Archive zu finden ist. (kf)
Wie bei ihren Büchern zuvor macht es wieder wunderbar großen Spaß, sich durch die Brille von Liv Strömquist mit gesellschaftspolitischen Themen zu befassen. Diesmal geht es um den wachsenden Selbstoptimierungsdrang (oder -zwang), um Todesangst, zunehmende Individualisierung und wie das alles zusammenhängt. Keine ganz neuen Themen, aber ein herrlicher Kommentar, gewohnt scharfsinnig, überspitzt, lustig, böse und sehr lustig. Mag sein, man fühlt sich das ein oder andere Mal ein ganz bisschen ertappt. (kb)
“Alles, was wir uns auf den Kopf setzen, verrät etwas von uns”, sagt Karen Exner im Vorwort dieses Sachbuches, einem echten Hingucker in leuchtenden Sonderfarben, und es ist richtig schlau. Die Bilderbuch-Künstlerin traut sich nicht nur in Stil und Farbe etwas, sondern mixt die Kopfbedeckungen auch wirklich mutig einmal rund um den Globus und schüttelt sie historisch durch. Perücke, Melone, Kufiya, Badekappe und viele mehr sind in ihrem Zweck grundverschieden und haben doch alle den gleichen Platz. So lässt sich assoziativ und lehrreich die ganze Welt erzählen. (jk)
Alles ist Rio viel zu viel. Der Sommer, die Hitze, die Freund*innen, die Erwartungen, die Trauer, die Angst, das Vermissen. Seit einem Jahr ist seine Zwillingsschwester tot und alle, auch er selbst, denken, dass es jetzt doch mal besser werden muss. Tut es aber nicht. Dann trifft Rio auf Franz, mit dem sich alles zwar nicht leichter, aber weniger einsam anfühlt. Mit Verlust, Trauer und Depression hat sich Annika Scheffel schwere Themen vorgenommen, die hier wunderbar zart und leicht und ziemlich kitschfrei erzählt werden. (kb)
Dieses Buch ist ein außergewöhnlicher Bericht über das Leben und Denken von Davi Kopenawa, Schamane und Sprecher des brasilianischen Amazonasgebiets. Als Vertreter einer vom Aussterben bedrohten Bevölkerung zeichnet er ein unvergessliches Bild der Yanomami-Kultur im Herzen des Regenwaldes – eine Welt, in der uraltes indigenes Wissen mit globaler Geopolitik und kommerziellen Interessen kämpft. Der Anthropologe Bruce Albert hat Kopenawas Worte aufgenommen und transkribiert, damit sie einen Weg aus dem Wald finden können. (gs)
So bizarr es erscheinen mag, Menschen und Pilze haben viel gemeinsam: ähnliches Erbgut und ein kleines Meerestier als gemeinsamen Vorfahr zum Beispiel. Es ist daher nicht überraschend, dass Pilze seit jeher unsere Neugier und Fantasie anregen: Boten von Gottheiten, Märchenfiguren und Legenden, Inspirationsquellen für Künstler*innen, Zutaten von Arzneimitteln oder Drogen – die Liste ist lang. Fungipedia sammelt Merkwürdigkeiten und Beschreibungen dieser faszinierenden Organismen sowie Mythen und exzentrische Anekdoten über berühmte Pilzforscher*innen. (gs)
Willkommen im Wald, schau dich in aller Ruhe um – hier ist es fantastisch! Die Einladung ist wortwörtlich, denn das Bilderbuch des chilenischen Künstlers Sebastián Illabacader ist ein riesiges Zick-Zack-Leporello von drei Metern Länge. Einmal aufgestellt, kann sich ein Kind entscheiden: Von welcher Seite schau ich mir das an? Lieber das bunte Treiben der Menschen oder die vielen kleinen Abenteuer der Tiere? Oder gibt es nicht doch eine Verbindung zwischen beiden Welten, die vielleicht mit den vielen versteckten Klappen zu tun hat? Ein Spektakel von Bilderbuch! (jk)