Anne Berest: Die Postkarte

Aus dem Französischen von Amelie Thoma und Michaela Meßner, Berlin Verlag 2023, 539 S., € 28,-

Ephraim, Emma, Noemi, Jacques – aus dem Nichts erhält Anne Berests Mutter Neujahr 2003 eine anonyme Postkarte, nur mit den Vornamen ihrer 1942 in Auschwitz ermordeten Angehörigen. Sie verstört die Familie, doch mangels Erklärung wird sie beiseitegelegt und nie wieder erwähnt. Verdrängen war die Regel, hatte doch Myriam, die Großmutter, die nur durch ein „dünnes Zufallfädchen“ die Naziherrschaft überlebt hatte, über die Vergangenheit geschwiegen. Erst Jahre später, als die Autorin hochschwanger bei ihren Eltern auf die Geburt wartet, erinnert sie die Karte und möchte von ihren Vorfahren hören. Doch erst als ihre eigene Tochter in der Schule antisemitisch diffamiert wird, beginnt sie ernsthaft, die Geschichte ihrer Angehörigen zu recherchieren. Dabei kann sie sich auf das Archiv ihrer Mutter stützen, die, ohne darüber zu reden, alles Erdenkliche zur Familiengeschichte gesammelt hat. Mit Hilfe von Kriminologen und Nachforschungen aller Art wird peu à peu die vielgestaltige Geschichte, die bis in die Gegenwart reicht und unverhoffte Wendungen nimmt, aufgerollt. Das ist spannend und mitreißend wie in einem Krimi erzählt, wird aber durch die Passagen, in denen sie von ihren Rechercheschritten berichtet und uns am persönlichen Austausch mit ihren Angehörigen teilhaben lässt, zu einer direkten Einladung, sich selbst zu seinem eigenen Verhalten zu befragen. (Stefanie Hetze) Leseprobe

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