dtv 2024, 192 Seiten, aus dem Russischen von Olga Radetzkaja und Henriette Reisner, ab 12
Ein schwerhöriger Großvater hinterm Steuer, der unentwegt die falsche Abfahrt nimmt. Die Großmutter auf dem Beifahrersitz schimpft, vom Opa konsequent mit N-Ä-Ä-Ä-Ä übertönt. Die Mutter auf der Rückbank, eingeklemmt zwischen Taschen, dem Vater und den beiden Kindern wüsste einen Weg – es ist aber ohnehin vergeblich, denn die Familie steht im Stau. Nichts bewegt sich. Was klingt wie der Beginn einer turbulenten Urlaubsgeschichte ist in Wirklichkeit jedoch etwas ganz anderes. Die Familie ist auf der Flucht. Ihre Heimatstadt steht unter Beschuss und die Großeltern haben entschieden, zu evakuieren. Die Enge des Autos ist schwer zu ertragen für die 14jährige Marzia, die dem Familienkäfig entflieht und zur Erzählerin wird. Sie findet messerscharfe Worte für ihre Wut über das Unvermögen der Erwachsenen, ihr all das nicht erspart zu haben. Das ukrainische Autor*innenduo, ein bekannter Schriftsteller und eine 15jährige Schülerin, ist ein phantastisch gutes Gespann. Beide haben je eigene Fluchterfahrungen und wissen, an welchen Stellen sie innehalten und das nicht Auserzählte Bilder aufruft, die noch sehr lange nachwirken, ohne je die Leichtigkeit zu verlieren. Grandios übersetzt und rhythmisiert. Eine Geschichte vom Erwachsenwerden und vor allem eine Geschichte über Krieg, Flucht und Heimatlosigkeit aus einer bislang unerzählten Perspektive. Technisch meisterhaft, voller Humor und tief. Ein Buch für unbedingt alle ab 12. (Kerstin Follenius)