Danteperlen

image006

An jedem Monatsanfang veröffentlichen wir an dieser Stelle vier persönliche Buchempfehlungen, unsere Danteperlen, denen wir viel Aufmerksamkeit  wünschen.

Im Juli 2022 haben wir zum achten Mal die Danteperlen als schöne gedruckte Broschüre veröffentlicht mit einem prallen Jahr voller Lesetipps für Große und Kleine. Die Broschüren sind kostenlos bei uns erhältlich.

Hier finden Sie unsere aktuellen Danteperlen aus diesem Monat. Stöbern und frühere Empfehlungen lesen können Sie auf den Unterseiten.

... für Erwachsene
Francesca Melandri: Kalte Füße
» Empfehlung lesen

... für Erwachsene
Igiaba Scego: Kassandra in Mogadischu
» Empfehlung lesen

... für Erwachsene
Maike Albath: Bitteres Blau
» Empfehlung lesen

... für Kinder
Marta Palazzesi: Feder und Kralle
» Empfehlung lesen

 

Francesca Melandri: Kalte Füße


Übersetzt von Esther Hansen, Verlag Klaus Wagenbach 2024, 279 Seiten, 24 Euro

Einen knapp 300 Seiten langen Brief hat Francesca Melandri an ihren schon lange verstorbenen Vater geschrieben und diesem Brief den Titel Kalte Füße gegeben. Darin setzt sie sich mit ihrer eigenen Familiengeschichte und Familienerzählung auseinander und verknüpft diese mit Zeitgeschichte und gesellschaftlicher Erzählung. Vornehmlich geht es um Krieg: „Ich muss herausfinden, was Krieg ist, Papa. Deshalb brauche ich deine Hilfe“.
Der Vater hat im 2. Weltkrieg gekämpft, auf der „falschen Seite“, auf Seiten der italienischen Faschisten und war Teil der Ritirate di Russia, des verlustreichen Rückzugs aus Russland, der in Italien als Opfergeschichte erzählt wird. Erst in der Auseinandersetzung mit dem völkerrechtswidrigen Angriffskrieg Russlands auf die Ukraine wird Melandri klar, dass „dein Russlandkrieg, ja größtenteils ein Ukrainekrieg war“. Diese Erkenntnis nimmt sie zum Anlass, genauer hinzuschauen. Schonungslos und ehrlich analysiert die Autorin sowohl den einen, familiengeschichtlichen, als auch den anderen, den gesellschaftspolitischen, Erzählstrang. Sie schreibt über russischen Kolonialismus und die Ignoranz des friedensverwöhnten Westeuropas, über unsere Mitschuld am Versuch der Auslöschung z.B. der ukrainischen Identität durch genau diese Ignoranz. Sie schreibt über das Privileg, sich als Pazifist*in zu sehen, und über den großen Wert von Freiheit. Sie erspart dem Vater nichts und führt doch ein liebevolles Zwiegespräch.
Mit großer, poetischer Notwendigkeit geschrieben. Mindblowing. (Katharina Bischoff)

Das bestelle ich!

Igiaba Scego: Kassandra in Mogadischu


Übersetzt von Verena von Koskull, S. Fischer 2024, 400 Seiten, 26 Euro

Kassandra in Mogadischu ist Igiaba Scegos erster, ins Deutsche übertragener Roman und zeigt uns nach dem kleinen Erzählband Dismatria die ganze Breite dieser virtuosen Erzählerin. Die politische und sehr persönliche Geographie einer Familie wagt große Bögen und webt Familien-, Kolonial- und Zeitgeschichte ineinander: Der Staatsstreich Siad Barres, die Flucht der Eltern und das Zerreißen der Familie, der Ausbruch des somalischen Bürgerkrieges, eine afro-italienische Kindheit und Jugend in einer Gesellschaft, die ihr koloniales Erbe ignoriert – eine Kassandra weit vor den Toren Mogadischus zur Passivität verdammt? Mitnichten. Diese Kassandra tritt dem Jirro, der diasporischen Krankheit von Krieg und Entwurzelung, entgegen und zieht quer durch die Sprachen, schafft Geschichte indem sie – gegen alle Widerstände – entschieden ihre Worte sucht und erzählt. Hier wird ganz deutlich: Postkoloniale Sprache und postkoloniales Sprechen sind grundverschiedene Dinge, ineinander verdreht und verwirkt. Letzteres werde ich, als weiße Deutsche in Deutschland, in seiner Komplexität nie emotional dechiffrieren, nie fühlen können, für ersteres bietet mir Scegos Kassandra einen Raum an, in dem sich mein Zuhören, mein Einfühlen schärft, Ambivalenzen spürbar werden. Kraftvoll, liebevoll, politisch unsagbar wichtig – unbedingt lesen! (Kerstin Follenius)

Das bestelle ich!

Maike Albath: Bitteres Blau

Berenberg 2024, 352 Seiten, 26 Euro

Über kaum eine italienische Stadt kursieren derartig hartnäckige Vorurteile wie über Neapel. Selbst Roberto Savianos bahnbrechende Offenlegung der Machenschaften der Camorra reduzierte Neapel in der Wahrnehmung einer breiten Öffentlichkeit auf einen Ort gnadenloser Gewalt. Später rückte Elena Ferrantes Freundinnen-Megabestseller die Stadt in den Aufmerksamkeitsfokus. Doch es gab seit jeher viel mehr. Die unterschiedlichsten Literat:innen schrieben mit Leidenschaft über ihre Stadt, Filme entstanden, sozialpolitische Initiativen engagierten sich. Diesem Reichtum ist Meike Albath nachgegangen: Auf Spaziergängen und Fahrten, mit Gesprächen, Interviews und ausgiebigen Lektüren ergründete sie die Reize und Widersprüche dieser faszinierenden Metropole. Tief taucht sie ein in ihre paradoxe/n Geschichte/n und Persönlichkeiten. Großartig, wie die Autorin dabei ihr profundes Wissen mit Beobachtungen aus dem städtischen Alltag kombiniert und uns einlädt an diesen besonderen Ort! (Stefanie Hetze)

Das bestelle ich!

Marta Palazzesi: Feder und Kralle

Übersetzt von Cornelia Panzacchi, Thienemann, 272 Seiten, 15 Euro, ab 10

In ihrem Heimatland Italien ist Marta Palazzesi längst keine Unbekannte mehr . Für „Nebbia” wurde sie 2019 mit der höchsten Auszeichnung für italienische Kinder- und Jugendliteratur, dem Premio Strega Ragazzi, ausgezeichnet. Ihr gerade in Deutschland erschienener Roman Feder und Kralle spielt im Jahre 1914 in Valencia. Amparao, sie tagsüber ein Falke, und Tomás, er nachts ein Panther, begegnen einander zuerst in großer Skepsis, um schließlich gemeinsam das Geheimnis ihrer rätselhaften Kindheit und Herkunft zu lösen. Palazzesi, die in Valencia Architektur studiert hat, beschreibt die Stadt ausgesprochen atmosphärisch und anschaulich. Dass sie ebenso lange als Übersetzerin von Drehbüchern gearbeitet hat, merkt man ihrem geradezu filmischen Schreibstil an. Und Dank der intensiven Zusammenarbeit mit der Illustratorin verleihen die stimmungsvollen Bilder der Geschichte um zwei jugendliche Tierwandler eine wirkmächtige Ebene mehr. Ein historisch fantastisches Abenteuer, das sicher auch hierzulande viele Kinder begeistern wird. (Jana Kühn)

Das bestelle ich!