Rachel Roddy: Pasta von Alfabeto bis Ziti

Aus dem Englischen von Ulrike Becker, Kunstmann 2023, 352 S., € 38,-

Was will uns eine Engländerin über Pasta erzählen, wird sich mancher fragen. Erstaunlich viel, kann man da nur antworten. Abgesehen davon, dass Rachel Roddy seit fast 20 Jahren in Italien lebt, hat sie die Kunst der Pastazubereitung wirklich zur Perfektion gebracht und lässt uns erfreulicherweise daran teilhaben. Nach Nudelsorten geordnet (denn ja, jede Nudelsoße verlangt nach der zu ihr passenden Nudelform) erhalten wir nicht nur hervorragende Rezepte mit vielen Insidertipps, sondern erfahren auch so einiges Interessantes über die Kulturgeschichte der Pasta und der verschiedenen Soßenzutaten. Dazu ist das Ganze noch äußerst unterhaltsam aber keineswegs anbiedernd geschrieben – also nix wie ran an die Töpfe! (Syme Sigmund) Leseprobe

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Virginia Woolf: Roger Fry. Eine Biografie

Aus dem Englischen übersetzt und herausgegeben und mit einem Vorwort von Tobias Schwartz. AvivA 2023, 480 S. und 16 farbige Bildseiten, € 32,-

Der englische Kunstkritiker, Kurator und Maler Roger Fry ist hierzulande nahezu unbekannt, was erklären mag, dass dem AvivA Verlag eine kleine feine Sensation gelungen ist: die deutsche Erstveröffentlichung eines Werks von Virginia Woolf! 1940 in England als ihr letztes Buch erschienen, liest sich das Porträt ihres guten Freundes aus dem legendären Bloomsbury Kreis frisch und lebendig wie ein Buch von heute. Formal eher unspektakulär, so schildert Woolf Frys Leben und Werdegang chronologisch, fächert sie die Facetten dieses leidenschaftlichen Kämpfers und Visionärs für die Moderne weit auf. Mit Respekt, intimster Kenntnis und Humor porträtiert sie den Freund, verwebt auf geniale Weise seine eigenen Briefe und Schriften mit ihren literarischen Schilderungen. Gleichzeitig überschreitet sie den engen Rahmen einer Biografie und konzentriert sich auf die gewaltigen kulturellen Umbrüche, die er mit zwei Ausstellungen auslöste, und die sich nachhaltig auf die Künste in England auswirkten, nicht zuletzt auf Virginia Woolfs eigenes Schreiben. Aber lesen Sie selbst. (Stefanie Hetze)

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Joanna Bator: Bitternis

Aus dem Polnischen von Lisa Palmes. Suhrkamp 2023, 829 S., € 34,-

Was für eine außergewöhnliche Familie sturer, auch durch die schlimmsten Schicksalsschläge nicht klein zu kriegender Frauen! Kalina, die Jüngste, erzählt und recherchiert die Geschichten ihrer Vorfahrinnen Winifreda, Berta, Barbara und Violetta, die sich trotz unzähliger physischer und seelischer Verletzungen mit hochgradiger Energie und Kreativität zur Wehr setzen. Im Falle von Berta, einer Metzgerstochter, und Barbara, die aus Not alles irgendwie Essbare zur Konserve macht, geht ihr Widerstand gegen Bevormundung und Gewalterfahrung so weit, dass sie dafür ins Gefängnis gehen müssen. Joanna Bator siedelt ihr großes emanzipatorisches Frauenepos in der polnischen Provinz an. Zentraler Ort ist wieder ihr niederschlesisches Heimatdorf Wałbrzych, ehemals Waldenburg, mit seinen unvergleichlichen Bewohner:innen, den Gerüchen, Hunden und Wölfen. Auch in 100 Jahren Geschichte haben sich die traumatischen Erfahrungen von Frauen in Polen nicht wesentlich verändert, allenfalls ist es für sie leichter zu konsumieren, wie die Figur der Violetta eindrücklich demonstriert. Sehr dunkel, sehr bitter ist dieser Roman, doch gleichzeitig phänomenal kraftvoll und widerständig – so auch die Sprache. Da gibt es Sätze wie Messerstiche und immer wieder Momente der Zartheit, der Suche nach Glück. (Stefanie Hetze) Leseprobe

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Emmanuel Carrère: V13

Aus dem Französischen von Claudia Hamm, Matthes & Seitz 2023, 275 S., € 25,-

„V 13” steht für „vendredi 13 novembre 2015“. An diesem Tag überzogen islamistische Terroristen Paris mit einem Blutbad – vor dem Stade de France während des Fußball-Länderspiels Frankreich gegen Deutschland, in mehreren Cafés der Innenstadt sowie im Konzerthaus Bataclan, in dem gerade vor vollem Haus ein Rockkonzert stattfand. 130 Menschen starben, fast 700 wurden verletzt, davon 97 schwer.
Emmanuel Carrère hat den Prozess von September 2021 bis Juni 2022 verfolgt und wöchentlich Kolumnen dazu veröffentlicht. Daraus ist dieses beeindruckende Buch entstanden.
Wer waren die Opfer (ihre Zeugenberichte sind kaum auszuhalten) und wer die Täter (erschütternd normal)? Carrère nimmt uns mit in die finstersten Abgründe des Menschlichen, zeigt aber auch beeindruckend selbstlose Menschlichkeit unter den Opfern und die Bedeutung eines derartigen, den Prinzipien des Rechtsstaats skrupulös verpflichteten Prozesses.
Gerade in diesen dunklen Zeiten ein wichtiges Buch, das man sich zumuten sollte. (Syme Sigmund) Leseprobe

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Maruša Krese: Trotz alledem

Aus dem Slowenischen von Liza Linde, mit einem Nachwort von Ilma Rakusa, Fischer Verlag 2023, 256 S., € 22,-

Maruša Krese war Lyrikerin, Autorin von Kurzgeschichten und Radiofeuilletons, alleinerziehende Mutter, Über-Lebenskünstlerin, weltoffene Kosmopolitin und Tochter hochdekorierter slowenischer Partisanen. In ihrem ersten Roman, den sie kurz vor ihrem Tod mit 62 Jahren veröffentlichte, verarbeitet sie, wie so oft in Debüts, ihre eigene Familiengeschichte. Dabei wählt sie jedoch einen Kunstgriff, der den Roman zu einem literarischen Juwel macht. Für ihre drei Hauptpersonen Mutter, Vater und sich selbst wählt sie drei Stimmen. Sie, Er, Ich. Mitten im extrem harten Partisanenkrieg erzählen abwechselnd Sie und Er ihre Erlebnisse, Gedanken und Gefühle. Nach dem Krieg im kommunistischen Jugoslawien, in dem Sie und Er erst einmal Karriere machen und hohe Preise dafür zahlen, kommt Ich mit der Wahrnehmung einer anderen freiheitsliebenden Generation hinzu, wechseln die drei Innenperspektiven auf die massiven politischen Umwälzungen einander ab. Das ist Geschichte von innen erzählt. Beeindruckend. (Stefanie Hetze) Leseprobe

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Tim Staffel: Südstern

Kanon Verlag 2023, 288 S., € 25,-

Der Himmel über Berlin hat sich wieder aufgetan und einen Engel rausgelassen. Dieser Engel, Vanessa, arbeitet nachts in einer Kreuzberger Kneipe und verteilt tagsüber als Apothekenkurierin Drogen an die vom Leben Erschöpften. Von der ersten Seite an treibt das Metronom Tim Staffels durch die Geschichte. Vertraut der Rhythmus seiner kurzen dichten Sätze. Schon taucht Deniz auf, ein Streifenpolizist aus der Friesenstraße und mit ihm dessen parkinsonkranker Vater Markus. Es wird dauern, bis sich die Wege der beiden Protagonist*innen kreuzen und eine Liebesgeschichte entsteht, die so gar nichts mit ihren gegensätzlichen Lebenswelten zu tun hat. Ab und zu treiben kleine, dystopische Miniaturen durch das Bild und erinnern an etwas Bevorstehendes. Der Seismograph Staffel weiß, wo er bohren muss. Ein Tischtennisausflug zum Lietzensee, eine Frau mit Hund kreuzt den Weg. Zum Glück, denn mit wenigen Sätzen legt Staffel die Biographie dieser gebrochenen Charlottenburger Gestalt frei und mit ihr urbane Zeitgeschichte. Von diesen Synkopen gibt es unzählige. Je tiefer man hineingerät in den Sog dieser atemlosen Liebesgeschichte zweier Gestrandeter, desto mehr wartet man darauf. Und dann am Schluss dieses leise, schnelle, tiefschöne Finale. Manchmal ist es so einfach. (Kerstin Follenius) Leseprobe

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Deniz Utlu: Vaters Meer

Suhrkamp Verlag 2023, 384 S., € 25,-

Yunus ist 13, als sein Vater fällt, zwei Schlaganfälle erleidet und von nun an im Locked-in-Syndrom gefangenen ist, nur noch mit den Augen kommunizierend. Als junger Erwachsener versucht Yunus sich ein Bild des Anwesend-Abwesenden zu machen.
In Zeitsprüngen, die von der Kindheit des Vaters bis in die Gegenwart mäandern, erzählt er von einem „Berg von einem Mann“, der ihm die Welt erklärte, herzlich lachen, heftig fluchen und wunderbar kochen konnte. Aufgewachsen in der südostanatolischen Stadt Mardin, ging er zum Studium nach Istanbul und später nach Hannover, wo er schließlich Ingenieur wurde. Ein junger, lebenshungriger, leidenschaftlicher aber auch zutiefst einsamer Mann. Doch er erzählt auch von seiner Mutter, die für diesen Mann eine Universitätslaufbahn als Biologin aufgab, und von sich selbst, der Haltlosigkeit des vaterlosen Jugendlichen und seiner Suche nach dem Wesentlichen zwischen den greifbaren Dingen.
Deniz Utlu geht von Autobiografischem aus, Vaters Meer ist aber kein autobiographischer Roman. Der Autor suchte nach dem „Raum, der zwischen Erinnertem und Imaginiertem“ besteht und hat uns einen beglückend poetischen, vielschichtigen und feinsinnig-sensiblen Text geschenkt. (Syme Sigmund) Leseprobe

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Charlotte Gneuß: Gittersee

S. Fischer 2023, 240 S., € 22,-

Paul ist „rübergemacht“. So nannte man in der DDR umgangssprachlich, was offiziell als Republikflucht bezeichnet wurde. Karin, seine 16jährige Freundin, wusste nichts von seinen Plänen, was ihr aber niemand recht glaubt, schon gar nicht die mehr oder weniger offen agierenden staatlichen Sicherheitsorgane. Ihre Familie, ihre Freundschaften – alles steht plötzlich auf dem Prüfstand. Charlotte Gneuß beschreibt einerseits sehr einfühlsam, wie Karin versucht, mit dem völlig unerwarteten Verlust ihrer ersten Liebe umzugehen. Andererseits lässt sie ihre junge Protagonistin schonungslos die Perfidie des Bespitzelungssystems in der DDR erleben. Die Chronologie der Geschehnisse wird immer wieder von Träumen und Erinnerungen durchdrungen. Dazu kommt, dass der Erzählstrom enorm verdichtet ist und voller Andeutungen, die Sätze, Seiten oder auch Kapitel später erklärt werden. Oftmals bleiben sie aber auch offen und in ihrer Auflösung unserer Vorstellungskraft als Lesende vorbehalten. So manchem losen Ende der Erzählstränge wäre ich gerne weiter gefolgt, doch dann hätte ich ein komplett anderes, vermutlich eben nicht so gutes Buch gelesen. (Jana Kühn) Leseprobe

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Margaret Kennedy: Das Fest

Aus dem Englischen von Mirjam Madlung, Schöffling 2023, 432 S., € 24,-

Was für eine Katastrophe und dies an der malerischen Küste Cornwalls! Ein Felssturz hat ein kleines Hotel unter sich begraben. Nur die Gäste, die sich bei einem Fest am Strand aufhielten, haben überlebt. Doch wer zu diesen Glücklichen gehört, wird erst ganz am Ende dieses mitreißend-garstigen Gesellschaftsroman aufgedeckt. Bis dahin tauchen wir ein in den skurrilen Kosmos eines privat geführten Hotels im England der Nachkriegszeit. Bei allen Personen – von den Gästen mit ihren alles andere als niedlichen Kindern über das sich bekämpfende Personal bis zu der Familie, die das Hotel nur aus finanzieller Not betreibt, treten neben sparsam verteilten sympathischen Zügen allmählich diverse Schattenseiten und Abgründe zu Tage. Es kommt zu leidenschaftlichen Machtspielen, Romanzen und Kämpfen in diesem übervollen Haus, das sich überhaupt nicht zum Hotel eignet. Wie in einer Spirale steigert die Autorin die Perfidie der Intrigen und spielt virtuos mit den Erwartungen ihrer Leser:innenschaft, die mitfiebert, wer am Ende überleben wird. Etwa die richtig Bösen oder entpuppt sich der Gute doch als hinterhältig? Das macht großen Spaß, britische Unterhaltung at it’s best. (Stefanie Hetze)

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Louise Kennedy: Übertretung

Aus dem Englischen von Claudia Glenewinkel und Hans-Christian Oeser, Steidl 2023, 304 S., € 25,-

Cushla, 24, hat in dem kleinen, überwiegend protestantischen Ort bei Belfast im Jahr 1975 kein leichtes Leben. Neben ihrer Arbeit als Grundschullehrerin, kümmert sie sich um ihre alkoholkranke Mutter und hilft abends im Pub ihres Bruders an der Bar. Katholiken wie sie kann hier jedes falsche Wort in Schwierigkeiten bringen oder sogar das Leben kosten. Für die Kinder ihrer Klasse zählen Bomben, Tote und Schikanen zu ihrem Alltag. Als der Vater eines ihrer Schüler fast zu Tode geprügelt wird, setzt sie sich für die Familie ein. Zeitgleich beginnt sie heimlich eine Affäre mit einem sehr viel älteren Prozessanwalt, der auch noch verheiratet und protestantisch ist. Als die Ereignisse sich zuspitzen, verliert sie immer mehr die Kontrolle über ihr Leben und gerät nicht nur selbst in große Gefahr.
Mit viel Gespür für Spannung, Tempo und Atmosphäre lässt Louise Kennedy das Nordirland der siebziger Jahre lebendig werden und vermittelt eindringlich, was es heißt, in einem Bürgerkriegsland zu leben. (Syme Sigmund)

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