Dmitrij Kapitelman: Eine Formalie in Kiew

Verlag Hanser Berlin 2021, 176 S., € 20,-, TB 2023, € 12,-

(Stand Februar 2024)

Mit acht Jahren kam Dmitrij Kapitelman mit seiner Familie nach Deutschland. Mittlerweile 25-jährig beschließt er, die deutsche Staatsbürgerschaft zu beantragen, doch dafür braucht er eine „Apostille seiner Geburtsurkunde“, ein Dokument, das er nur in Kiew bekommen kann.
Daher macht er sich auf in die Stadt seiner Geburt, den Kopf voll guter Ratschläge seiner Verwandten, wie Korruption und Misswirtschaft am besten zu begegnen seien, Anleitungen zur besten Bestechungsweise inklusive.
Doch dann verläuft alles ganz anders als gedacht, auch weil sein kranker Vater für eine dringend notwendige Behandlung ebenfalls nach Kiew kommt. Mit viel Selbstironie erzählt Kapitelman von seinem stolpernden Ankommen in der Realität seines Herkunftslandes, mit amüsanter Sensibilität und großem Gespür für Pointen und nebenher geäußerte Wahrheiten von Begegnungen mit Freunden und Verwandten. Schließlich wird die zur Ausbürgerung unternommene Reise zu einer Reise, die ihn seinen Wurzeln wieder nahebringt.
Eine Bürokratieposse, ein Familienroman voll scharfsinniger, psychologisch genau beobachtender Situationskomik, ein sensibles Buch, das mit großer Leichtigkeit, ja fast zärtlich, mit Klischees und Vorurteilen spielt und dabei mit viel Wahrhaftigkeit die Lebensrealität aller Migranten zu verstehen hilft. (Syme Sigmund) Leseprobe

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Juri Andruchowytsch: Die Lieblinge der Justiz

Parahistorischer Roman in achteinhalb Kapiteln. Aus dem Ukrainischen von Sabine Stöhr, Suhrkamp Verlag 2020, 299 S., € 23,-

(Stand März 2021)

AndruchowytschDie Lieblinge der Justiz – das sind Mörder, Verbrecher und ihre Verbrechen. Das sind ein dichtender Räuber des 17. Jahrhunderts, ein verliebter stalinistischer Killer-Spion oder ein kommunistischer Revolutionär. Das sind aber auch ein Krämer, der einen Magier um ewige Jugend bittet, ein betrügerischer Mönch, der mit dem Teufel paktiert oder ein unglückseliger Bauer, der so abstoßende Züge trägt, dass ihm jede Untat zugetraut wird. Juri Andruchowytsch erzählt von ihnen, ihren Taten und wie ihnen der Prozess gemacht wird, berichtet von Liebe, Mord und Verrat, vermischt Fakten mit Fiktion und präsentiert ganz nebenbei ein sowohl haarsträubendes als auch (überraschenderweise) ironisch-amüsantes Panorama von 400 Jahren ukrainischer Geschichte. Die mal leicht-kuriosen, mal bitterernsten und schwer erträglichen Geschichten, in denen sowohl die Tragik der Delinquenz, die Frage nach Sinn und Unsinn von Strafe und die Verbrechen der jeweils herrschenden Justiz selbst in den Fokus rücken als auch die über die Jahrhunderte immer gleiche blutrünstige Sensationslust der Massen und ihre unausrottbaren Vorurteile bloßgestellt werden, halten auch der heutigen Gesellschaft den Spiegel vor und erinnern daran, nichts unhinterfragt zu lassen. (Syme Sigmund) Leseprobe

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Natascha Wodin: Sie kam aus Mariupol

Rowohlt 2017, 368 S., € 19,95, TB 2018, € 12,-
(Stand April 2021)

Wodin_Natascha_Dante_Connection_Buchhandlung_DanteperleNatascha Wodin ist mit dem Schweigen aufgewachsen. 1956, als sich ihre Mutter wortlos ertränkt, ist sie noch ein Kind. Ein Kind, das sich völlig ausgegrenzt fühlt und fast nichts weiß von der Lebensgeschichte der Mutter, einer ehemaligen ukrainischen Zwangsarbeiterin. Weshalb sie in einer Barackensiedlung und am Rande der deutschen Gesellschaft lebten, hatte dem Mädchen niemand erklärt. Natürlich hat sie als Erwachsene immer wieder nach Spuren der Mutter gesucht, doch vergeblich. Als sie vor wenigen Jahren deren Daten in eine russische Suchmaschine eingibt, ahnt sie nicht, welch Schneeballeffekt ihr Eintrag nach sich ziehen wird und dass sich ihre Kindheitsträume von einer aristokratisch-künstlerischen Familie in Realität verwandeln werden. Schritt für Schritt zeichnet Wodin die Geschichte ihrer Familie und die ihrer Mutter nach. Sie musste die brutalen Verwerfungen des 20. Jahrhunderts (Sowjetherrschaft, Stalinismus, Nationalsozialismus, Zwangsarbeit, Heimatlosigkeit) drastisch am eigenen Leib erleben und konnte nichts anderes als schweigen. Ihre Tochter gibt ihr und stellvertretend den vielen anderen Leidtragenden Sprache, eine Biografie und Würde zurück. Ein berührendes Buch, das nachwirkt. (Stefanie Hetze)

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Juri Andruchowytsch: Kleines Lexikon intimer Städte

Aus dem Ukrainischen von Sabine Stöh, Insel Verlag 2016, 416 S., € 24,-
(Stand April 2021)

andruchowytsch-kleines-lexikon-intimer-staedte_danteperle_dante_connection-buchhandlung-berlin-kreuzberg39 Städte, von Aarau bis Zug über Berlin, Detroit, Odessa und Venedig, Städte, in denen Andruchowytsch – teils über längere Zeit, teils nur für einen Tag, teils als Kind, teils erst vor wenigen Jahren – gewesen ist. Es ist kein Städteführer, der sich hier vor uns entfaltet, sondern ein Kaleidoskop der Erinnerungen, Gefühle, Anekdoten und Betrachtungen. Mal sind sie heiter, mal melancholisch, mal skurril und mal ergreifend (wie die Schilderung seiner persönlichen Erlebnisse in Kiew in den Tagen des Maidan) und immer schafft er es zu überraschen. So folgen wir ihm neugierig nach Prag, das er mit den Augen eines Achtjährigen betrachtet, auf Friedhöfe in Odessa oder in die Straße in Warschau, die einst David Bowie entlang gegangen ist. Ein bisweilen hochpoetisches Buch zum Stöbern, Lachen, Nachdenken und Staunen. (Syme Sigmund) Leseprobe

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Esther Kinsky, Martin Chalmers: Karadag Oktober 13

Aufzeichnungen von der kalten Krim. Matthes & Seitz 2015, 220 S., 19,90 €

(Stand März 2021)

26_kinsky_karadagEsther Kinsky und ihr Lebensgefährte Martin Chalmers begeben sich im Oktober 2013 auf die Krim, um ihr erstes gemeinsames Buchprojekt zu realisieren. Das Wetter auf der Halbinsel zwischen Europa und Asien, zwischen Sehnsuchtsort und krasser Realität, ist winterlich kalt. Die Landschaft und die Orte sind eher abweisend, halbwilde Pferde, Hunden und Katzen prägen das Bild. Viele Bücher und Filme über die Krim kennen sie, mit im Gepäck haben sie einen Bericht des Engländers Laurence Oliphant aus dem Jahre 1852. Kinsky und Chalmers notieren beide ihre Beobachtungen und Erlebnisse, die aus den gleichen Situationen herrühren, beide beschreiben sie sie auf ihre eigene Art, was einen ungeheuren Reiz ausmacht. Hinzu kommt immer wieder die Stimme Laurence Oliphants. Leider ist dieses Buch das Vermächtnis  Martin Chalmers. Esther Kinsky hat nach dessen Tod seine Textfragmente zusammengestellt und sie mit ihren eigenen kombiniert und ein besonderes Buch zweier Reisender über ein besonderes Stück Welt geschaffen! (Stefanie Hetze)

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Serhij Zhadan: Mesopotamien

Aus dem Ukrainischen von Claudia Dathe, Juri Durkot und Sabine Stöhr, Suhrkamp Verlag 2015, 262 S., € 22,95, TB 2017, € 12,-
(Stand April 2021)

39_zhadan_mesopotamienNeun Geschichten von neun Männern erzählt uns Serij Zhadan, Männern mit verlebtem Aussehen und alten Narben, mit Trainingsanzügen und Lackschuhen, die sich nach Liebe sehnen, große Träume hegen und meist nur bei Sex und Alkohol landen. Doch eigentlich erzählt Zhadan in all diesen Geschichten vor allem von seiner Heimatstadt Charkiv, die auf Hügeln zwischen zwei Flüssen liegt. Es ist eine verfallende, melancholische Welt, die uns hier begegnet, voll maroder Technik, billiger Gaststätten und Staub aufwirbelnder Winde. Die Protagonisten bewegen sich zwischen verlassenen Lagerhallen, und roten Ziegelmauern über denen ein tiefhängender Mond sein bleiches Licht verströmt. Und all dies wird mit einer so poetischen Sprache erzählt, dass man oft inne hält, ein bestimmtes Bild auf sich wirken zu lassen, bis der Schlussteil ganz zu Lyrik wird, die das Vorhergegangene ergänzt und den Leser vollends in den Bann der spröden, schönen Sprache schlägt. (Syme Sigmund) Leseprobe

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Molly Antopol: Die Unamerikanischen

Erzählungen. Aus dem Amerikanischen von Patricia Klobusiczky. Hanser 2015, 320 S., € 19,90

(Stand März 2021)

Antopol_24771_MR1.inddSie leben in New York oder in Los Angeles, in Tel Aviv, Jerusalem oder Osteuropa. Man sieht es ihnen nicht an, doch die “unamerikanischen”  Figuren dieser während des zweiten Weltkriegs, in den fünfziger Jahren oder auch in heutiger Zeit spielenden Erzählungen sind beherrscht von ihrer Vergangenheit. Sie können ihre jüdischen Wurzeln nicht abschütteln, die in Weißrussland oder der Ukraine liegen.  Es sind Menschen, die nirgends wirklich heimisch sind und deren Leben mehr vom Schicksal als selbstbestimmt wirken. Dabei herrscht eine melancholische Grundstimmung vor, die Antopol versteht nicht ins Kitschige abgleiten zu lassen. Das – im ursprünglichen Wortsinn – anrührende Debut einer jungen Autorin, welche die Kunst beherrscht, mit wenigen Worten viel zu erzählen. Hoffentlich bald mehr davon. (Syme Sigmund) Leseprobe

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Katja Petrowskaja: Vielleicht Esther

Suhrkamp 2014, 285 S., € 19,95, TB Ausgabe € 10,-

(Stand März 2021)

vielleicht_esther_danteperle_dante_connectionKatja Petrowskaja macht sich auf die Suche nach Ihren jüdischen Vorfahren, forscht in Österreich, Polen und der Ukraine nach Spuren von Rosa, Ozjel, Anna oder eben Esther und stößt dabei stets an die Grenzen dessen, was noch erfahrbar ist, wenn es die Menschen, die man hätte fragen können nicht mehr gibt, wenn nur “Erinnerungsfetzen, zweifelhafte Notizen und Dokumente in fernen Archiven” bleiben. Die 1970 in Kiew geborene und aufgewachsene Autorin fühlt sich “der Geschichte ausgeliefert”, folgt Hypothesen, fragt nach, verzweifelt an den Tücken der Internet-Suchmaschine und arroganten Telefonistinnen, stößt auf immer neue Versionen der gleichen Geschichte, verirrt sich in Archiven, gibt nicht auf, macht überraschende Entdeckungen und spinnt so nach und nach ein Gewebe aus Geschichten, in denen sich Gegenwart und Vergangenheit überlagern und vernetzen, in denen das Deutsch von Petrowskaja dank ihres gleichsam frischen Blicks auf diese Sprache neu und hoch literarisch-poetische Glücksmomente fern aller literarischen Konventionen zaubert und man am Ende des Buches auf viel mehr von dieser ganz besonderen Autorin hofft, die für ein Kapitel aus “Vielleicht Esther” verdientermaßen den Ingeborg-Bachmann-Preis 2013 gewonnen hat. (Syme Sigmund) Leseprobe

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